An diesem Abend geht Wanda, die Blonde, den gewohnten Strich entlang. Viele andere Huren spazieren gleich ihr herum und suchen Freier. Nelly hat Wanda noch nicht entdecken können. Sie haben sich zuletzt am Nachmittag gesehen, beim Friseur. Anschließend tranken sie Kaffee, und dabei erfuhr Wanda, was sich ereignet hatte. Nelly war immer noch mächtig erregt. Wanda enthielt sich jeden Kommentars.
Kann sein, daß Nelly heute überhaupt nicht arbeitet, denkt sie nun. Immerhin, in der Verfassung, in der die sich befand …
»Ssst! Wanda!«
Sie erschrickt.
Ein Mann in einem dunklen Hauseingang hat sie gerufen. Jetzt erkennt sie ihn. Es ist Bruno. Da steht er neben einem Koffer.
»Ach, du. Wat is ’n?«
»Haste ’n paar Minuten Zeit for mir?«
»Jerade jetz?«
»Et is dringend, Wanda. Ick muß dir wat fragen.« Bruno sieht so unglücklich aus, daß Wandas weiches Herz sogleich schmilzt. Immerhin: Nelly hat ihr auch erzählt, wie sie mit Bruno verfahren ist. Ungerecht verfahren ist, findet Wanda.
»Wat jibts?« fragt sie freundlich.
»Komm hier wech. Bloß um de Ecke. Ick will nich, det uns eena hier sieht …«
»Wer …« Ach so, seine Nelly natürlich.
Gutmütig folgt Wanda Bruno, der den Koffer schleppt. In einer düsteren Seitenstraße bleiben beide stehen.
»Neemlich«, beginnt Bruno, »det is so …«
»Mit Nelly und dir?«
»Ja.«
»Hatse ma schon allet azählt. Und?«
Bruno fährt sich mit dem Handrücken über die Stirn.
»Wanda, denn muß ick dir zuerst fragen: Hältste nur zu Nellyn oder hältste zu mir?«
Diese direkte Frage bringt die mollige Wanda, zu deren vielen Vorzügen nicht besondere Klugheit gehört, in Verlegenheit.
»Na also, det mit det zweete Meechen, det war nich scheen von dir, Bruno. Hätte ick nie jedacht von dir … Andraseits …«
Seit Wanda die Nelly kennt, empfindet sie eine schwer zu definierende Aversion gegen diese. Nicht wegen der Keilerei vor Jahren, viel eher wegen Nellys ständigen Feintuns, ihrer guten Erziehung, ihrer schönen Wohnung, der wunderbaren Abenteuer im Westen, lauter Dingen, welche die Nelly so überheblich und selbstgerecht gemacht haben!
»Andraseits«, beginnt Wanda wiederum, »war det ooch sehr hart von Nelly. So hättse dir nich fallnlassen dürfen. Nee, so nich! ’ne Frau muß zu ihren Kerl halten, und janz besondas musse det, wennt ihm dreckich jeht. Kiek mal, ick un Knarje …«
Bruno unterbricht schnell und erleichtert: »Also du hältst zu mir. Nu paß uff. Nelly hat ma rausjeschmissen. Und die kleene Wienerin hatse ooch allet azählt. Also kann ick nich mehr bei Nelliken schlafen – und int Laga ooch nich.«
»Warum nich int Lager?«
»Weil ick Mitzi vasprochen habe, det ick ihr nie wieda sehe. Int Laga würdenwa uns aba wiedasehn! Müsstenwa. Zwangsläufich. Det wäre seelische Grausamkeit, wäre det, nich? Die Kleene kann doch nu wirklich nischt dafür.«
Wanda verspürt heftige Rührung über Brunos Zartgefühl.
