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Am 12. Oktober 1964, gegen 23 Uhr, klingelt Bruno an der Eingangstür der ›Pension Florida‹. Er ist den ganzen Tag herumgelaufen. Alles hat er wieder einmal versucht, alles! Nicht einen einzigen Schritt ist er weitergekommen, nicht einen einzigen Schritt.

Seit zwei Wochen, seit Fanzelaus Selbstmordversuch, hat sich Brunos Situation verändert. Man müßte lachen darüber, wie sehr sie sich verändert hat – wenn es nicht zum Heulen wäre!

Auf einmal ist er nicht mehr der Mann, der Schuckert am meisten interessiert. Auf einmal interessiert er niemanden mehr besonders. Auf einmal ist er eine winzige Randfigur geworden.

Verständlich!

Fanzelaus Anzeige hat den Beweis erbracht, daß Bruno wirklich nur ein winzig kleines Rädchen war in dieser großen, großen Aktion des Ostens. Nur diese Aktion ist nun interessant. Alles versucht man, um Munition für einen Gegenschlag zu sammeln. Die kann Bruno nicht liefern. Mittenzwey, der könnte sie liefern. Er tut es nur nicht. Nicht ums Verrecken. Und wenn man ihn von früh bis spät verhört. Und wenn man ihn totfragt! Nichts zu machen.

»Aber es muß etwas zu machen sein!« erklärt Hugh Bentley vom CIC leidenschaftlich immer wieder Schuckert und Prangel. Der Nachfolger Snowdens, ein dicker, energiegeladener, rotgesichtiger Mann von einundvierzig Jahren, hat sich noch schneller in die Materie eingearbeitet, als Snowden angenommen hatte. Schon nach einer Woche war er völlig im Bilde. Seit einer Woche ist Snowden nicht mehr in Berlin.

»Diese Schweinerei lasse ich nicht auf sich beruhen!« erklärt Bentley immer wieder Schuckert und Prangel. »Wir werden Beweise liefern, die Bonn überzeugen! Wir werden Martini und seine Gang erledigen!«

Er ist noch so unverbraucht, so empört über das Vorgefallene, der Mr. Hugh Bentley. Mit größtem Geschick operiert er. Vielleicht bringt er Mittenzwey wirklich dazu, sein verbocktes Schweigen zu brechen. Nur nicht lockerlassen!

Unter solchen Umständen benötigt man Bruno nur noch, damit er diese kleine Frage beantwortet, jene kleine Unklarheit aus der Welt schafft. Ein Komparse ist Bruno geworden, ein Statist. Noch nie hatte er so viel freie Zeit. (Außer im Knast.) Noch nie sah er seine Lage so düster. Er steht jetzt auf der Warteliste. Wie lange?

Ja, wie lange?

Immer wieder muß er in diesen Tagen an seinen Kameraden Franz Lutter denken, dem es gelang, in die Schweiz zu entweichen, und der ihn so flehentlich bat, nachzukommen. Deutlicher und deutlicher erinnert sich Bruno an Lutters Angebot …

Tag um Tag vergeht.

Nichts geschieht. Litt Bruno eben noch darunter, daß man ihn ununterbrochen verhörte, bedrohte, lockte, so leidet er nun darunter, daß man das nicht mehr tut; daß man ihn offenbar sanft zu vergessen im Begriff ist.

Campbells zweihundert Mark reichen bis Ende Oktober. Dann kommen vom Sozialamt wieder hundertzwanzig Mark für November. Bruno lebt äußerst bescheiden, läßt seine Wäsche nur reinigen, wenn es wirklich nicht mehr anders geht, verzehrt billigste Gerichte in billigsten Lokalen, legt alle Wege, die man zu Fuß zurücklegen kann, zu ruß zurück und ist der guten Wanda dankbarer denn je dafür, daß sie ihn bei Ilse Stanior untergebracht hat – kostenlos.

Doch abgesehen von der finanziellen Misere: Bruno hat auch nur Nerven. Das hält ja kein Schwein aus, diesen Dornröschen-Zustand! Heute hat er noch einmal mit allen Mitteln versucht, sich bemerkbar zu machen: bei Heinz Schuckert, Hugh Bentley, Berthold Prangel.

Umsonst.

Geduld soll er haben, hat man ihm empfohlen. Geduld muß er haben.

Geduld …

Aber die hat er nicht mehr!

Und so faßt er am Abend dieses 12. Oktober den Entschluß, seinem Kriegskameraden Lutter zu schreiben. Ja, das hat er getan, und deshalb kommt er nun, früher als sonst, in die ›Pension Florida‹, denn er möchte diesen Brief schnell schreiben, schnell. So geht das nicht mehr weiter!

Die alte Stanior öffnet auf sein Läuten hin und verzieht ihr Gesicht, erbost, als sie ihn erblickt.

»Sie? Schon? Is doch noch nicht zwölwe.«

»Ick weeß. Aba …«

»Wanda is noch da.«

»Darf ick … darf ick denn vielleicht hier uff de Diele bleim? Et regnet nämlich.«

Die Stanior knurrt: »Jerne seh ick det nich, detse hier rumsitzen!«

»Denn wart ick unten …«

»Nee, nu bleimse schon. Bloß ’ne Anjewohnheit darf et nich werdn, vastehnse? Se vagrauln ma ja die Jäste!«

»Et passiert nich mehr, Frau Stanior …«, beginnt Bruno, da öffnet sich die Zimmertür, und Wanda erscheint mit einem feinen älteren Herrn, der traurig aussieht. Hat sich wohl zuviel zugemutet …

Müde sagt Wanda zu ihm: »Machste det Licht im Zimma noch aus, Häschen?«

»Ja«, sagt der alte Lustmolch.

