Der Kriminalrat Berthold Prangel kommt Bruno Knolle mit ausgebreiteten Armen, strahlend vor Glück, entgegen, als dieser das Büro im Polizeipräsidium betritt.
»Na, also so ’n Jrund, vajnücht zu sein …«
»Quatsch nicht!« Händeschütteln. »Ich hatte schon Angst um dich!« Neuerliches Händeschütteln. »Was hat dich so lange aufgehalten?«
»Der Vakehr, Herr Kriminalrat.«
»Brachte dich ein Funkwagen, wie ich es angeordnet habe?«
»Jawohl, Herr Kriminalrat. Die Herren ham ma bis vor Ihre Zimmatür bejleitet.«
»Ach, Bruno, Bruno …« Der Kriminalrat sieht seinen alten Bekannten gerührt an. »Was hast du alles durchmachen müssen! Zigarette? Zigarre? Nein? Kann ich verstehen. Zu aufgeregt, nicht? Ich bin auch zum Pfeiferauchen zu aufgeregt.« Er röhrt plötzlich: »Als ich erfuhr, daß diese Schränke hinter dir her sind, da ist mir der Kragen geplatzt! Da hatte ich die Schnauze voll! Das kann man nicht machen mit einem Menschen! Du wärst mir ja noch krepiert, Bruno, wenn das so weitergegangen wäre!«
»Wäre? Aba et jeht doch so weita!«
»Nein! Es geht nicht so weiter, Bruno! Ich habe das nicht länger ausgehalten! Ich habe es riskiert!«
»Wat?« fragt Bruno. »Wat ham Sie riskiert, Herr Kriminalrat?«
Prangel ist außer Atem geraten, er braucht ein paar Sekunden, um sich zu beruhigen.
»Den ehrwürdigen Mr. Bentley anzurufen und ihm endlich meine Meinung zu flüstern! Über gesunden Menschenverstand und Verantwortung und so! Mensch, Bruno, viel früher hätte ich das riskieren sollen! Natürlich, die Schränke jetzt, die halfen. Was soll ich dir sagen? Alles ging glatt! Mr. Bentley hat es eingesehen, Herr Schuckert, den er anrief, hat es eingesehen, die draußen in Marienfelde haben es ein …«
»Wat?« fragt Bruno laut. »Wat hamse einjesehn, die Herrn?«
»Daß du nicht länger in Berlin bleiben darfst. Nicht einen Tag.«
»Aha.«
»Daß du sofort alle Papiere erhalten mußt, um in die Bundesrepublik fliegen zu können … in Sicherheit!«
»Aha«, sagt Bruno zum zweitenmal. Er bekommt nicht mit, was Prangel ihm da eröffnet. Er blinzelt, schluckt, glotzt.
»Auf einmal flutscht alles nur so, Junge! Die Papiere sind schon da oder unterwegs zu mir! Du fliegst nach München, heute nachmittag bereits! Meldest dich da bei der Polizei. Bekommst Geld. Man paßt auf dich auf, solange der Wirbel hier noch im Gang ist …« Immer schneller redet Prangel, immer mehr leuchten seine Augen. »Wenn man dich verhören muß, wird man es in München tun … Jetzt geht es noch einmal rund, Bruno! Jetzt setze ich für dich durch, was du willst … in ein paar Tagen setze ich es durch! Bentley, Schuckert, die im Lager, das sind ja lauter anständige Leute … Nur dieser ewige Trott … dieses Keine-Verantwortung-Übernehmen-Wollen … Aber damit ist es nun vorbei! Ich muß wirklich sagen: Dank der Schränke. Der Himmel lohne es ihnen!«
Bruno würgt. Ist der Prangel übergeschnappt? Ist er selber übergeschnappt? Träumt er? Ist er tot?
Nein, er träumt nicht, tot ist er wohl auch nicht, sonst spürte er nicht so schmerzhaft, wie der vor Seligkeit stotternde Prangel ihm auf die Schulter haut.
»Aua …«
»Bißchen viel auf einmal, wie? Na, du wirst es schon verdauen! Die sieben mageren Jahre sind vorbei. Ich habe noch eine Überraschung für dich!«
»Überraschung …«, wiederholt Bruno blödsinnig und leicht schwankend vor Benommenheit, während Prangel zu einer zweiten Tür geht und diese öffnet.
»Bitte, gnädige Frau«, sagt der Kriminalrat mit einer Verbeugung. Im nächsten Moment kommt jene Dicke, die Bruno am 13. August 1964 k.o. geschlagen hat, um sie durch das Einsteigloch des Tunnels im Hofe des Hauses Mottlstraße 36 befördern zu können, einer gewaltigen Fettkugel gleich auf ihn zugeschossen. Der Zusammenprall wirft Bruno fast um. Die übergewichtige Dame verhindert seinen Sturz, indem sie ihn herzhaft umarmt, an den Busen preßt und ihm zwei sehr nasse Küsse gibt.
»Herr Knolle! Herr Knolle!« Die Dame ist völlig außer sich. »Mein Lebensretter! Endlich sehe ich Sie wieder!« Noch ein Kuß, der feuchteste. »Endlich kann ich Ihnen danken!«
»Bibibitte …«, stammelt Bruno.
