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Als Butler John am Morgen dieses 29. September 1964 wie jeden Tag pünktlich um 6 Uhr 30 aufstand, erblickte er auf dem Fußboden seines Zimmers, nahe der Tür, einen großen dicken Umschlag, der mehrfach versiegelt war. Das Kuvert trug in der präzisen, kleinen Handschrift Fanzelaus den Vermerk:

Bitte sorgen Sie unter allen Umständen dafür,

daß niemand anderer als Herr Dr. Philipp Landon

diesen Brief erhält.

Butler John kannte Dr. Landon gut.

Von bösen Ahnungen erfüllt, versteckte er den Umschlag und eilte danach in Fanzelaus Schlafzimmer.

Reglos lag der Financier auf dem Bett. Er hatte das Kissen vollgebrochen. Butler John entdeckte vier leere Röhrchen, die Veronaltabletten enthalten hatten; dazu die leere Packung eines Tranquilizer-Präparates, das, wie der Diener wußte, seinem Herrn erst vor kurzem von Dr. Landon verschrieben worden war.

Otto Fanzelau atmete nur noch so flach, daß man es kaum wahrnehmen konnte. Endlos schien John die Zeit, die zwischen den einzelnen Zügen verstrich.

Der Butler alarmierte den Kriminalbeamten, der sich gerade im Hause aufhielt. Seit Fanzelaus Rückkehr aus dem West-Sanatorium befand sich stets ein Beamter in der Villa. Der Kriminalist telefonierte nach einem Rettungswagen. Der Arzt, welcher mit diesem kam, konstatierte, daß Fanzelau noch – noch! – lebte, und ließ ihn schnellstens in das nächste Krankenhaus bringen. Der Kriminalbeamte fuhr mit.

Bei seiner Einlieferung in die Klinik atmete Fanzelau überhaupt nicht mehr. Fieberhaft wurde versucht, das Leben des alten Herrn zu retten. Als erstes nahm man einen Luftröhrenschnitt vor. Danach wurde eine Kanüle eingeführt und diese mit einem Beatmungsgerät verbunden. Fanzelau mußte atmen, atmen!

Noch bevor in der Koenigsallee andere Kriminalbeamte und Heinz Schuckert eintrafen, verständigte Butler John telefonisch Dr. Landon.

Auf die Nachricht von dem Selbstmordversuch hin ließ der Arzt alles liegen und stehen und brauste mit seinem Wagen in die Koenigsallee. Er überfuhr zweimal ein Rotlicht und verursachte fast einen Zusammenstoß.

Butler John überreichte Landon das dicke, versiegelte Kuvert und nannte die Adresse des Krankenhauses, in das Fanzelau gebracht worden war.

Der Psychiater steckte den Brief ein und raste zu der angegebenen Klinik. Die Ärzte dort behandelten ihn mit übertriebener Höflichkeit. Man gestattete Landon, seinen Ex-Patienten zu sehen …

Dr. Leopold Waldorf, ein Unfallchirurg, führt Landon in Fanzelaus Zimmer.

Erschüttert sieht der Psychiater den kleinen, bewußtlosen Mann auf dem großen Bett an. Waldorf beobachtet Landon mit einer hochgezogenen Augenbraue.

Was ist geschehen? Was ist bloß geschehen? denkt Landon. Warum hat Fanzelau das getan? Wie eh und je ist er pünktlich in meine Praxis gekommen. Er hat nie von seinem Erlebnis gesprochen, nie von Martini. Ich habe ihn nie gefragt. Das wäre sinnlos gewesen. Einen völlig intakten Eindruck hat Fanzelau noch bei unserer letzten Unterhaltung gemacht. Und nun …

Der junge, blonde Unfallchirurg fragt mit jener Freundlichkeit, die Ärzte verschiedener Fachgebiete einander gemeinhin beweisen und die im Grund stets Anlaß zu einer Beleidigungsklage wäre: »Sie kennen Herrn Fanzelau gut, verehrter Herr Kollege?«

Landon nickt.

»Sie haben ihn lange behandelt?« (Noch freundlicher.)

