Als Bruno Knolle anrief, hatte der Kriminalrat Berthold Prangel tatsächlich schon seit einer Stunde im Bett gelegen und gelesen. Das war sein Schönstes! Liegen und lesen, bis ihm die Augen zufielen. Er las, wie ein Drüsengestörter ißt: Unmäßig, süchtig. Allerdings nur Romane, Novellen und Theaterstücke. Diese Beschränkung auf das Fiktive hatte natürlich ihren Grund, ebenso wie Prangels Lesewut überhaupt, ebenso wie alles seinen Grund hat, was ein Mensch tut oder nicht tut – dieser Bericht bemüht sich, das zu beweisen.
Was einer tut, ist unbegreiflich, wenn man nicht weiß, was er schon alles getan hat. Warum einer so ist, wie er ist, versteht man nur, wenn man weiß, was für einer er war. Immer muß man das Gestern der Menschen kennen, bevor man über ihr Heute urteilt. Was nun den Kriminalrat anging …
Berthold Prangel, fünfundfünfzig Jahre alt, ein stets leicht angewidert wirkender Mann mit untersetzter Gestalt, kurz geschnittenem schwarzem Haar, hoher Stirn, klugen Augen und ausgeprägtem Kiefer, wirkte stets leicht abwesend und etwas melancholisch. Er war ein hervorragender Kriminalist, man zog ihn zu den kompliziertesten Fällen heran. Er klärte sie fast ausnahmslos, dank der wunderbaren Begabung, sich in andere Menschen hineindenken zu können. Bei der Untersuchung jedes Verbrechens stellte er sich von Anbeginn vor, er selbst sei der Täter.
In seinem Leben hatte Prangel ein einziges Mal wirklich geliebt: Seine Frau Anna. 1940 waren sie vor den Standesbeamten getreten. Da hatte der Einunddreißigjährige bereits Außerordentliches geleistet und war eben Kommissar im Dezernat Einbruch – Raub geworden.
Die Ehe der Prangels blieb kinderlos. Der Kommissar besaß keine Geschwister. Seine Frau hatte einen Bruder, Werner. Werner May. An diesen Bruder hatte Anna, wie manche Schwester, ihr Herz gehängt, ihr ganzes Herz. Prangel konnte sich das zuerst nicht recht erklären, denn nach allem, was er von Anna erfuhr, war Werner von Jugend an besonders egozentrisch und grausam gewesen. Er hatte Annas Puppen zerbrochen, hatte sie lügenhaft vieler Dinge bezichtigt, die auf sein Schuldkonto gingen, so daß oft sie für ihn bestraft wurde. Er war eigentlich der schlechteste aller Brüder. Und trotzdem liebte Anna ihn so sehr!
Aufmerksame Beschäftigung mit vielen Menschen, Männern und Frauen, in seinem Beruf lehrte Prangel dann bald, daß es Unsinn war zu sagen, Frauen seien rätselhaft. Sie hatten einfach eine andere Art zu denken und zu reagieren. Männern erschien diese Art unlogisch. Aber sie war es nicht, wenn man davon ausging daß die Auffassung über das Reale bei den Geschlechtern völlig unterschiedlich ist.
Vom weiblichen Realitätsstandpunkt aus (den kein Mann sich zu eigen machen kann) war Annas Verhalten durchaus logisch. Sie selbst konnte das nie erklären (und keine der unzähligen Frauen, die Prangel zu verhören hatte, vermochte Derartiges in ihrem speziellen Fall), aber der Kriminalrat – damals noch Kommissar – begriff auch so. Deshalb errang er beruflich Erfolg um Erfolg. Deshalb liebte Anna ihn immer mehr: Weil er als einziger begriff, daß sie immer weiter mit der rührenden, bewundernden Liebe der Kindheit an Bruder Werner hing, der mittlerweile beim SD gelandet war und sich in Polen und Rußland umtat. Zu Ehren und Würden brachte Werner May es beim SD, Männer wie Kaltenbrunner und Eichmann sagten ›du‹ zu ihm, und mit dieser Feststellung wollen wir es bewenden lassen, denn sie genügt.
