Die nächsten achtundvierzig Stunden verließ der Kommissar die Klinik nicht. Er saß auf dem Gang vor der Tür zum Krankenzimmer seiner Frau. Manchmal schlief er ein. Einmal fiel er dabei von der Bank. Dann wurde er in das Zimmer des diensthabenden Stationsarztes gerufen. Jemand verlangte ihn am Telefon.
»Sollten Sie es sich überlegen, Herr Prangel«, sagte Wieland, der seinen Namen nicht nannte, »ich esse jeden Mittag im ›Prälaten‹.« Der ›Prälat‹ am Alexanderplatz lag im Sowjetischen Sektor von Berlin. Es war nicht gefährlich für Herrn Wieland, sich dort mit Berthold Prangel zu treffen. Gefährlich war das bloß für Berthold Prangel.
»Guten Appetit«, sagte der Kommissar, und er hörte den anderen lachen, bevor er einhängte.
»Wir müssen operieren«, sagte der diensthabende Arzt. »Sofort. In einer halben Stunde ist es zu spät. Haben wir Ihr Einverständnis? Ihre Frau kann ich nicht fragen, die ist ohne Besinnung.«
Prangel nickte, unterschrieb ein Formular, und dann saß er wieder auf dem Gang. Und während seine Frau operiert wurde, schwor er sich selbst etwas. Er hätte es Gott geschworen, wenn er an Gott geglaubt hätte, aber er vermochte das ebensowenig, wie er – nach all seinen Dienstjahren – an ein einziges, unverrückbares ›Recht‹, eine einzige, universelle ›Wahrheit‹ zu glauben vermochte. Es gab, schien ihm, so viele Arten von ›Wahrheit‹, wie es Menschen gab, und für jeden einzelnen Menschen eine besondere Art von ›Recht‹. Vermutlich gab es also auch exakt so viele verschiedene Arten Gott wie verschiedene Arten Menschen, die an Gott glaubten, und da er nicht zu diesen gehörte, blieb ihm nichts übrig, als sich selbst dies zu schwören: Wenn Anna nicht starb, wollte er wieder in den ›Prälaten‹ gehen und als Agent für die Sowjets arbeiten. Das war nun das ›Recht‹, das er für sich in Anspruch nahm: Der Frau, die er liebte, seine Liebe beweisen zu dürfen!
Anna starb nicht.
Zuletzt ließ man Prangel, der vor Müdigkeit taumelte, zu ihr.
Wachsbleich war Annas Gesicht, sie konnte nur flüstern: »Wirst du es tun?«
Und er küßte ihre Lippen, die bitter schmeckten, und er nickte beruhigend und sehr deutlich und lächelte dabei.
Da lächelte auch Anna, und sie flüsterte: »Danke …«
So arbeitete der Kommissar Berthold Prangel also in den düsteren Jahren des Nachkriegselends, der Spaltung und der Blockade für die Sowjets. Es gab noch keinen richtig funktionierenden deutschen Polizeiapparat, das erleichterte die Tätigkeit. Ohne große Furcht vor Entdeckung konnte Prangel den Mittelsmännern des Wieland Akten, Fotokopien und Informationen liefern.
Anna erholte sich schnell.
Neue Briefe Werners kamen über das Rote Kreuz. Optimistische Briefe! Glückliche Briefe! Seine Strafe war bereits auf fünfundzwanzig Jahre herabgesetzt worden! Er hoffte auf eine Amnestie! Es ging ihm gut, er hatte eine Schreibstubenstelle, erhielt besseres Essen und gewisse Vergünstigungen, teilte Werner mit.
Und dann kam die ganz große Freude für Anna: Ihr Bruder schrieb, daß er schon nach fünf Jahren Zwangsarbeit entlassen werde.
»All das danke ich dir«, sagte Anna immer wieder zu Prangel, und ihre Augen leuchteten voll Seligkeit. Und er verriet weiter, was die Sowjets zu wissen wünschten, er lieferte alle Informationen, die verlangt wurden, er war ein vorbildlicher Agent. Wenn er später an diese Jahre zurückdachte, so erschienen sie ihm als die glücklichsten seines Lebens.
1951 begann Anna unruhig zu werden. Die fünf Jahre waren bald um, und dann, und dann …
Dann wurde der Kommissar Ende Oktober in das amerikanische Hauptquartier in Zehlendorf gerufen. Ein gewisser Mr. Low – er sprach fließend deutsch – bot Prangel Whisky an, sie tranken miteinander, und danach nannte Mr. Low dem Kommissar aus dem Gedächtnis alle Fälle, in denen dieser den Osten mit Material beliefert hatte, er nannte Art des Materials, Daten und die jeweilige Methode der Übergabe an die Mittelsmänner, er vergaß kein einziges Mal, er hatte ein vorzügliches Gehirn, und es machte ihm Spaß, das zu beweisen. Dann ging er zu einer Tür, öffnete sie mit einer Kopfbewegung, und herein kam der Mann, der sich Wieland nannte.
