Zur gleichen Zeit hört der junge CIC-Agent Jack Campbell, den sein Vorgesetzter rufen ließ, auf dem Wege zu Mr. A. C. Snowdens Privatzimmer die brüllende Stimme des Joseph Goebbels: »Ich frage euch: Wollt ihr den totalen Krieg?«
Campbell, die Pfeife in der Hand, bleibt stehen.
Aus Snowdens Zimmer ertönt das tobende Geheul einer fanatisierten Menge: »Ja! Ja! Ja!«
Campbell steckt seine Pfeife in den Mund und den Tabak in Brand, während er Goebbels kreischen hört: »Wollt ihr ihn, wenn nötig, totaler und radikaler haben, als wir ihn uns heute überhaupt erst vorstellen können?«
Noch rasender klingt das Antwortgeheul: »Ja! Ja! Ja!«
Die Stimme des Joseph Goebbels überschlägt sich: »Und darum lautet von jetzt an die Parole: Nun, Volk; steh auf, und, Sturm, brich los!«
Der Begeisterungsschrei, der folgt, dröhnt durch die Halle der CIC-Villa.
Campbell klopft an Snowdens Tür.
»Come in!« ruft sein Chef. Die folgende Unterhaltung wird in englischer Sprache geführt.
Campbell sieht Snowden, in Hemd und Hose, vor einem tragbaren Plattenspieler sitzen, der auf dem Boden steht. Eine Langspielplatte kreist. Snowden stellt den Apparat ab und blickt Campbell an.
»Hey Jack, da sind Sie ja. Nehmen Sie Platz.«
»Danke, Sir.« Campbell setzt sich auf einen harten Stuhl an einem Tisch, dessen Platte eine kleine Spitzendecke trägt. Er ist unruhig. Er hat Snowden den ganzen Tag lang nicht gesehen. Sein Chef arbeitete ununterbrochen, in der Villa und in der Stadt. Erst vor einer halben Stunde kam er zurück.
Campbell weiß natürlich, was Snowden so beschäftigt hielt. Daß sein Chef viele andere Agenten an diesem Tag der Alarmstufe I einsetzte, aber just ihn nicht, erschien dem jungen Mann gleich als böses Zeichen. Natürlich weiß Snowden – muß Snowden wissen, wie er Bruno Knolle zu helfen versucht hat. Campbell denkt: Bis jetzt hatte Snowden zu tun, nun kommt die Auseinandersetzung.
Sie scheint nicht zu kommen.
Snowden entzündet eine mächtige ›Henry Clay‹, bläst eine Wolke blauen Zigarrenrauch aus und holt einen Aschenbecher herbei, der auf dem Nachttisch des spartanisch eingerichteten Zimmers steht, neben einem Feldbett. Es gibt noch ein Spind, sehr viele Zeitungen und Magazine, deutsche und amerikanische, einen Radioapparat, ein paar Stühle. Und den Plattenspieler. Nervös liest Campbell, was auf dem Etikett der Platte steht, die eben lief:
ATHENEA
DEUTSCHLAND IM ZWEITEN WELTKRIEG
SEITE 4
Snowden kommt zum Tisch zurück und setzt sich.
Campbell hebt den Blick.
Was ist mit dem Alten los? denkt er. Warum beginnt er nicht endlich zu toben? Warum, im Gegenteil, lächelt er plötzlich so väterlich?