»Setzen wir uns«, sagt Prangel mitfühlend.
Bruno plumpst auf einen Stuhl, die Dame auf den Stuhl neben ihm. Sie atmet immer noch hastig, ihre freudige Erregung klingt nur langsam ab. Sie ist geschminkt und trägt ein sicherlich sehr teures lilafarbenes Herbstkostüm, das sie noch dicker erscheinen läßt, als sie ohnedies ist. Prangel geht hinter den Schreibtisch und betrachtet seine Gäste wie ein gütiger Vater.
»Bruno, das ist Frau Martha Jacobs.«
»Anjenehm, jnädije Frau«, sagt Bruno und sieht aus wie ein Kretin. Prangel sagt: »Frau Jacobs hat versucht, mit dir in Verbindung zu treten, seit du ihr in den Westen geholfen hast. Ununterbrochen hat sie es versucht. Auf allen Wegen. Doch alle Wege waren ihr versperrt.«
»Wieso versperrt?«
»Weil diese Ochs …« Prangel fängt sich im letzten Moment. »Weil die Behörden, die deinen Fall untersuchen, auf das strengste verboten, daß Frau Jacobs mit dir zusammentrifft, ehe alles geklärt ist. Auch mir wurde verboten, eine Verbindung herzustellen. Strengstens. Als ich nun aber erfuhr, daß sie hinter dir her sind, da habe ich auch gleich dafür gesorgt, daß dieses Verbot aufgehoben wird. Und danach rief ich Frau Jacobs an und bat sie zu mir und sagte, hier würde sie dich wiedersehen.«
»Und das tue ich jetzt! Ach, Herr Knolle! Ach, Herr Kriminalrat!« Die Fettkugel in Lila gleitet fast vom Stuhl.
»Wir beide werden es schaffen, Frau Jacobs!«
»Schaffen … wat?«
»Dir zu helfen«, sagt Prangel.
»Das wollte ich doch von Anbeginn«, zwitschert Frau Jacobs wild drauflos. »Ich habe drei reiche und einflußreiche Brüder in der Bundesrepublik, einen Politiker darunter …«
»Deshalb, verstehst du, sollte Frau Jacobs dich nicht sehen. Man hatte Angst, daß sie all diese Leute mobilisiert. Aber damit ist Schluß!« Prangel wird laut. »Hat sich doch alles geändert hier, nicht? Deine Unschuld steht doch fest! Du hast dem Westen einen großen Dienst erwiesen. Das steht auch fest. Und darum können wir es schaffen! Du fliegst in den Westen! Du kriegst deine Kneipe!«
»Kneipe …«
»In München!« tiriliert Frau Jacobs. »Da wohnen zwei meiner Brüder. Sie haben die Mehrheitsanteile an einer großen Brauerei. Diese Brauerei hat viele Lokale. Und eines von ihnen können Sie pachten! Habe ich bereits mit den Brüdern besprochen. Kleines Zeichen meines großen Dankes!«
Bruno starrt die Dicke an.
Er schnieft. Er blinzelt. Nun wird er kurzatmig.
»Ach du meine Jüte …«
»Beruhige dich, Bruno. Noch ist es nicht soweit. Zuerst brauchst du noch mehr Papiere. Die Konzession zum Beispiel. Ich verschaffe sie dir … trotz der Vorstrafen. Und die BVG ist vergessen! Die lassen wir unter den Tisch fallen. Fällt oft was unter den Tisch in solchen Fällen«, sagt Prangel.
Da fängt der Bruno an zu weinen.
Drei Minuten fast weint er. Es ist einfach zu viel für ihn, es ist einfach zu schön das alles – nach dem großen Elend.
Frau Jacobs und der Kriminalrat betrachten Bruno schweigend.
Der wischt mit dem Handrücken zuletzt Tränen fort und schnieft: »Danke … ick danke Ihn’ … allen beeden …«
»Ja, ja, nun aber los«, sagt Prangel. »Jetzt ist keine Zeit zu verlieren. Die Funkstreife bringt dich in die Pension, da holst du deine Sachen ab. Papiere gebe ich dir, wenn du zurückkommst. Und dann nichts wie zum Flughafen!«
Alle stehen auf.
»Du siehst, ich habe Wort gehalten«, sagt Prangel leise.
»Ja, Herr Kriminalrat, ja … Wenn ick meine Kneipe erst habe, denn müssense mir aba ooch besuchen«, stammelt Bruno, der das alles immer noch nicht fassen kann. »Sie ooch, jnädije Frau!«
»Natürlich komme ich auch. Es heißt übrigens nicht Kneipe in München, sondern Wirtschaft.«
Noch leiser sagt Prangel zu Bruno, während er ihn zur Tür geleitet: »Ich danke dir. Du hast das Größte getan, was ein Mensch für mich tun konnte.«
»Det kapiere ick nich.«
»Macht nichts«, sagt Prangel. »Wenn es nur so ist.«
Im Hintergrund bläst Frau Martha Jacobs in ihr Taschentuch.
Es klingt wie schweres Artilleriefeuer.