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Es freut mich, daß Sie so vernünftig waren und keinen Krach geschlagen haben draußen in Riem«, sagt der Haftrichter Xaver Obermeier eine Stunde später in seinem Büro im Münchener Polizeipräsidium an der Ettstraße zu Bruno, der ihm still gegenübersitzt. »Und auch, daß Sie mir keine Schwierigkeiten bereiten, ist sehr anständig von Ihnen, Herr Knolle. Erleichtert doch alles! Besonders, daß Sie den Einbruch in die BVG-Hauptkasse Ostberlin gleich freiwillig zugeben.«

»Den hab ick ja imma zujejeben. Mit den Einbruch hamse mir doch seinazeit apreßt in ’n Osten.«

Bruno spricht höflich. Er begreift überhaupt nichts mehr. Sein Seehundsgesicht trägt einen Ausdruck unendlichen Staunens.

Herr Obermeier, ein kräftiger, fröhlicher Bajuware, reibt sich die kräftigen roten Hände.

»Ihre Akte ist schon unterwegs. Heut schlafens noch im Polizeigefängnis, morgen in der Früh schick ich Sie hinaus nach Stadelheim, in Untersuchungshaft.«

»Wieso, bitte?« fragt Bruno, immer höflich.

»No, wenns das Verbrechen doch selber zugeben …«

»Nich doch. Wieso is meine Akte schon untawejens?«

Herr Obermeier lächelt freundschaftlich.

»Weil man sie uns sofort zugeschickt hat. Festgenommen worden sind Sie auf Grund eines Fernschreibens.«

»Fernschreibens?«

»Das Berliner Präsidium hat uns verständigt. Verständigen müssen. Sie haben Berlin verlassen. Sie sind jetzt in Bayern. Also müssen wir uns doch jetzt um Sie kümmern. Zigarette?«

»Nee, danke. Wat heeßt kümman, Herr Direkter?«

»Na, vor Gericht stellen, verurteilen, einsperren.«

Bruno beginnt zu schniefen.

»Was hams denn? Fühlen Sie sich nicht gut?«

»Doch. Aba … aba det vasteh ick nich, Herr Direkter! Meine Akte, die hatte doch der Kriminalrat Prangel, und der hat doch jesacht, er würde …« Gerade noch rechtzeitig bricht Bruno ab.

»Was würde er, hat er gesagt?«

»Schon det Richtije machn damit.«

»Na, das hat er ja auch gemacht. Oder besser: Der Polizeipräsident von Berlin hats getan. Wie der erfahren hat, daß Sie jetzt nach Bayern ziehen, da hat er sich die Akte sofort vom Herrn Kriminalrat Prangel geben lassen und sie uns zugeschickt. Kommt mit der Abendmaschine, denk ich. Das Fernschreiben war natürlich gleich da. Alles doch ganz einfach und klar … net?«

Dem Prangel hat man das Material weggenommen, denkt Bruno, und er denkt es milde, sanft und gottergeben. Das hat der Prangel in seiner Freude nicht vorausgesehen. Das hat keiner vorausgesehen, daß nun noch so etwas passieren würde.

»Bitte, Herr Direkter?« Bruno blickt auf. Der Haftrichter fragte ihn etwas, das hörte er. Aber verstanden hat er es nicht.

»Ich hab gesagt, das ist doch alles ganz einfach und klar … oder net, Herr Knolle?«

Bruno spricht hochachtungsvoll: »Nich janz, Herr Direkter. Ick meine: Dettse den Kriminalrat die Akte wegnehmen, hätte ick mir denken könn. Aba wieso komm ick nu wieda in ’n Knast? Oben in Berlin hieß et die janze Zeit, der Fall wird niedajeschlagen. Weil ick doch den Westn ’n Dienst erwiesn habe, ’n jroßen Dienst!«

»Ja, in Berlin hats das vielleicht geheißen. Und dort wärs auch möglich gewesen … vielleicht. Aber durch Ihre Übersiedlung nach Bayern ham jetzt wir von der Geschichte erfahren, Ihre Straftat ist uns offiziell zur Kenntnis gebracht worden. Da können wir einfach gar nichts anderes machen, mein lieber Herr, als daß wir diese Straftat verfolgen. Verstehns das net?«

Bruno schüttelt den Kopf.