Snowden weist mit dem Kinn, während er spricht: »Diese Firma Athenea hat zwei Langspielplatten produziert. Mit Auszügen aus Reden von Top-Nazis zwischen 1939 und 1945. Was Sie eben hörten, leistete sich Goebbels am 18. Februar 1943 im Berliner Sportpalast.« Tiefer Zug aus der Zigarre. »Ich spielte mir das Ding da vor, seit ich zurück bin. Lenkt mich ab. Auch eine Art der Entspannung, wie, Jack?« Er verzieht kurz den Mund. »Ja! Ja! Ja! Sie wollten ihn, den totalen Krieg! Wenn nötig, totaler und radikaler, als sie ihn sich überhaupt erst vorstellen konnten. Well, sie haben ihn ja auch bekommen. Aber«, fährt Snowden fort, nachdem er wieder an der Zigarre gezogen hat, »der Krieg war für sie nicht zu Ende, als sie ihn verloren hatten. Er wurde immer totaler, immer radikaler. Wurde der Krieg im Dunkeln.« Snowden seufzt. »Ein Volk ist das, ein Volk! Wir hatten da doch diesen kleinen Flüchtling mit der gelähmten Schildkröte …«
»Ja, Sir.«
»Sie erzählten mir die Geschichte, weil sie Ihnen solchen Eindruck machte. Mir … mir hat sie auch Eindruck gemacht. Die Mutter der Schildkröte besaß zwei Köpfe, nicht wahr?«
»Ja. Und als das Tier Junge bekam, begannen die Köpfe miteinander um diese Jungen zu kämpfen, begannen die Köpfe, einander zu hassen. So sehr zu hassen, daß sie im Kampf miteinander alle Jungen durch die Wucht ihres gemeinsamen Leibes, der in Krämpfen hin und her geschleudert wurde, erschlugen. Alle bis auf jenes eine, das der Meine Flüchtling besitzt. Jürgen Machon heißt er. Happy nennt er seine Schildkröte. Auch sie bekam einen solchen Tritt von der doppelköpfigen Mutter, daß sie völlig gelähmt ist.«
»Und dann, zuletzt, biß einer der Köpfe den anderen ab …«
»Ja, Sir. Die Mutter starb daraufhin natürlich. Denn mit einem Kopf konnte sie nicht leben.«
»Mit einem Kopf konnte sie nicht leben«, wiederholt Snowden.
Campbell starrt seinen Chef, den er stets nur zynisch, blasiert, überlegen und menschenverachtend gekannt hat, fasziniert an. Snowden ist völlig verändert. Rauchwolke um Rauchwolke bläst er aus. Ein Muskel zuckt an seinem Hals, die Hände zittern. Vor Erschöpfung? Unterdrückter Erregung?
»Warum sehen Sie mich so an?«
Campbell schüttelt verlegen den Kopf und beschäftigt sich mit seiner Pfeife.
»Ach so!« Snowden nickt. »Natürlich! Sie dachten, ich ließe Sie kommen, um Sie anzupfeifen. Wegen der Hilfe, die Sie diesem Bruno Knolle gewährten, wegen des Schwindels mit den angeblichen nächtlichen Aufträgen! Das weiß ich doch schon lange!«
»Schon lange?«
»Denken Sie, Sie werden nicht überwacht? Jeder von uns wird es. Auch ich. Sie haben einen Narren an diesem Knolle gefressen. Na schön. Ein armes Schwein mit seinen beiden Weibern. Ich hätte ihm wie Sie … oder ähnlich … zu helfen versucht.«
»Sie hätten …«
»Aber das ist ja nun alles schiefgegangen, nicht wahr.«
»Gründlich …« Campbell beißt sich auf die Lippe. »Ich … ich …«
»Ja?«
»Ich verstehe das nicht, Sir. Wenn Sie es schon so lange wußten, warum haben Sie mich nicht früher zur Rede gestellt?«
Snowden antwortet: »Dafür gibt es zwei Gründe. Der erste: Mir hing das alles hier schon lange zum Hals heraus. Meilenweit! Es war mir egal, was Sie taten. Es war mir egal, was geschah. Es ist mir, ganz allgemein, egal, was noch geschehen wird. Egal?« Snowden überlegt. »Nein«, korrigiert er sich, »es kotzt mich an, Jack!«
Campbell legt die Pfeife fort.
Snowden – das war für ihn stets nur eine Gehirnmaschine, kein Mensch. Hat er sich geirrt?
