Die Mauer da hinten und all die Zahlen, an die er eben denken mußte, und all das Menschengewühl um ihn herum genügen: Dem Bruno wird schlecht.
Verändert hat sich Berlin, verändert hat sich die Welt. Nie wird er sich mehr zurechtfinden in ihr! Alles wird schiefgehen! Er ist verloren, ach!
So elend fühlt sich der Bruno auf einmal!
In der Seelower Straße entdeckt er eine kleine Kneipe. Da läuft er schnell rein. Kneipen haben immer etwas Besonderes für ihn bedeutet, etwas Wundervolles. Aber in diese Seelower-Straßen-Kneipe stürzt er ohne jede Feierlichkeit, heftig schwitzend, mit dem ollen Wintermantel und dem dämlichen Persilkarton, auf Beinen, die marmeladenweich sind. Er muß sich verpusten. Nicht zuviel auf einmal. Ist doch so weit bis zur Warschauer Straße!
»’ne Molle und ’n Korn, bitte«, sagt er, höflich schnüffelnd.
Und dann läßt er zuerst sehr vorsichtig den Schnaps durch die Kehle gluckern, zum Magenanwärmen. Bei der Hitze! Wenn er da mit Bier anfinge, hätte er sofort Dünnschiß! (Ganz verzweifelt ist der Bruno also nicht mehr. Nämlich seit er die dunkle Kneipe betreten und die feindliche Welt draußen gelassen hat.) So, und nun das Bier, das erste seit viereinhalb Jahren. Ach! Ach nein! Ach Gott! Ach, ist das eine Wonne …
Schnell bestellt Bruno noch einmal dasselbe.
Nun wird er ruhiger.
Und während er so aus dem Fenster auf die schmutzige Straße blickt, denkt er (Flucht in die Vergangenheit!) an die guten alten Zeiten vor 1960, damals, als es noch keine Mauer gab und er noch nicht saß – vor dem Ding mit der Berliner Volksbank.
Da war es in Berlin auch schon kein Honiglecken mehr gewesen. Sie riegelten bereits die Sektorengrenze ab, wollten sie zur Staatsgrenze erklären und ließen deshalb Bürger aus Westdeutschland nur noch mit Passierschein rüber.
Aber trotzdem: Es ging!
Der Bruno denkt an Frohnau, an den Friedhof Hainbuchenstraße. Da liegen nämlich die Eltern begraben. Nach seinem großen Coup, 1935, als er gerade in Penunse schwamm und Mutter noch lebte, da hat Bruno hier sofort ein Grab gekauft. Nachdem sie erfahren hatten, daß Vater gestorben war, in jener Anstalt …
Mutter gefiel der Friedhof so gut, und also kam Vater hierher, in einem plombierten Sarg, ein schönes Begräbnis war das, Bruno hatte ein Familiengrab gekauft – für Mutter und ihn gab es auch noch Platz!
Mutter bezog den ihren vier Jahre später, es war wieder ein schönes Begräbnis – gleich danach ging Bruno hoch, wegen der Zookasse. Der Kriminalrat Prangel (damals war er noch Inspektor, erst Bruno machte ihn, sozusagen, zum Kommissar) hatte ihn erwischt.
Nun wurde es lange Zeit nichts mit Friedhofsbesuchen, aber nach dem Krieg fuhr Bruno sehr oft hinaus, nicht nur zu den beiden Sterbetagen und am Totensonntag. Er schmückte das Grab, hielt es in Schuß, war eines der schönsten auf dem ganzen Friedhof! Leider kann kein Mensch in die Zukunft sehen, sonst hätte Bruno sein Geld an einer anderen Stelle des Geländes investiert. So, wie das Familiengrab lag, lief mittendurch die Grenze zwischen dem Französischen Sektor und der Zone. Der SBZ. Der DDR. Vater ruhte in Westberlin, Mutter im Osten. Wo Bruno einmal ruhen würde, war ganz ungewiß. Eigentlich sollte es neben Mutter sein, damit die zwischen ihren Männern ruhte. Aber das war dann ja noch weiter im Osten! Man sah die Grenze deutlich, zwischen den Grabreihen standen große Betonpfähle. Natürlich gab es dauernd Zwischenfälle. Westberliner, die Gräber von Angehörigen besuchen wollten und das Pech hatten, daß diese im Osten lagen, wurden oft verhaftet und erst nach ein, zwei Tagen wieder freigelassen. Einmal kam es sogar zu einer richtigen Schießerei zwischen West- und Ostpolizei. Die Beamten hatten sich hinter Gedenksteinen versteckt und ballerten aufeinander los, Kugeln pfiffen über Gräber hinweg. Dann gaben die im Osten nach, und ihre Patrouillen zogen sich hinter den Friedhof zurück. Aber bis zu diesem Tag hatte der Bruno jedesmal nasse Hände, wenn er sich über Vaters westliche Grabseite zu Mutters östlicher legte, flach auf den Bauch, um auch diese Hälfte mit Blumen zu schmücken. Zu fünfzig Prozent war er dann sozusagen jedesmal schon in die DDR eingedrungen. Aber das riskierte er! Stets pflegte er Mutters Seite mit derselben Liebe wie Vaters Seite. Ach ja …
Der Bruno seufzt.
