Er ist keine Spur betrunken, aber er weiß: Er muß jetzt etwas trinken, schnell, sonst kippt er um. Ein Mann verträgt viel. Alles verträgt er nicht. Bruno hat eine Menge ertragen in den letzten zwölf Stunden.
Er stolpert in die Kneipe gegenüber dem Arbeitsamt. Hier kennt man ihn schon, hier kommt er häufig her, nach seinen Besuchen bei Herrn Skorupky.
Eine kleine, verräucherte, trostlose Kneipe ist das, stets voll. Hier sitzen die noch Hoffenden, die schon Hoffnungslosen, die noch Ungebrochenen, die schon Gebrochenen. Hier lacht niemand. Hier spricht niemand laut.
Bier und Schnaps bestellt Bruno an der Theke. Der Wirt – er hat den sorgenvollen Gesichtsausdruck seiner Gäste angenommen – mustert ihn mitleidig: »Wat Schlimmet?«
Bruno kann nur nicken. Dann trinkt er. Dann will er zahlen. Dabei macht er eine entsetzliche Entdeckung. Lose in den Taschen seiner Jacke findet er noch ein wenig Kleingeld. Die hundertzwanzig Mark Unterstützung für Oktober hat er in seine Geldbörse gesteckt. Das Kleingeld reicht nicht aus, um die Zeche zu begleichen. Bruno will seine Börse hervorholen. Die Börse ist weg.
Bruno sucht verzweifelt in allen Taschen.
Nichts.
Weg ist sie, die Börse.
Der Wirt betrachtet Bruno ernst.
Dieser stottert: »Mein Portmonneh … ick weeß nich … Da is eena in mir rinjerannt … Drüm, int Arbeetsamt … Vielleicht det ick da … darf ick mal schnell rübaloofn?«
Der Wirt nickt ernst.
Bruno eilt zum Arbeitsamt. In der Halle findet er das Portemonnaie nicht. Beim Pförtner wurde es nicht abgegeben. Also hier geklaut? Oder schon früher, auf dem Sozialamt?
Himmelarschundzwirn!
Bruno rennt zurück in die Kneipe und erstattet dem Wirt mit den schweren Lidern atemlos Bericht. Dann ruft er die Fundstelle beim Sozialamt und den Pförtner dort an.
Nein, es ist kein Portemonnaie abgegeben worden.
Bruno wankt zur Theke.
»Ooch nischt.«
»Böse.«
»Wat mach ick nu? Noch mal jeben die mir nischt for Oktoba!«
»Nee, det bestimmt nich.«
»Aba wie soll ick denn …« Bruno steht praktisch mittellos da. Fünfundfünfzig Pfennig hat er noch. »Ick kann ja nich mal det Bier und den Korn hier zahln, Herr Kulicke!«
Der Wirt ist ein Mensch mit Gemüt. (Täglich soviel Jammer.) Herr Kulicke spricht: »Da machense sich man keene Sorjen. Sie warn mein Jast.«
Brunos Blick ist stier geworden. Er bewegt die Lippen, aber man hört nicht, was er sagt.
»Nu fassense sich! ’n Weltuntajang is det ooch nich!« Herr Kulicke drückt Bruno ein Fünfmarkstück in die Hand.
»Wat … wat soll denn det?«
»Darlehen. Jebense mir zurück, wennse wieda Penunse ham. Se brauchen doch jetz wenichstens Fahrjeld, wennse Ihre Freunde abklappan!«
»Meine Freunde …«
»Freunde, ja! Leute, denen Sie mal jeholfen ham. Die wern Ihn doch jetz jewiß ooch helfn, Herr Knolle.«
Leute, denen ich einmal geholfen habe …
Brunos Hand schließt sich jäh um das Fünfmarkstück.
Schon ganz den Mut verloren hatte er. Obwohl das die einzige Sünde im Leben ist. Und da lebt einer, ein reicher, ein ganz reicher Mann, dem er geholfen hat, dem er das Leben gerettet hat!
Zu dem wird Bruno nun gehen. Und ihm sein Leid klagen. Und Hilfe finden. Wo denn sonst, wenn nicht bei dem?
Bruno bedankt sich überschwenglich.