»Ich habe Sie gern. Das ist der zweite Grund, warum ich Sie nicht früher wegen dieses Knolle zur Rede stellte. Ja, ich habe Sie gern. Sie merkten es nie. Sie konnten es nie merken. Ich betrug mich stets reichlich ruppig gegen Sie. Das ist … ist meine Art. Aber nun, heute, mußte ich etwas für Sie tun … habe ich etwas für Sie getan …«
»Was?«
»Sie rausgehalten aus diesem Riesenschlamassel zunächst«, antwortet Snowden, »und dann habe ich Bayreuth mitgeteilt, daß ich Sie in Anbetracht der jüngsten Ereignisse als schweres Sicherheits-Risiko ansehen muß.«
»Schweres Sicherheits-Risiko?« Campbell fährt erschrocken zusammen.
»Mit den berühmten ungefährlichen Erklärungen dafür, natürlich. Sie sind im Fall Knolle emotionell und dazu generell psychisch erschöpft. Also gerade momentan absolut untragbar. Kann überhaupt nichts passieren, Jack! Ich brauchte gar nicht weiter zu sprechen. Man ruft Sie sofort ab, entläßt Sie sofort, in Ehren, versteht sich, aus dem CIC …«
Campbell findet keine Worte.
»… und ich nehme an«, schließt sein Chef, »daß ich Ihnen damit den größten Dienst erwiesen habe, den Ihnen irgend jemand erweisen konnte.«
»Sir … ich …«
»Sie wollen doch raus aus dem Verein … oder?«
»Ja, das will ich.«
»Nun, dann los! Ami, go home! Sie dürfen nicht beim CIC bleiben. Schreiben Sie Bücher, tun Sie irgend etwas, zu Hause, in den Staaten … nur nichts, was mit Geheimdiensten zusammenhängt …«
Snowden, der Mann, dem die Frauen sein Leben lang nachlaufen, sieht heute verfallen, kraftlos, beinahe greisenhaft aus.
»Ich verschwinde hier übrigens auch, Jack.«
»Bitte?«
Snowden lächelt mit schiefem Mund. »Ich habe Bayreuth gebeten, einen Mann herzuschicken, der mich ablöst. Dabei kam mir ein glücklicher Zufall zustatten. Bei früherer Gelegenheit hatte ich einen scharfen Zusammenstoß mit jenem Geheimdienst des Herrn Martini. Das CIC muß dieser dreckigen SD-Männer-Affäre nun doch nachgehen, nicht wahr? Dabei wird es unvermeidlich sein, sich für Herrn Martinis Dienst und seine Arbeitsmethoden zu interessieren. Ich darf so etwas nicht mehr tun. Schon anläßlich eines ersten Versuchs, an die Brüder heranzukommen, gab es in Bonn Ärger.« Snowden reibt sich die Hände. »Glück muß der Mensch haben! Und intelligente, um das deutsch-amerikanische Verhältnis besorgte Vorgesetzte!«
Campbell begreift nichts mehr.
»Aber … aber jetzt ist doch alles anders!«
»Was ist anders?«
»Jetzt gibt es doch Fanzelaus Anzeige, das Tonband mit Mittenzweys Erzählungen, Mittenzwey selber … Jetzt geht dieser Martini doch hoch, ohne daß Sie auch nur einen Finger rühren müssen!«
»Ha!« Snowden neigt sich vor. »Wissen Sie, was bei unserer ganzen Schufterei heute herauskam? Nichts! Es ist die reinste Groteske. Das Tonband, das Fanzelau in seiner Bank verwahrte, bleibt stumm, wenn man es abspielt.«
»Wie gibt es das?«
»Der alte Herr war entschlossen, sich das Leben zu nehmen. Tippte das Band in höchster Erregung ab. Ließ es – Schuckerts Techniker haben das inzwischen festgestellt – bei eingeschaltetem Mikro zurücklaufen … und löschte damit die ganze Aufnahme.«
»Holy Moses!«
Snowden lacht heiser. »Das ist die eine Möglichkeit. Es gibt noch eine andere. Fanzelau gab dem Ersten Direktor seiner Bank, einem Herrn Hubert Warhake, das Tonband zur Aufbewahrung. Was wissen wir über Herrn Hubert Warhake? Nichts. Vielleicht hat er einen kleinen Wink bekommen, das Band zu löschen …«
»Warhake?«
»Was wissen wir, wie weit Martinis Verbindungen reichen?«
»Sie können sich wirklich vorstellen …«, beginnt Campbell erschüttert.