Als dann der Krieg zu Ende war, versuchte May, der blonde, blauäugige Endlöser, sich in den Westen durchzuschlagen. Das Unternehmen mißglückte. Die Sowjets fingen May und brachten ihn nach Sibirien. Sie hätten ihn erschießen können, das wäre nach den Hunderttausenden, die auf Mays Befehl ausgelöscht worden waren, völlig in Ordnung gewesen.
Aber die Russen erschossen May nicht. Ihr Geheimdienst hatte nämlich herausgefunden, daß er eine Schwester in Westberlin besaß, die ihn abgöttisch liebte, und daß diese Schwester mit einem hochtalentierten Kriminalbeamten verheiratet war, der seine Frau – auf andere Art – ebenso abgöttisch liebte. So ließen die Sowjets May einen ersten Brief an seine Schwester schreiben, versuchsweise ganz allein und nicht nach Diktat, und der Brief fiel genauso aus, wie man ihn wollte: Klagend, weinerlich, jämmerlich.
Er sei zu lebenslänglicher Zwangsarbeit verurteilt worden, schrieb Werner. Was allein ihn am Dasein nicht vollends verzweifeln lasse, das sei Annas Liebe, deren er nach wie vor gewiß sei, und das Lesen in der Bibel, diesem wunderbarsten aller Bücher, dem May entnommen hatte, daß man nach Gottes Willen seine Nächsten ebenso lieben sollte wie seine Feinde. – Was wohl soviel hieß, daß der Herr Standartenführer den Russen zu vergeben gewillt war.
Als Anna Prangel diesen Brief gelesen hatte, unternahm sie einen Selbstmordversuch. Sie trank Lysol. Wochenlang war sie in Lebensgefahr. Wochenlang schlief Berthold bei ihr in der Klinik und eilte nur tagsüber fort, seinen Dienst zu tun, und auch das nicht immer, nämlich dann nicht, wenn es mit Anna wieder dem Tode zuging.
Er liebte Anna! Den Bruder verfluchte und haßte er abgründig. Aber er war nun einmal da, dieser Bruder, er würde – das sah Prangel voraus – noch oft schreiben. Und was das Bibelwort betraf, so überlegte der Kriminalist, verlangte es wohl deshalb von den Menschen, Nächste wie Feinde gleichermaßen zu lieben, weil es sich, bei wirklichen Feinden und wirklichen Nächsten, wie das gegenständliche Beispiel beweist, um dieselben Menschen handelt.
Noch während Anna in der Klinik lag, im Herbst 1946, machte Prangel die Bekanntschaft eines Mannes, der sich Wieland nannte. Bei einem tristen Erbsenessen im halbzerstörten ›Prälaten‹, einem Lokal am Alexanderplatz, kam Herr Wieland endlich zur Sache: »Ich spreche im Auftrag eines Freundes. Ihr Freund hat mir viel von Ihnen erzählt. Von Ihnen, Ihrer armen Frau und Ihrem Schwager.«
Ach! dachte Prangel, und er löffelte schweigend seine Erbsen.
»Sie könnten meinem Freund große Dienste erweisen, Herr Prangel. Und er, wiederum, könnte Ihnen helfen.«
»Wie?« fragte Prangel, obwohl er die Antwort schon kannte.
»Ihr Schwager wurde zu lebenslänglicher Zwangsarbeit in Sibirien verurteilt, nicht wahr? Nun, mein Freund ist ein hoher sowjetischer Offizier. Er könnte erreichen, daß Ihr Schwager in fünf Jahren freigelassen wird.«
Prangel stand auf.
»Im übrigen«, bemerkte Wieland beiläufig, »hat jemand heute vormittag Ihre Frau in der Klinik angerufen und ihr dasselbe gesagt.« Prangel warf Geld auf den Tisch und raste in das Krankenhaus. Als er ankam und zu Anna eilen wollte, hielt ihn ein Arzt auf.
»Sie können nicht zu Ihrer Frau, Herr Kommissar.«
»Warum nicht?«
»In ihrem Befinden ist heute vormittag jäh eine arge Verschlechterung eingetreten. Nach einem Kollaps hat die Nierentätigkeit völlig ausgesetzt. Die kommenden achtundvierzig Stunden werden entscheiden, ob sie diese Krise überwindet. Es tut mir leid, aber ich muß Ihnen die Wahrheit sagen: Die Chancen sind sehr gering …«