Herr Obermeier spricht beinahe zärtlich und mit jenem Enthusiasmus, den jeder Mann an den Tag legt, wenn man ihn ersucht, Regeln und Finessen seines Berufs zu erläutern: »Ich erkläre es Ihnen gern. Daß Sie net glauben, es geschieht Ihnen Unrecht. Nein, nein, geht schon alles mit rechten Dingen zu … nach dem Gesetz.« Immer eifriger wird Herr Obermeier. »Das Grundprinzip, auf dem unser ganzes Recht beruht, ist das sogenannte Gesamtdeutschland-Recht.«

»Aha.«

»Danach ist jede Straftat zu verfolgen, die im deutschen Inland begangen wurde. Zum deutschen Inland gehört als Teil Gesamtdeutschlands auch die sowjetische Besatzungszone. Das wird bei uns in der Rechtswissenschaft a priori …«

»A wat?«

»… von vornherein und durchwegs angenommen. Der Bundesgerichtshof hat diese Praxis von Anfang an gutgeheißen. Denn warum, Herr Knolle? Unsere ganze Politik ist doch darauf aufgebaut, daß es nur ein Deutschland gibt! Darum heißt es ja auch immer die ›sogenannte DDR‹. Weil das ein Terror- und Willkürregime ist, das sich in Gesamtdeutschland momentan – momentan! – breitmacht. Deshalb erkennen wirs ja auch net an und schaun so drauf, daß kein anderer Staat, der zu uns Beziehungen unterhält – zu uns, die das gesamte Deutschland vertreten! –, die sogenannte DDR anerkennt. Wenn wir da net verflucht aufpassen würden, könnten die drüben ja sagen: Na also, endlich seht ihrs ein, daß es zwei Deutschlands gibt!« Herr Obermeier hebt die Stimme. »Die gibts aber net! Es gibt nur ein einziges, unteilbares Deutschland. Das müssen wir wieder und wieder sagen und dokumentieren und beweisen – auch in der Rechtsprechung. Wenn wir Sie net vor Gericht stellen täten – ja das wäre doch vollkommen unverantwortlich gegenüber unserem Vaterland! Was glaubens, wie die Verbrecher drüben sich da freuen würden! Im übrigen liefern auch wir ja Kriminelle, die in die Bundesrepublik flüchten, an die SBZ aus. Nein, nein, Sie müssen vor Gericht, jetzt sehn Sie’s ein, gell?«

»Jetz seh ick et ein, Herr Direkter.«

»Insbesondere, da Sie Ihre Straftat ja zugeben. Das wird Ihnen übrigens sehr helfen. Auch das, was Sie in Berlin für den Westen getan haben. Sie können mit vielen mildernden Umständen rechnen. Aber ins Gefängnis müssens natürlich.«

»Natürlich«, sagt Bruno. Er denkt: Knarje in Berlin, ich in München. Zurück in den Knast. Weil es eben das Gesamtdeutschland-Recht gibt. Und weil wir niemals die DDR anerkennen dürfen. Logisch. Völlig logisch.

»Leider«, sagt Herr Obermeier, »sind Sie vorbestraft, Herr Knolle. Da wird es, selbst mit mildernden Umständen, nicht unter einem Jahr abgehen. Ich halt Ihnen die Daumen, daß es net mehr wird. Freilich, wenn Sie dann herauskommen und noch einmal rückfällig werden, nachher sind Sie ein Gewohnheitsverbrecher. Das wär dann bös! Da müßtens mit bis zu fünfzehn Jahren Zuchthaus oder gar mit permanenter Sicherheitsverwahrung rechnen. Aber Sie stellen gwiß nix mehr an, gell?«

Bruno schüttelt den Kopf.

»Brav. Wird sich eine Stelle als Kellner für Sie finden … nicht gerade in den ›Vier Jahreszeiten‹ natürlich, aber in irgendeiner kleinen Wirtschaft …«

»Und daß ich selber nach Verbüßung der Strafe eine kleine Wirtschaft …«, beginnt Bruno, hochdeutsch, weil mit letzten Kräften.

»Herr Knolle!«

»Ich hätte da nämlich etwas in Aussicht. Selbstverständlich brauchte ich eine Schankkonzession. Und die bekäme ich nur, wenn meine Vorstrafen gestrichen würden.« Der Satz klingt wie eine Frage, und wie eine Frage faßt Herr Obermeier die Worte auch auf.

»Herr Knolle! Bittschön, Herr Knolle! So gescheit und vernünftig warens bisher … fangen jetzt net noch zum Spinnen an. Vorstrafen streichen? Das wissens doch, daß das nicht so schnell geht, oder?«

»Doch«, sagt Bruno. »Ich weiß es schon.«

»Na sehens.«

»Und noch etwas weiß ich jetzt endlich«, sagt Bruno und senkt den Blick, denn er fühlt, daß seine Augen sich mit Tränen füllen.

»Nämlich?«

»Jetzt weiß ich endlich ganz genau, was das bedeutet: Unteilbares Deutschland«, antwortet der menschliche Seehund sehr leise, sehr höflich und sehr ernst.