»Ich kann mir alles vorstellen, Jack«, antwortet Snowden und verzieht den Mund.
»Aber … aber da ist doch noch die Niederschrift! Da ist doch noch Mittenzwey …«
»Mittenzwey haben wir verhört. War recht schwierig, ihn zu verhören, denn er war ziemlich besoffen, als wir ihn endlich fanden. Er erklärt, Fanzelau besucht zu haben, um ihm von einem neuen Tunnelprojekt zu berichten. Von nichts sonst. Kein Wort von Horster, kein Wort von der SD-Männer-Affäre. Davon hat Herr Mittenzwey keine Ahnung. Sagt er. Wird er immer wieder sagen. Sagt er.«
»Konnte man ihn nicht mit dem Tonband bluffen? Er wußte ja nichts von ihm!«
»Ja, daran dachte ich sofort. Ich wollte ihm erklären, wir hätten seine Stimme auf Band – er könne uns nicht belügen!«
»Und?«
»Nichts. Sie wissen, wie schlau Betrunkene manchmal sind … und wie idiotisch Leute aus unserer Branche. Einer von Schuckerts Leuten verquatschte sich, bevor ich bluffen konnte. Mittenzwey begriff blitzschnell, daß es zwar ein Band gab … aber ein gelöschtes! Danach hatte ich keine Chance mehr.«
»Aber die Abschrift seines Gespräches …«
»Wir lasen sie ihm vor. ›Schrecklich‹, sagte er, ›der arme Herr Fanzelau! Muß schon völlig verwirrt gewesen sein, als ich ihn besuchte. Na ja, gleich darauf versuchte er ja auch, sich umzubringen. Traurig, traurig!‹ Wenn Mittenzwey bei dieser Haltung bleibt, dann ist die Anzeige allein, ohne Tonband, nicht das geringste wert. Nicht das allergeringste.«
»Und Fanzelau selber? Sobald der wieder reden kann …«
»Das wird der lange Zeit nicht können, sagte mir Doktor Landon. Möglicherweise nie mehr. Wollen Sie Herrn Martini oder Herrn Wieland mit dem Gestammel eines Geistesgestörten erschrecken? Nein, nein, da ist nichts zu machen, und Wieland weiß das längst. So schlau ist er, daß er sogar unser West-Agentennetz in der Zone vollkommen in Ruhe läßt! Käme es drüben jetzt zu Verhaftungen, dann hätten wir vor Bonn wenigstens einen, wenn auch nur schwachen, indirekten Beweis für die Berechtigung der Anzeige. Aber Wieland bleibt völlig ruhig. Und so besitze ich nichts, aber auch gar nichts, was ich gegen Martini vorbringen könnte. Und Wieland hat unsere Leute drüben nach wie vor in der Hand. Er kann sie vernichten, wann er will. Er kann uns mit dieser Vernichtung erpressen, wann er will. Wobei ich, nebenbei gesagt, überzeugt bin, daß alles, was er uns in den letzten Jahren berichtet hat, nicht stimmt.«
»Das ist ja …«
»Zum Kotzen ist es, Jack, wie ich schon bemerkte!« Snowden verschluckt Rauch und hustet. »Ich habe nicht die kleinste Chance in Bonn. Martinis Geheimdienst arbeitet doch wundervoll. Immer neue Kommunisten macht er unschädlich. Und da soll jetzt ich hingehen und eine absolut phantastisch klingende Geschichte erzählen, in der ich nichts, nichts, nichts beweisen kann? Es war einmal eine Schildkröte, die hatte zwei Köpfe …« Snowden richtet sich auf.
