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Um 22 Uhr an diesem 13. Oktober 1964 liest Kriminalrat Berthold Prangel den letzten Satz des Romans ›Der Zauberberg‹ von Thomas Mann: ›Wird auch aus diesem Weltfest des Todes, auch aus der schlimmen Fieberbrunst, die rings den regnerischen Abendhimmel entzündet, einmal die Liebe steigen?‹

Nebenan läutet jenes Telefon, das überhaupt keine Wählerscheibe besitzt und nur direkt mit einem einzigen anderen Anschluß verbunden ist – im Hauptquartier des CIC.

Prangel geht an den Apparat und meldet sich.

Eine atemlose Stimme ertönt: »Bentley hier. Herr Kriminalrat, bitte kommen Sie ins Polizeipräsidium. Ich komme auch. Herr Schuckert ist schon unterwegs. Es ist etwas passiert …«

Prangels Herz klopft plötzlich wild.

»Passiert? Mit Bruno Knolle?«

»Knolle? Wieso? Verstehe ich nicht. Der sitzt doch in München im Polizeigefängnis.« Prangel senkt den Kopf und beißt sich auf die Lippe. »Nein, hier in Berlin! Mit Mittenzwey!«

Niedergeschlagen läßt sich Prangel auf einen Stuhl sinken.

»Er wurde ständig überwacht in den letzten Wochen … von Herrn Schuckerts Leuten, von uns …«

»Das weiß ich. Und?«

»Er ist verschwunden!« schreit Bentley. »Er soff doch jeden Abend in diesen dreckigen Kneipen herum. Heute abend wieder. Zusammen mit einem etwa gleichaltrigen Mann. Die beiden zogen von Lokal zu Lokal. Studienfreunde, dachten unsere Leute. Zuletzt tranken sie in einer Kneipe an der Eisenzahnstraße. Gingen zusammen auf die Toilette. Sind nicht wiedergekommen. Unsere Leute haben nach ihnen gesucht. Sahen eben noch, wie Mittenzwey in einen Privatwagen gestoßen wurde, der in der Mansfelder Straße parkte.«

»Mittenzwey …« Prangel steht wieder auf. Müde, müde, unendlich müde ist er. »Wer hat ihn entführt? Haben das Ihre Leute noch gesehen?«

»Ja … zwei Riesenkerle waren es … der Beschreibung nach jene, die heute morgen hinter Knolle her waren … Der Mann, mit dem Mittenzwey getrunken hatte, saß am Steuer … Sie fuhren alle zusammen los, bevor man etwas unternehmen konnte …«

»Seit heute morgen ist unsere Polizei alarmiert. Sie sucht nach diesen beiden Schränken, Mr. Bentley.«

»Suchen genügt nicht! Eine Großfahndung muß sofort einsetzen! Jeder verfügbare Mann auf die Straße, an die Sektorengrenzen … Veranlassen Sie beim Überfallkommando noch von zu Hause aus das Nötige … auch bei der Bereitschaftspolizei … Ich hetze die MP und die Army los, verständige die Briten und Franzosen … Wir treffen uns bei Ihnen im Präsidium … das wird wohl die beste Kommandozentrale sein … Nun vorwärts, machen Sie! Jede Sekunde ist kostbar!«

In dieser Nacht kommt es in Westberlin zur größten Fahndungsaktion seit der Teilung der Stadt. Sie verläuft ergebnislos. Wird am nächsten Tag fortgesetzt. Wird in der folgenden Nacht fortgesetzt. Ergebnislos.

Kurt Mittenzwey bleibt verschwunden.

Er taucht nie mehr auf.