»Ick habe Mitzin anjeschwindelt, jenau wie Nellyn. Ick … ick könnte jarnich mehr da raus nach Marienfelde … die villen Erinnerungen an die villen Lüjen … Nee, Wanda, raus bloß, wenn ick unbedingt muß. Zu ’ne Amtsstelle oda so. Aba da wohnen? Würde ick nie aushalten. Offizjell bin ick ja imma noch bei Nellyn jemeldet. Die da draußen wissen von nischt. Wäre ihn’ ooch schnurz. Aba mir nich, wie jesacht. Wejen det moralische Schuldjefühl«, spricht Bruno, und er spricht ehrlich.
»Ja, ick kapiere schon. Nu stehste also da und hast übahaupt keene Bleibe.«
»So isset. Heute hat ma eena ooch noch mein Portmoneh jeklaut, mit die hundatzwanzich Eia von de Wohle for Oktoba.«
»Also pleite …« Wanda ist den Tränen nahe.
»Det war ’n Tach der Katastrophen, kann ick dir flüstan … for ville Leute. Erzähl ick späta allet. Frage: Kann ick bei dir wohnen?«
Wanda macht ein erschrockenes Gesicht.
»Ick will nich schnorm! Ick habe Jeld, ick bezahle!«
»Du hast Jeld? Eben haste doch jesacht …«
»Ja, ja. Aba den Koffa da, den hatte ick bei’n Wirt von ’n ›Schimmel‹ unterjestellt heute morjen. Und als ick ihn nu abhole, da jibt mir der Wirt ooch ’n Brief.«
»’n Brief? Von wem denn?«
Bruno zieht ein Kuvert aus der Tasche.
»Kannste dir noch an den netten Ami erinnan, der mir aus Nellikens Wohnung jeholt hat, damals, an den Sonntachvormittach? Kempell heeßta.«
»Ja, ick erinnere mir.«
Bruno holt traurig und geräuschvoll Luft. »For den war det heute ooch ’n schwarza Dienstag. Sind ihm wohl druffjekomm, det er mir so oft jeholfen hat, und da hamse ’n vasetzt oda so. Er is schon nich mehr da. Jerade noch schreibn hatta mir könn.«
Bruno tritt neben ein erleuchtetes Schaufenster und entfaltet einen Briefbogen.
»Mein lieber Herr Knolle«, liest er feierlich, »ich muß in der nächsten Stunde Berlin verlassen. Es tut mir so leid, daß wir uns nun nicht mehr sehen können. Die Umstände verbieten es.« Bruno sieht Wanda an. »Du vastehst, wat det bedeutet, nich? Den ham nu seine Leute in de Mache.« Er liest weiter: »Ich lege diesem Brief fünfzig Dollar bei, denn ich weiß, daß Sie Geld benötigen. Ihnen mehr zu geben, ist mir leider nicht möglich. Vieles wird sich in allernächster Zeit ereignen – zu Ihren Gunsten, das kann ich Ihnen versprechen. Alles, alles Gute, lieber Herr Knolle, wünscht Ihnen Ihr ergebener Dscheck Kempell.« Bruno hebt Geldscheine hoch. »Det sind die Dollars. Und ajebena!«
»Mensch, Bruno, zweehundert Mark!«
»Na ja. Glück im Unglück. Ick bin nich mittellos, Wanda! Wenn ick bei dir wohne, denn bezahle ick, det is klar. Ick möchte nur in keen Hotel, denn die sind so teua, und einteiln muß ick mir det bißken Penunse nu doch, und …«
»Bruno«, sagt Wanda und streicht über seinen Arm, »mißvasteh mir bitte nich falsch. Du bist Knarjen sein besta Freund …«
»Ja, ebent!«
»… und jrade deshalb kann ick dir nich bei mir wohn lassn, wose nu Knarjen jeschnappt ham.«
Bruno fällt mit dem Rücken gegen die Schaufensterscheibe.
»Wat hamse?« japst er.