»Aus. Schluß. Und was bin ich froh darüber. Jack! Mein Ersatzmann kommt bereits morgen früh. Hugh Bentley heißt er. Hervorragender Mann. Kenne ihn aus Japan. Vielleicht fällt ihm noch etwas ein. Ich habe versprochen, so lange in Berlin zu bleiben, bis Bentley mit der gesamten Materie vertraut ist, also vielleicht zwei Wochen. Aber schon in den zwei Wochen führt Bentley die Untersuchung. Ich treffe keine Entscheidungen mehr in dieser Sache. Dem CIC stehe ich weiter zur Verfügung. Man wird mich anderswo einsetzen. In Europa. Im Fernen Osten. In Afrika. In Lateinamerika. Nur in Deutschland geht es eben nicht mehr. Leider, leider!«
»Aber Sie arbeiten weiter, Sir?«
Snowden erhebt sich und geht im Zimmer auf und ab.
»Sie sind jung, Jack. Sie haben das Leben vor sich. Ich werde alt. Seit zwanzig Jahren bin ich Agent. Es fällt mir nichts ein, was ich nun noch werden könnte. Einmal war ich Anwalt. Damit ist es natürlich vorbei. Aber noch eine kurze Zeit Service, dann werde ich … auch in Ehren, versteht sich … entlassen, erhalte eine Pension, kann mir irgendwo daheim ein Häuschen auf dem Lande kaufen. Golf spielen, jagen … und versuchen, zu vergessen.«
»Was vergessen?«
»Alles, Jack. Ich dachte immer, ich dürfte es nie vergessen, weil alles so erregend, so interessant war. Nun habe ich meine Ansicht geändert. Nun will ich vergessen. Bald!« Snowden kommt zum Tisch zurück. »So. Und nun sagen Sie mir ein kräftiges Dankeschön dafür, daß ich sie erlöst habe von Ihrer Drecksarbeit. Das habe ich doch, eh?«
Jack Campbell denkt an seinen Roman, an die Staaten, an ein ziviles Leben. Jack Campbell antwortet: »Ja, Sir, das haben Sie. Ich danke Ihnen.«
»Ihre Maschine startet in zwei Stunden. Sie haben sie zu benützen. Das ist ein Befehl, Mr. Campbell!« Snowden zwinkert.
»Yes, Sir«, antwortet Campbell und zwinkert gleichfalls.
»Sie fliegen nach Frankfurt und melden sich beim Hauptquartier. Die üblichen Formalitäten. Verhöre. Entlassungspapiere. Wenn Sie Glück haben, sind Sie in drei Tagen daheim.«
In drei Tagen!
Eine Welle wunderbarer Wärme durchflutet Campbell.
»Danke, Sir. Ich danke Ihnen«, wiederholt er.
»Okay, okay. Sie schreiben mir, ja? Zuerst nach Berlin. Dann erfahren Sie, wohin man mich versetzt hat. Ich möchte nicht, daß der Kontakt zwischen uns abreißt, Jack. In ein paar Jahren sind Sie vielleicht ein berühmter Autor. Und ich, wenn ich es erlebe, ein müder Pensionist.«
»Ich werde Ihnen oft schreiben«, verspricht Campbell.
Snowden lacht.
»Na, hatte ich nicht recht mit meinem sturen Beharren darauf, daß hinter dieser Entführungsgeschichte mehr, viel mehr steckte? Es steckte viel mehr dahinter, wenn auch etwas ganz anderes, als ich dachte.« Jäh wird Campbell ernst.
»Und Herr Knolle?« In seiner Euphorie hatte er diesen ganz vergessen. »Was wird aus dem?«
Ja, was wird aus dem? denkt Snowden.
Er schweigt zwei Sekunden. Nur zwei Sekunden. Man kann so viel überlegen in zwei Sekunden.