Wieder nickt Landon.

»Wann haben Sie ihn zuletzt gesehen?«

»Vor … heute ist Dienstag … ich war mit meiner Mutter noch am Sonnabend bei ihm zu Besuch. Vor drei Tagen also.« (Um jeden möglichen Kontakt aufrechtzuerhalten, forcierte Landon diese Wochenend-Besuche in den letzten Wochen.)

»Vor drei Tagen«, sagt Dr. Waldorf. »Und da ist Ihnen nichts Ungewöhnliches an ihm aufgefallen?«

»Nichts.«

»Aha.«

»Bitte?«

»Ich sagte, aha.« Dr. Waldorf sieht Landon ausdruckslos an. »Nun liegt also alles bei uns.«

Landon schweigt.

»Schwer«, sagt Dr. Waldorf. »Sehr schwer. Der Mann ist alt, psychisch gestört war er auch. Muß er plötzlich wieder gewesen sein, sonst hätte er das nicht getan. Selbst wenn wir ihn hinkriegen …«

»Hören Sie auf«, sagt Landon schwach. »Kriegen Sie ihn bloß hin!«

»Tja, das ist das Primäre, nicht wahr?«

»Was werden Sie tun?«

»Das Übliche. Temperatur derzeit 39,5. Wir müssen sehen, daß das Fieber heruntergeht, müssen den Patienten hibernieren. Durchspülen mit Tropfinfusionen. Herz und Kreislauf stützen, etcetera. Hoffentlich kommt die Atmung wieder in Gang. Aber, wie ich schon sagte: Selbst wenn wir ihn hinkriegen – ob sich sein Gehirn noch jemals erholen wird?«

»Das werden wir dann sehen«, antwortet Landon kurz und blickt den kleinen Mann auf dem Bett an, der einem Zwerg gleicht, einem toten Zwerg.

»Ja, das werden Sie dann sehen. Das ist dann Ihr Gebiet.« Der Chirurg hebt wieder eine Braue. »Wir retten ihm hier nur das Leben. Hoffentlich. Im Moment kann niemand auf der Welt mehr tun.«

»Das weiß ich.«

In der Brusttasche des Ärztemantels, den Dr. Waldorf trägt, befindet sich ein elektrisches Hörgerät von der Größe einer Zigarettenpackung. Alle Ärzte des Krankenhauses tragen so ein Gerät. Es gibt eine Zentrale, von der aus sie gerufen werden können. Das Krankenhaus ist groß, manchmal muß ein Arzt schnell irgendwo zur Stelle sein. Dann sucht die Zentrale ihn über Funk, der kleine Empfänger piepst dann wie ein Vogel.

Das Gerät in Dr. Waldorfs Mantel stößt kurze, helle Laute aus.

Der Chirurg hält es ans Ohr.

»Ich muß auf Station 8«, sagt er danach kurz zu Landon. »Verzeihen Sie …«

»Darf ich … darf ich noch ein wenig hierbleiben?«

»Solange Sie wollen, verehrter Kollege. Da ist ein Stuhl. Nehmen Sie Platz.«

Dr. Waldorf geht.

Landon setzt sich neben Fanzelaus Bett. Wieder betrachtet er diesen winzigen Menschen, der umgeben ist von funkelnden Geräten und Kunststoffschläuchen, die an seinen Körper angeschlossen sind.

Nur etwas größer als Landons Faust ist Fanzelaus Gesicht. Uralt wirkt es. Hundert, zweihundert Jahre alt. Ein Mumiengesicht.

Gleichmäßig arbeitet die Beatmungsmaschine. Sie verursacht das einzige Geräusch in der großen Stille.

Philipp Landon nimmt den dicken Umschlag aus der Tasche, bricht die Siegel, öffnet das Kuvert.

Zwölf Bogen Papier fallen heraus.

Auf einem Bogen stehen wenige Zeilen in Fanzelaus Schrift, die anderen sind einseitig eng mit Schreibmaschinentext bedeckt.

Dr. Landon überfliegt zuerst die kurze handschriftliche Mitteilung …