16

So arbeitete der Kommissar Prangel also von diesem Tag an für die Amerikaner, denn er besaß einen männlichen Verstand und eine männliche Logik, und sein Sinn für Realitäten sagte ihm, daß es keine andere Möglichkeit gab.

Tatsächlich kamen nur noch drei Briefe von Werner May.

Dann kam die Todesnachricht.

Lungenentzündung.

Es war ein offizieller Bescheid des Roten Kreuzes, ausgezeichnet gefälscht.

Einen Tag später unternahm die Frau des Kommissars ihren zweiten Selbstmordversuch. Diesmal gelang er.

Am 18. Dezember 1952 wurde Anna Prangel, geborene May, begraben. Sie war neununddreißig Jahre alt geworden.

Ab 1. Januar 1953 durfte Berthold Prangel den Titel ›Kriminalrat‹ tragen. Er arbeitete im Einbruchsdezernat des Westberliner Polizeipräsidiums, einer der tüchtigsten und erfolgreichsten Beamten, von Vorgesetzten geschätzt, von Mitarbeitern bewundert und verehrt.

Nun gab es, streng logisch betrachtet, keinen Grund mehr für Prangel, seine Agententätigkeit fortzusetzen. Die Frau, um derentwillen er für Geheimdienste gearbeitet hatte, war tot. Prangel hätte – wäre er ein Mann von Charakter gewesen, bereit, für seine Handlungen einzustehen und zu büßen – hingehen müssen zu den Amerikanern und sich weigern, weiterzumachen.

Er tat es nicht.

Die Erklärung dafür ist ganz einfach, wenn auch nicht schön. Prangel fand sie selbst sofort: Er war kein Mann von Charakter, er war nicht bereit, für seine Handlungen einzustehen und zu büßen.

Ein Mann von ›Charakter‹ wäre schon nie auf das Angebot des Wieland eingegangen – und wenn er seiner noch so geliebten Frau damit einen noch so großen Schmerz zugefügt, ja, wenn er diese Frau deshalb verloren hätte!

So ein Mann war Berthold Prangel nun eben nicht.

Er wußte genau, was er war: Ein sentimentaler Feigling. So kam es, daß sein Gesicht einen Ausdruck von beständigem Ekel annahm. Das war der Ekel vor sich selber.

Natürlich fand er auch Entschuldigungen für sein Betragen, und viele Entschuldigungen waren gar nicht so schlecht: Ein Jahr lang hatte er das Agentennetz in der Zone aufgebaut. Wenn er nun Schluß machte, brach dieses Netz zusammen, Hunderte waren verloren, die nur er, wenn er weiterarbeitete, schützen zu können – hoffen durfte!

Oder: Der Kalte Krieg wurde immer unbarmherziger. In Westberlin und in Westdeutschland wimmelte es von Ostagenten. Mit tödlicher Wut wurde der Kampf im Dunkeln geführt. Prangel war eine der wichtigsten Figuren in diesem Kampf geworden, ein außerordentlich fähiger Chef, dem eine fast geniale kriminalistische Begabung geschenkt war. Gab er auf, hatte die andere Seite ihren Triumph und einen mächtigen Vorsprung.

Oder – ach, Entschuldigungen gab es so viele!

Der Kommissar verzichtete mit der Zeit darauf, sie zu seiner Rechtfertigung durchzudenken. Er verzichtete allerdings mit der Zeit auch darauf, an sich als das zu denken, was er war und blieb: Ein Feigling.

Die Zeit verwischt zuletzt eben doch alles, alles wird zur Gewohnheit, auch das, wovon man einmal gedacht hat, daß man sich nie daran gewöhnen kann.

Auf das gewissenhafteste versah der Kommissar seinen Dienst im Präsidium, und ebenso gewissenhaft erfüllte er die ihm vom CIC gestellten Aufgaben. Mr. Low war von Mr. Green abgelöst worden. 1960 wurde Mr. Green von Mr. Snowden abgelöst. Das war ein älterer Mann, umgänglich und melancholisch wie Prangel. Die ständige Verschlechterung der politischen Lage und die wachsende Spannung in Berlin erlaubten es dem Kommissar, seiner Agententätigkeit fast offen nachzugehen. Nach der Errichtung der Mauer mußte er keine Angst mehr haben, wenn er mit einem amerikanischen Kontaktmann gesehen wurde. Auch Mr. Snowden durfte er nun, da amerikanische und Westberliner Sicherheitsbehörden innig zusammenarbeiteten, gelegentlich offiziell besuchen. Mr. Snowdens Büro befand sich nicht im Hauptquartier in der Clay-Allee, sondern in einer Villa an einer kurzen Seitenstraße, von Kiefern umstanden, nachts von Scheinwerfern angestrahlt.

Die Verbindung zu Wieland, den Prangel seit 1951 nie mehr gesehen hatte, blieb über Bayreuth erhalten. Agenten schleuste man nun entlang der Zonengrenze in die DDR, Berlin ließ man ausfallen.

