Da sitzen sie in dem großen Wohnzimmer mit den Lederfauteuils, den Eichenholzmöbeln, dem Schreibtisch, dem Bild darüber, dem Nähtisch und dem Körbchen darauf und mit den vielen Büchern, für die in dem einen schmalen Regal schon lange kein Platz mehr ist, weshalb sie der Kriminalrat in hohen Stößen auf dem Teppich stapelt, denn neue Regale kommen nicht in Frage! Alles muß so bleiben, wie es die Anna zuletzt sah.
Der Bruno hat dem Kommissar von der Flucht durch den Tunnel erzählt, er ist sehr aufgeregt, er hat so viel zu berichten, und Angst hat er auch, nun merkt er es: Sie wird immer ärger, die Angst! Wie gut, hier zu sitzen, vor diesem Mann mit den traurigen Augen, den er seit fünfundzwanzig Jahren kennt und der ihm ohne Ungeduld zuhört und nur ab und zu eine Bewegung macht, um die Weingläser wieder zu füllen, die vor ihnen stehen, oder um seine Pfeife neu zu stopfen, was den Bruno plötzlich ausrufen läßt: »Ach Jott, imma noch rauchense Feife, Herr Kriminalrat! So wie damals, neununddreißich, wiese mir vahaftet ham. Bei de Verhöre hamse ooch Feife jeroocht! Und mir hamse ’ne Zijarre jejem – jenauso wie heute!«
Seine wimpernlosen Knopfaugen unter den hellblonden Brauen werden feucht, er sieht Prangel ergriffen an: »Die Zookasse, erinnanse sich, Herr Kriminalrat?«
Prangel nickt. Der Bruno Knolle, das ist ein Mensch, den muß man reden lassen, immer reden, Kraut und Rüben, dann kommt schon raus, was man hören will, anders geht das nicht. 1939 hat Prangel auch geduldig zugehört, stundenlang, tagelang, wochenlang! Er trinkt einen Schluck.
»Fümf Jahre hamse jebraucht, bisse mir jeschnappt ham!«
»Ja, Bruno. Das war aber auch verdammt geschickt gemacht von dir. Wieviel hast du damals eigentlich gefischt? Dreißigtausend?«
»Wat? Mehr als vürzich, Herr Kriminalrat! Und Se hätten mir nie jeschnappt, wenn mir nich Klärchen verpfiffen hätte, aus Eifasucht. Ach ja, wie jung wir damals waren, Herr Kriminalrat!«
»Tja, Bruno. Das gab’s nur einmal, das kommt nie wieder.«
»Wem sagense det?« Der Bruno ist plötzlich traurig. In der Blüte seiner Jahre war er Berlins berühmtester Safeknacker. Auch nach dem Krieg arbeitete er noch. (Zuchthausstrafen hat er nur eine bekommen: Für den Einbruch in der Berliner Volksbank, Filiale Leninallee, in Ostberlin. Ein Vorstrafenregister mit Gefängnisurteilen hat er – das geht über drei Schreibmaschinenseiten. Für die Zookasse wurde er von den Nazis seinerzeit zum Tode verurteilt.)
»Wieso bist du schon raus aus Brandenburg?« forscht Prangel. »Die fünf Jahre sind meiner Erinnerung nach doch erst Ende Januar fünfundsechzig um.«
»Se ham mir früha entlassen, wejen jute Führung.«
»Das freut mich aber für dich! Ist es auch wirklich wahr? Bist du nicht stiftengegangen, Bruno?«
»Nee, nee …«
»Sag es mir lieber gleich! Wenn in dieser Stadt auch alles geteilt ist: Die Polizei hier und drüben arbeitet noch immer zusammen, trotz der Mauer! Ich meine natürlich die anständige Polizei, die Kripo, nicht den SSD«, sagt Prangel, angeekelt wie immer von sich selbst. »Das muß ja auch so sein. Sonst hauen Verbrecher einfach von der einen Seite in die andere ab. Durch ’n Tunnel, wenn’s nicht anders geht. Für Ganoven wäre das direkt das Paradies.« Prangel lächelt gutmütig. »War nicht persönlich gemeint, Bruno.«
»Weeß ick doch, Herr Kriminalrat! Aber die ham mir wirklich früha rausjelassen. Von wegen: Jute Führung! Wenn ick gleich Bescheid jewußt hätte, ick hätte wat anjestellt in ’n Knast, damit ick noch ’n Jahr krieje! Jetzt sitz ick in de Scheiße.« Der Bruno schreit auf einmal: »Aber die ham sich jetäuscht! Ick mach et nicht Und wenn ick druffjehe dabei! Ick mach et nich …«
»Langsam«, sagt Prangel, »langsam. Nicht so wirr. Was machst du nicht, Bruno?«
»Na, wat die wolln! Se müssen mir ’n Tip jeben, Herr Kriminalrat, sonst bin ick valoren!«
So schnell gerät der Bruno aus dem Konzept. Jetzt ist er ganz durcheinander. Er zerrt an der Krawatte, die Hände zittern.
»Ruhig, Bruno, ruhig. Wann bist du rausgekommen?«
»Am 27. Juli, Herr Kriminalrat.«
»Sehr schön. Und nun bist du also geflüchtet?«
»Nich freiwillich«, sagt Bruno.
»Was heißt, nicht freiwillig?«
»Heißt, wat et heißt! Ick bin sozusagen jeflüchtet worden …« Jetzt zittert der ganze Bruno. »Det is sone komplizierte Geschichte …«
»Wir werden sie aufdröseln. Laß dir bloß Zeit, Junge!«
»Zeit? Ick habe keene Zeit! Det muß schnell jehn jetzt! Wissense, wat ick hier soll?«
»Natürlich nicht. Aber du wirst es mir schon sagen. Deshalb bist du doch gekommen, nicht?«
»Seit ick loofen kann, war ick ’n anständja Einbrecha!« schreit der Bruno wieder los. »Und jetzt so wat, nee, wissense, Herr Kriminalrat, nee! Den Auftrag führ ick nich aus! Ick nich! Nie!«
»Schrei nicht, Bruno!«
»Se müssen ma helfen!«
»Will ich ja. Werde ich ja. Aber nun sage mir endlich, was für einen Auftrag du hast, Mensch!«
In Momenten starker Erregung, hervorgerufen durch Freude oder Schreck, Abscheu oder Bewunderung, spricht Bruno reines Hochdeutsch: »Ich soll jemanden entführen, Herr Kriminalrat.«
»Du sollst …« Prangel starrt sein Gegenüber an.
»Menschenraub, ja! Schmutziger, gemeiner Menschenraub! Das ist mein Auftrag!«
Danach bleibt es lange still in dem altmodischen Wohnzimmer.
Also wieder CIC, denkt Prangel. Also wieder Mr. Snowden. Sartre. Werner May. Das Ölbild. Der grausamste Feind des Menschen: Der Mensch. Ob ich die Tat noch begehen werde, die eine, die gute, die erlösende?
Prangel sagt: »Nun aber immer schön der Reihe nach, ja? Wen sollst du entführen?«
»Det isset ja, Herr Kriminalrat!« ruft der Bruno unglücklich. »Det isset ja! Ick weeß nich, wen!«