Mr. A. C. Snowden überlegt dies: Keine Ahnung, was aus Bruno Knolle werden wird. Ein glücklicher Mensch? Dazu ist hier alles viel zu verworren, dazu fehlen alle Voraussetzungen. Aber, verflucht, was geht mich Bruno Knolle an? Soll ich um ihn weinen? Ein Deutscher ist er. Kein schlechter vielleicht. Vielleicht. Auf jeden Fall kein Amerikaner wie Jack Campbell. Vor zwanzig Jahren haben wir noch Krieg geführt mit Deutschland. Hunderttausende von jungen Amerikanern wie Jack Campbell sind verreckt in diesem Krieg gegen die Deutschen.
Die Deutschen!
Sollen sie doch im eigenen Saft schmoren – alle miteinander. Ich will, daß Campbell nichts geschieht, daß er hier verschwindet, gleich. Ich habe alles vorbereitet. Campbells Zukunft liegt mir am Herzen – die Knolles ist mir gleich. Wenn ich das laut sage, fliegt Campbell nicht los, wird er Einwände vorbringen, sich unglücklich machen. Ich darf es nicht sagen. Im Gegenteil! Etwas anderes muß ich sagen, etwas ganz anderes …
Solches denkt Mr. A. C. Snowden in jenen zwei Sekunden. Er will Gutes tun, uneigennützig Gutes. Er hat sich sehr verändert. Heute. Er ist noch unsicher auf diesem neuen Gebiet des Uneigennützig-Gutes-Tuns. Wäre er sicherer, würde er vielleicht wissen, was nötig ist, um nicht nur Campbell, sondern gleichzeitig auch Bruno zu helfen. Er weiß es nicht. Oh, Gutes tun ist eine Kunst, die gelernt sein will! In einem Jahr – vielleicht – wird Snowden sie perfekt beherrschen. Im Moment ist er noch ein Abc-Schüler.
Für eine gute Sache lügt es sich leichter als für eine schlechte, wenn man kein schlechter Mensch ist. Mr. Snowden lügt leicht, überzeugend, heiter: »Ihr Knolle? Der ist fein raus … genau wie Sie!«
»Fein raus?«
»Na, hören Sie! Jetzt, wo wenigstens endlich sonnenklar ist, daß er wirklich unschuldig in diese Schweinerei hineinschlidderte? Jetzt, wo es um ganz andere Probleme geht? Ein paar Tage wird man ihn hier wohl noch benötigen … aber dann können wir ihn vergessen.« (Nun ist Snowden in Fahrt. Bruno Knolle – ach, was!) »Ich werde Bentley erzählen, daß wir dem Gauner eine Kneipe im Westen versprochen haben … mein Gott, was ist das schon? Nein, nein, Jack, wenn es in dieser Geschichte einen Deutschen gibt, der ehrlich Grund hat, zufrieden zu sein, dann ist es Ihr Knolle! Der ist durch das Chaos hindurchgerollt wie eine Kugel. Nur noch ein wenig Geduld … und er hat es geschafft!«
(Ich muß so reden, denkt Snowden, ich muß!)
»Ich … ich möchte ihn noch einmal sehen, Sir.«
»Wissen Sie, wo er ist?«
»Nein. Er wollte um zwanzig Uhr anrufen.«
»Um zwanzig Uhr sind Sie in Frankfurt. Müssen Sie in Frankfurt sein! Wollen Sie Ihren Knolle in der ganzen Stadt suchen? Dazu haben Sie keine Zeit mehr. Sie müssen packen! Packen und verschwinden, sonst fällt den Herren in Bayreuth noch etwas anderes ein, und alles, was ich vorbereite habe, war umsonst.«
»Aber …«
»Was aber?«
»Nichts. Sie sagen, er wird davonkommen?«
»Todsicher, Jack!«
»Darf … darf ich ihm wenigstens noch schreiben?«
»Ein paar Zeilen. Unverfängliche. Sie müssen mich den Brief lesen lassen. Ich schicke dann sofort jemanden damit in den ›Schwarzen Schimmel‹. Und nun los, los! Bitte, Jack!«
»Okay, Sir«, sagt Campbell. Er steht auf und geht zur Tür.
Snowden setzt den Plattenspieler wieder in Gang.
Die Stimme Adolf Hitlers ertönt …