Im Präsidium wurde der Kriminalrat langsam eine legendäre Gestalt. Das Dezernat Einbruch – Raub wäre ohne ihn nicht mehr denkbar gewesen. Beruflich unermüdlich (aber durch soviel Routine fast nur noch mechanisch) tätig, zeigte der Witwer sich privat immer schwerer zugänglich, scheuer, abweisender, leiser. Wo es nur ging, wich er Einladungen und Geselligkeiten aus. Die Wohnung in der Meraner Straße blieb genauso, wie sie zu Annas Lebzeiten gewesen war. Darauf achtete er ängstlich. Natürlich verschenkte er ihre Kleider, die Wäsche, die Schuhe und Mäntel, sie wären ja bald wertlos geworden, brüchig, zerfallen; aber ansonsten hob er jede Kleinigkeit auf, die an Anna erinnerte, jeden Kamm, jede Brosche, ihre Korrespondenz, sogar die Briefe von Werner May.

Seit zwölf Jahren stand Annas Bastkörbchen auf dem Tisch am Fenster des Wohnzimmers. Längst fleckig und rostig gewordene Strick- und Häkelnadeln lagen darin, und immer neue Wollknäuel. Der Kommissar mußte sie von Zeit zu Zeit ersetzen. Der Motten wegen. Auch das kleine Ölbild blieb über seinem Schreibtisch hängen. Anna hatte wohlhabende Eltern gehabt, die konnten schon einen Maler bezahlen, keinen schlechten! Das Gemälde zeigte einen vielleicht sechzehnjährigen blonden, blauäugigen Jungen, der lachend und selbstbewußt den Arm um ein schüchternes, etwas jüngeres Mädchen gelegt hat …

Wann immer Prangel dieses Bild betrachtete, und er betrachtete es öfter und öfter, dachte er grübelnd über die toten Geschwister nach, und mächtiger und mächtiger wuchs in ihm die Überzeugung, daß die beiden immer eins gewesen waren, und daß er das nur nicht rechtzeitig genug bemerkt hatte, und da lag seine Schuld.

Seine Schuld, ja!

Denn nie hatte er seine Schuld vergessen – Schuld an vielen schlimmen Dingen. Er wußte, daß wenigstens ein Viertel der Agenten, die er in die Zone schleuste, gefaßt wurde, und er wußte auch, was mit solchen Menschen geschah. Er wußte, was mit jenen geschehen war, die er den Sowjets in die Hände geliefert hatte und, danach, den Amerikanern. Aus Liebe zu Anna hatte er alles getan. Demnach war die Liebe wohl die furchtbarste, mörderischste und ekelerregendste Sache von der Welt.

Nicht um Anna zu vergessen (wie hätte er das je gekonnt?) hütete er also die Wohnung gleich einem Museum der Vergangenheit, nein, um niemals auch nur einen Augenblick seine Schuld zu vergessen! Deshalb das Bild über dem Schreibtisch.

Die Tröstungen der Religion blieben ihm selbst dann versagt, er wurde selbst dann nicht fromm und flüchtete in den Schoß der Kirche, als ihm das Ausmaß seiner Verbrechen immer fürchterlicher vor Augen trat, je älter er wurde. Er flüchtete in die Literatur, und da natürlich nur in die Belletristik, die Poesie, das Drama! Denn hier gab es Liebe und Verstrickung, Schuld und Sühne, hier konnte er sich identifizieren mit immer neuen Phantasiegestalten eines Autors, und ihre Rechtfertigungen waren die seinen, ihre Gedanken hatte auch er gedacht, dermaleinst, ihren Weg verfolgte er atemlos – zum bitteren Ende oder auch zur Erlösung, die einer selbstlosen, nicht auf Grund starker Leidenschaften begangenen Tat zu folgen pflegte, sehr häufig synchron mit dem Ableben des also Erlösten. Denn die Autoren, fand Prangel, neigten zu Melancholie wie er, zu Feigheit wie er, zu Angst vor dieser Welt wie er, sie sahen keine Rettung für diese Welt, und die sah Prangel auch nicht, und darum waren also die Bücher sein Trost.

Als der Bruno anrief, hatte der Kommissar gerade in den ›Eingeschlossenen‹ von Jean-Paul Sartre gelesen, etwas, das Franz Gerlach sagt: ›Dieses Jahrhundert wäre gut gewesen, wenn dem Menschen nicht aufgelauert worden wäre von seinem grausamen Feind seit Menschengedenken, von jener fleischfressenden Spezies, die ihm den Untergang geschworen hat, von dem reißenden Tier ohne Fell: Vom Menschen …‹

Nun ist er aufgestanden, der Kriminalrat, nur Strümpfe, Pantoffel und einen Morgenrock zieht er an, dann geht er durch das alte Treppenhaus mit den ausgetretenen Stufen, über die so viele Jahre lang die Anna geschritten ist, hinunter, um die Haustür zu öffnen. Denn Bruno Knolle hat gesagt, daß er in fünf Minuten da sein will. Eine gute Tat, denkt Prangel, von Furcht und Ekel frei: Ob ich sie noch begehen werde? Ob sie die arge Schuld noch von mir nehmen wird, zuletzt?