Bruno und die Stanior wenden sich diskret ab, als er nun mit Wanda an ihnen vorübergeht. Wanda erkennt Bruno natürlich trotzdem sofort. Sie sagt betont: »Also, Wiedersehn, Ilse. Ick komme heute nich mehr.«

»Is jut, Wanda.«

Der ältere Herr sieht sich hilflos um.

»Geht es hier hinaus?«

Wanda tritt zu ihm.

»Ja, hier.« Sie öffnet die Tür der Pension. »Warte, Häschen, ick mach bloß die Flurbeleuchtung an …«

Die Tür fällt zu.

»Gute Nacht«, sagt Bruno.

»Schlafense schön«, brummt die Stanior und verschwindet.

Bruno geht in Wandas Zimmer. Er riecht nicht, wie es hier riecht, er sieht nicht, wie es hier aussieht. Er setzt sich an den Tisch, holt Tinte, Feder und Papier hervor und beginnt zu schreiben.

Lutters Adresse hat er seinerzeit – entgegen dessen Bitte – nicht notiert. Mittlerweile ist die Anschrift in Gesprächen mit Schuckert so oft erwähnt worden, daß Bruno sie auswendig kennt.

Casa Beatrice. Porto Ronco bei Ascona. Tessin. Schweiz.

Morgen früh werfe ich den Brief ein, denkt Bruno. Marken habe ich. ›Eilboten‹ und ›Luftpost‹ schreibe ich auf den Umschlag.

Er senkt die Feder in das Tintenfaß.

Mit ungelenken Buchstaben beginnt er:

Berlin, 12. Oktober 1964

 

Mein lieber, alter Franz!

Ich hoffe, es geht Euch allen gut. Von mir kann ich das nicht behaupten. Es ist nun alles ganz verkorkst hier. Könntest Du mir wohl …

Und geschickt verschlüsselt (so geschickt man derartiges überhaupt zu verschlüsseln vermag!) fragt Bruno an, ob der Franz ihm nun Geld in Berlin zukommen lassen könnte und falsche Papiere …

Bruno schreibt lange an diesem Brief, er überlegt jedes Wort. Antwort erbittet er umgehend an die Adresse der ›Pension Florida‹.

(Dieser Brief wird, wie alle an den Franz Lutter gerichteten Briefe, die man in Berlin oder der Bundesrepublik aufgibt, auf Anordnung des Verfassungsschutzes von der Post einer bestimmten Stelle zugeleitet, daselbst geöffnet und fotokopiert werden. Dann erst wird der wieder verschlossene Brief seine Reise in die Schweiz antreten.

Franz Lutter weiß natürlich, daß das geschieht, seit er geflüchtet ist. Bruno weiß das nicht. Er könnte es sich denken. Wenn man sehr verzweifelt ist, denkt man leider oft nicht an alles. Franz Lutter wird Brunos Brief natürlich niemals beantworten – um Bruno, die Berliner Fälscher und jene Freunde, die Bruno Geld geben könnten und würden, nicht zu gefährden. Er wird zu seiner Frau, nach einem mächtigen Schluck Whisky, nur sagen: »Der arme Teufel. Jetzt ist es bei ihm soweit. Und ich kann nichts für ihn tun, nichts …« Dann wird er diesen Brief verbrennen.)

Nach Abfassung der Epistel ist Bruno total erschöpft. Trotzdem schläft er kaum eine Stunde in jener Nacht.

Am nächsten Vormittag, als er den Brief in den Kasten an der Mauer eines Hauses in der Duisburger Straße wirft, erblickt er plötzlich die beiden Schränke. Glatte Riesen. Jung. Muskelpakete. Totschlägertypen.

Panik erfaßt Bruno, der sein Äußeres in den letzten Wochen mehr und mehr vernachlässigt hat. Panik!

Hätte ihn viel früher schreiben sollen, den Brief, denkt der Mann in dem zerdrückten hellen Trenchcoat, dessen Hemd nicht sauber, dessen Krawatte schlecht gebunden ist, dessen Schuhe ungeputzt sind und dessen weißblondes Haar ihm bereits in den Kragen wächst.

Raus, raus, raus muß ich aus Berlin! denkt Bruno Knolle, während er durch Kreuzundquerlaufen in verschiedenen Straßen feststellt, daß die beiden Schränke wirklich hinter ihm her sind. In der Katharinenstraße findet er endlich einen Doppelposten Schupos.

»Die wolln ma vaschleppn«, stammelt er. »Die müssense vahaftn …«

Er ist furchtbar aufgeregt, der Bruno, und durch sein wirres Reden vergehen kostbare Sekunden. Als er endlich sagt, wie er heißt, reagieren die Schupos sofort. Bruno Knolle – den Namen kennen sie! Hätte er ihn doch gleich genannt …

Er tat es nicht. Er hat herumgefaselt.

Das gab den beiden Schränken Gelegenheit zu verschwinden. Die Schupos sahen sie wohl noch, wie sie in ein Auto sprangen, aber verhaften konnten sie die beiden nicht mehr. Sie eilten sofort zu ihrem Revier, um Meldung zu machen. Bruno bat, mitkommen zu dürfen.

»Was wollen Sie? Den Kriminalrat anrufen?«

»Den Kriminalrat anrufen«, keuchte Bruno. »Nu jeht et um mein Lebn … um mein Lebn jeht et nu!«