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Als die Verkäuferin Grete Machon am Abend des 14. Oktober 1964 in ihre kleine Kölner Wohnung heimkehrt, erschöpft und doch, wie jeden Abend, glücklich, Jürgen wiederzusehen, da kommt ihr dieser bereits in der Diele entgegengerannt, aufgeregt, mit hektischen roten Flecken im Gesicht.

»Mutti … Mutti …«

»Was ist? Hast du Fieber? Du bist ja ganz heiß! Fühlst du dich schlecht?«

»Schlecht?« Jürgen Machon schüttelt den Kopf, daß die Haare fliegen. »Komm … komm mit mir …«

»Ich muß doch wenigstens den Mantel ausziehen.«

Das gestattet Jürgen.

Dann zerrt er die Mutter in sein Zimmer. Hier steht das Kistchen, in dem die gelähmte Schildkröte lebt.

»Ich habe es selber gesehen! Heute nachmittag!«

»Was?«

»Na, Happy kann doch nur den Kopf bewegen, nicht? Und heute nachmittag … und heute nachmittag hat sie zuerst den linken Vorderfuß vorgeschoben und dann den rechten und die Hinterbeine nachgezogen! Mutti! Mutti! Sie hat die Vorderfüße bewegt!«

Grete Machon und Sohn kauern nun vor der Kiste, in der, auf Sand, das Tier sitzt.

»Seitdem beobachte ich sie dauernd! Ob sie sich vielleicht noch einmal bewegt. Wenn sie es einmal getan hat, dann kann sie es doch wieder tun!«

»Bestimmt.«

»Sie hat’s aber nicht mehr getan!«

»Das sagt nichts. Es war vielleicht eine große Anstrengung für Happy. Jetzt muß sie sich ausruhen.«

»Ich habe Salat aus der Küche geholt … du bist nicht böse, nein? Ich versuche es jetzt mit Salat. Happy hat Salat doch so gern! Schau, ich halte ihr ein Blatt hin, aber so, daß sie einen Schritt machen muß, um es zu erreichen.«

Jürgen tut, was er sagt. Happy bleibt bewegungslos.

»Laß sie jetzt zufrieden, mein Junge. Wir wollen selber essen. Dann versuchen wir es wieder.«

So geschieht es.

Nach dem Abendessen hocken Mutter und Sohn wieder vor der Kiste. Jürgen wedelt mit Gemüseblättern und spricht aufmunternd: »Der schöne Salat … sieh doch nur, Happy … der wunderschöne Salat … ist noch viel mehr da … mußt nur einen Schritt machen, dann hast du das Blatt. Und zur Belohnung bekommst du ein zweites!«

Happy bewegt sich nicht.

Jürgen ruft verzweifelt: »Warum tut sie nichts, Mutti? Sie konnte es doch am Nachmittag! Warum jetzt nicht?«

»Weil es eben wirklich so sehr anstrengend für sie war, Jürgen. Jetzt braucht sie Ruhe. Morgen versuchen wir es wieder. Dann wird es funktionieren, dann wird sie wieder einen Schritt machen, vielleicht sogar zwei. So etwas dauert lange, sehr lange.«

»Natürlich wird es lange dauern. Du … du glaubst, daß die Lähmung einmal verschwinden wird?«

»Ja, Jürgen. Wenn du sehr viel Geduld hast.«

Der Junge streichelt das Tier, während er die Mutter ansieht.

»Ich werde sehr viel Geduld haben!«

»Die muß man auch haben bei einer so schlimmen Sache.«

»Aber das glaubst du ehrlich, daß alles wieder gut wird mit meiner Happy … zuletzt?«

Grete Machon nickt.

Jürgen sieht die Schildkröte an und sagt: »Es wird alles wieder gut werden, Happy. Alles und ganz. Nur Geduld, viel, viel Geduld müssen wir haben. Am meisten natürlich du.« Er hat sich über das reglose Tier geneigt, während er sprach, tiefer und tiefer, er hat eindringlicher und eindringlicher gesprochen. Nun schweigt er. Und ein kleines Lächeln über eine große Hoffnung erhellt sein Kindergesicht.