»Heute noch kriejense die fünf Emm zurück, Herr Kulicke! Ehrnwort.«
»Is Ihnen schon eena injefalln?«
»Ja!«
»Jenau wie ick prophezeit habe. Also, viel Jlück!«
»Danke, danke«, stammelt Bruno. Er verläßt die Kneipe und fährt in den Grunewald. Da geht er dann die Koenigsallee hinauf bis zu der kleinen Villa, die in dem großen Park steht, umgeben von einem hohen Gitter. Da ist das Tor mit den beiden Säulen aus Sandstein. Da ist die Klingel. Da ist die Sprechanlage. Da ist das Loch, in dem sich das Fernsehauge befindet. Da hängen die Scheinwerfer in den Bäumen.
Bruno sieht alles, was er schon einmal gesehen hat. Unendlich lang kommt ihm die Zeit vor, die seither verstrichen ist – und es sind doch nur ein paar lumpige Wochen.
Bruno klingelt. Aus der Sprechanlage ertönt eine Stimme, die er nicht kennt: »Ja, bitte?«
»Ich heiße Bruno Knolle. Ist es möglich, Herrn Fanzelau zu sprechen?« (Der Kerl, der sich da gemeldet hat, muß der englische Diener sein.)
Es kommt keine Antwort mehr.
Ein Summen ertönt. Ein Torflügel öffnet sich.
Bruno geht über den breiten Kiesweg auf die Villa zu. Im offenen Eingang steht tatsächlich ein Diener in schwarzen Hosen, schwarzweiß gestreifter Weste, weißem Hemd.
»Tach«, sagt Bruno.
»Guten Tag, mein Herr«, sagt Butler John. »Bitte, folgen Sie mir.« Er geht voran. Garderobe. Vorraum. Das kunstvoll getäfelte Zimmer, das Bruno schon kennt, das Zimmer mit den vielen Kostbarkeiten aus fernen Ländern: Den afrikanischen Dämonenmasken, den chinesischen Schnitzereien, den griechischen Vasen, dem Tisch mit den vielen, vielen Glückselefanten.
»Ein Herr Knolle möchte Herrn Fanzelau sprechen«, sagt Butler John und verschwindet.
Wem sagt er das? denkt Bruno. Ist doch niemand im Zimmer. Nicht einmal der große Hund. Oder?
Hinter einem Mauervorsprung tritt ein Mann hervor. Vielleicht hat er etwas gesucht, vielleicht sich dort versteckt. Unwichtig.
Wichtig: Bruno kennt diesen Mann. Es ist Heinz Schuckert vom Verfassungsschutz. Der kleine Rosige mit der Fast-Glatze und der ›Sardellen‹-Frisur sieht verbissen aus.
»Sie … Sie sind hier?« stottert Bruno.
»Was wollen Sie, Herr Knolle?«
»Ick … ick … Herrn Fanzelau sprechen.«
»Warum?«
»Wat soll denn det? Is det wieda ’n Vahör?«
»Was wollen Sie von ihm?« schreit Schuckert. Er ist außerordentlich nervös und deshalb so brutal.
Bruno sagt, was er von Fanzelau will.
Schuckert sieht ihn lange an.
»Wat kiekense mir denn so an, Herr Schuckat? Is det ’n Vabrechen, wat ick will? Wose ma doch mein Portmonneh …«
Schuckert winkt mit einer fetten, rosigen Patschhand ab.
»Herr Fanzelau kann Ihnen nicht helfen.«
»Kann nich …?« Bruno wird es unheimlich.
»Nein.«
»Wie wollen Sie denn det wissen? Lassense ma doch erst mit ihm reden!«
»Das geht leider nicht.«
»Jeht leida nich?«
»Nein. Es ist etwas geschehen, das ein Gespräch zwischen Ihnen und Herrn Fanzelau unmöglich macht.«
»Wat is jeschehn?«
»Ich sage es Ihnen gleich. Ich halte mich schon lange hier auf, um herauszufinden, warum es geschehen ist. Nun kommen Sie. Nun können Sie mir vielleicht helfen, herauszufinden, warum Herr Fanzelau das getan hat.«
»Wat jetan hat?«
»Selbstmord begangen«, antwortet Heinz Schuckert.