»Jeschnappt hamse ’n.« Wanda nickt tragisch. »Und zurückjebracht nach Berlin. In U-Haft sitzt er.«
»Aber det … aba wann … aba wo …« Bruno kann es nicht fassen. Knarje verhaftet. Auch das noch. Oooohhh, ist das ein Tag!
»Vorije Woche schon. In Nürnberg hamse ’n hochjenomm. Jestan issa hier injeliefat wordn. Det hat dir Nelly nich azählt?«
»Nee. Da kannste mal sehn, wat det for eene is … nich doch, ick tu ihr Unrecht«, sagt Bruno. »Wann hättse ma det azähln sonn, wenn Knarje erst jestan jekomm is? Jestan hattn wa doch unsan jroßen Krach.«
»Na ja, ick hab et ooch erst jestan erfahrn. In ’n ›Schimmel‹ wußten et ’n paar schon länga. Aba die hatten ma nischt jesacht, die hatten ma wohl schonen wolln.«
»Ach Wanda, is det traurich! Der arme Knarje! Weswejen denn?«
»Schweinische Fülme.«
»Du liebe Jüte!«
»Nee, nich die mit mir. Anjeblich welche mit Mindajährije. Soll schon ’ne Weile her sind. Der Osten hat Materjal jesammelt, det is nu rübajekomm, sagense in ’n ›Schimmel‹.«
Ich möchte wissen, wer das sagt, denkt Bruno, und woher er das weiß. Ach, und wenn ich es wüßte? Knarje sitzt. Das heißt also, Schuckert hat seinerzeit nicht geblufft: Die Sittenpolizei ist wirklich längst von ihm gezwungen worden, das Material dem Staatsanwalt zu übergeben. Auweiauwei. Vorbestraft ist Knarje. Für diese Filme bekommt er gut und gerne seine ein, zwei Jahre. Unbedingt. Wegen der Vorstrafen. Hoffentlich fragt mich Wanda nun nicht …
»Wenn det wahr is, mit die Fülme, wat kanna denn da kriejen, der Knarje?« fragt Wanda.
»Also zuerst mal weeß ick übahaupt nischt von irjendwelche Fülme«, beginnt Bruno entschlossen.
»Aba die in’n ›Schimmel‹ …«
»Die Klugscheißa! Woher wissen denn die wat? Det hängt vamutlich damit zusamm, det Knarje abjehaun is. Hätta nie machn dürfn.«
»Wenn er aba mit de Nervn so runta war …«
»Na ja, aba nu sitzta in Dreck.«
»Wie lange kann er kriejen, Bruno?«
»Mein Jott, ick weeß et nich! Nischt weeß ick! Det kann sich allet uffklärn als’n Mißvaständnis. Oda Knarje kommt frei, wenna Schuckatn jetzt schöntut …«
»Wer is Schuckat?«
»Eena von Vafassungsschutz … Ick kann da wirklich nischt zu sagen, Wanda, nich im Moment … Morjen erkundije ick mir sofort …«
Wanda sagt: »Ick wollte dir schon vorhin allet azähln, als ick sachte, ’ne Frau muß zu ihren Kerl halten, besondas wennt ihm dreckich jeht. Aba da haste ma untabrochn.«
»’tschuldije.«
»Macht ja nischt. Bloß, jetzt vastehste doch, dette nich bei mir wohn kannst, nich? Er in Kahn, du sein besta Freund … ’türlich würde er nie gloobn, det wir beede … Aba die Leute! Wat würdn die Leute int Haus sagn, wenn ’n fremda Mann bei mir wohnt?«
Darauf kann man nichts erwidern.
Rein gar nichts.
»Siehste«, sagt Wanda. Jähe Wut packt sie plötzlich. »Diese vafluchte Nelly! Jroßzüjich muß ’ne Frau sind, jawoll, jroßzüjich! Und wat machtse mit dir, die Zicke? Ick könnte …« Jäh bricht Wanda ab. »Wat haste?«
»’n Einfall. ’n prima Einfall. Komm mit, Bruno!«