»Wir sind aufgeflogen«, sagte Wieland ganz ruhig zu Prangel, der ihn seit Jahren nicht mehr gesehen hatte. »Die ganze Gruppe. Das CIC weiß alles. Hat keinen Sinn mehr, Prangel. Lassen Sie sich umdrehen – so wie ich.«
»Das würde ich auch empfehlen«, meinte Mr. Low, schenkte ein drittes Glas voll und füllte die beiden anderen nach. »Sie werden weiter mit Herrn Wieland arbeiten – über Kontaktmänner natürlich. Sie sind beide so tüchtig und wissen so viel, daß wir Sie sofort übernehmen. Herr Wieland geht in den Osten zurück – wir haben ihn erst seit ein paar Stunden hier, niemand drüben kann auch nur den leisesten Verdacht haben. Natürlich haben wir Herrn Wieland fotografiert und seine Fingerabdrücke registriert. Herr Wieland hat eine hübsche Tonbandaussage gemacht, in der er alle Missionen verriet, die er mit Ihnen, Herr Prangel, gemeinsam im Auftrag des Ostens ausführte. Er hat gesagt, daß wir ihn festnahmen und daß er sich bereit erklärte, von nun an für uns zu arbeiten. Diese Erklärung haben wir auch schriftlich, von ihm unterzeichnet.«
»Selbstverständlich konnte Mr. Low mich nicht einfach laufenlassen und auf mein Wort vertrauen«, erläuterte Wieland dem Kriminalrat. »Ich erklärte darum auch, daß es nun meine CIC-Mission sei, mit Ihnen zusammen im Osten ein Agentennetz aufzubauen.«
»Das tat Herr Wieland«, sagte Mr. Low. »Und wenn es jetzt eine Panne gibt, gehen diese seine Aussagen direkt an den Staatssicherheitsdienst drüben. Sie sehen, so können wir Herrn Wieland laufenlassen.«
»Nur Ordnung mußte eben zuerst geschaffen werden«, bemerkte Wieland zynisch und trank Whisky. »Ihrer Loyalität wird man sich in ähnlicher Weise versichern, Herr Prangel.«
»Ähnlicher Weise?«
»Nun, gewiß doch.« Mr. Low lächelte friedlich. »Wir fotografieren auch Sie, nehmen auch Ihre Fingerabdrücke, und auch Sie geben eine Tonband- und eine schriftliche Erklärung darüber ab, was Sie bisher im Dienste des Ostens gegen den Westen getan haben und was Sie nunmehr im Dienste des Westens gegen den Osten zu tun bereit sind. Es darf auch bei Ihnen keine Panne geben, Herr Prangel, das sehen Sie ein, nicht wahr? Gibt es doch eine, so werden wir die deutschen Justizbehörden mit Ihrem Fall bemühen müssen – leider, leider.«
Nun trank auch Prangel.
Mr. Low lächelte weiterhin friedlich, während er sprach: »Aber an diese häßlichen Eventualitäten wollen wir gar nicht denken. Sie sind doch beide Gentlemen. Herr Wieland wird nun alle jene Männer einsetzen, die Sie ihm hinüberschicken, Herr Kommissar. Diese Männer werden die verschiedensten Aufgaben erfüllen. Wir sagen Ihnen jedesmal, was wir wünschen – Sie suchen dann die Geeigneten aus.«
»Aber …«
»Oh, Sie bekommen von uns natürlich Namen! Wir machen Sie mit interessanten Persönlichkeiten bekannt! Es gibt eine Menge interessante Persönlichkeiten in Westberlin, Herr Kommissar! Sie können sich selbstverständlich weigern. Dann muß ich Sie verhaften. Das täte mir leid. Besonders, wenn ich an die Sinnlosigkeit einer solchen Weigerung denke. Immerhin haben Sie den Westen aus einem menschlich verständlichen Motiv verraten. Das Motiv existiert nur seit langem nicht mehr. Ihr Schwager ist 1948 gestorben.«
Prangel warf sein Glas um. Der Whisky floß über den Tisch.
»Aber meine Frau bekommt doch ständig Briefe!«
»Die wird sie auch weiter bekommen«, sagte Wieland. »Mindestens noch fünf Jahre. Man hat Ihren Schwager auf Vorrat schreiben lassen. Das wird stets so gemacht. Es liegen bestimmt mehr als hundert vordatierte Briefe in Sibirien. Herrn May wird es immer besser gehen, nur die Entlassungsfrist wird sich aus diesem oder jenem Grund immer wieder hinausschieben – weil ein Kamerad geflüchtet ist oder weil Sie nicht fleißig genug waren. Diesen Vorwurf hat Ihr seit drei Jahren toter Schwager vor seinem Ableben schriftlich immer heftiger gegen Sie erhoben. In geziemend verschlüsselter Form natürlich. Ihre Frau wird dennoch verstehen.«
»Aber wenn ich nun vom CIC verhaftet werde und ins Zuchthaus komme …«
»Frauen sind komisch«, sagte Mr. Low gedankenvoll. »Ganz anders als Männer. Selbstverständlich wird Ihre Frau Ihnen trotzdem die Schuld geben. Wären Sie wirklich tüchtig gewesen, hätten wir Sie nie gefaßt! Sie haben sich eben nicht genug Mühe gegeben. Sie haben Ihren Schwager von Anfang an gehaßt, das ist bekannt, nun ja, und mit der Zeit haben Sie eben aufgehört, Ihre Frau zu lieben.«
»Das ist nicht wahr!«
»Natürlich ist es nicht wahr. Aber Ihre Frau wird es glauben und Sie hassen. Dann haben Sie alles verloren: Frau, Beruf, Freiheit. Und immer neue, anklagende Briefe werden kommen …«
»Wer sagt mir, daß Sie nicht lügen?«
»Niemand, Herr Kommissar«, erklärte Mr. Low lächelnd. »Sie müssen es mir schon glauben. Sie müssen übrigens nicht. Sie können sich auch einsperren lassen. Wenn Sie für uns arbeiten, werden wir dafür sorgen, daß Ihre Frau nur noch zwei oder drei Briefe erhält, die von uns zensiert sind und keine Vorwürfe enthalten. Und dann bekommt sie die Mitteilung vom Tod ihres Bruders.«
»Die schicken Sie ihr?«
»Gewiß. Die Sowjets tun es nie. Wir versprechen Ihnen, daß nach dieser Mitteilung keine Briefe mehr eintreffen werden. Noch einen Whisky, meine Herren?«