»Noch mal dasselbe, bitte!«
Gott sei Dank hat er außer den zehn Mark des Herrn Direktor König noch fünfzig weitere. Die stammen von einem Neuen, der bei der Einlieferung nicht ganz genau gefilzt wurde. Der Neue hatte eine Menge Geld in den Bau geschmuggelt. Manchmal untersuchten sie einen eben nicht auf Hämorrhoiden.
Machon hieß der Neue, Ingenieur war er gewesen in irgendeinem VEB in Weißensee. Drei Jahre für versuchte Republikflucht mußte er abreißen. Die fünfzig Emm hatte er Bruno gegeben, damit der bei ihm zu Hause anrief. Schien da mit einer Freundin zu leben, soviel hatte Bruno herausbekommen. Und die Freundin sollte nun sehr lieb zu Machons Sohn Jürgen sein. Einen Sohn hatte er – geschieden war er. Triste Verhältnisse …
Bruno beschließt, diese unangenehme Mission noch ein paar Stunden aufzuschieben, bis ihm besser geworden ist. So kann er keinem Mut zusprechen!
»Bitte sehr, der Herr. Ihr Bierchen und der Schnaps!«
»Danke schön«, sagt Bruno. Er merkt, wie der so lange vermißte Alkohol bereits zu wirken beginnt. Junge, geht das schnell. Der billigste billige Jakob!
Ein bißchen dösig wird dem Bruno, es ist so warm, Fliegen summen an die Fensterscheibe, er sieht sie nicht, er denkt wieder daran, wie das war, damals, vor dem Knast, wie ulkig es da noch zuging in Berlin …
In Glienicke zum Beispiel, wo sein Freund Knarje einmal wohnte. Da spielte die Grenze rund um Westberlin urplötzlich verrückt. Man ließ sie aus ihrer Bahn hüpfen und zog sie neu, mitten durch Groß-Glienicke und den See. Damit der Flugplatz Gatow im Britischen Sektor lag.
Knarje, Brunos bester Freund (Oskar Knargenstein heißt er richtig, aber kein Aas nennt ihn so), also was dieser Knarje ist, der wurde 1954 ein Jahr lang eingebuchtet. Bloß Gefängnis, nicht Zet. Kleine Sache. Hatte sie ohne Bruno gedreht. War ja darum auch prompt schiefgegangen. Als Knarje das Jahr abgerissen hatte, mußte er eine Zeitlang leise treten.
Gottes gütiger Ratschluß ließ gerade da Knarjes Tante sterben. Die hatte ein kleines Siedlungshaus in Groß-Glienicke, auf der Seite, die nun zu Westberlin gehörte, denn die Grenze lief durch den See. Das Haus erbte Knarje. Machte aus der Stadt fort und spielte Kaninchenzüchter für eine Weile. Seine Nachbarn, eben noch Zonenbewohner, waren gleich ihm nun Westberliner. Aber nur halbe! Bis 1957 besaßen sie zum Beispiel kein Wahlrecht. Steuern mußten sie nach Nauen in der Zone zahlen, später sogar noch einmal an das nächste Westberliner Finanzamt, wo dann die Steuern für Nauen wieder angerechnet wurden.
Das Wasserwerk von Groß-Glienicke lag auf Westberliner Gebiet, wurde von östlicher Seite verwaltet und belieferte beide Teile des gespaltenen Dorfes. Die Westbewohner hatten ihren Wasserverbrauch allerdings in D-Mark zu entrichten, auf ein Westberliner Postscheckkonto mit Ostberliner Anschrift.
In Groß-Glienicke, wo die Grenze nicht nur mitten durch den See, sondern auch durch die Gebäude eines Gutshofes läuft, war damals der Pastor Wilhelm Stintzing tätig. Der wohnte im Pfarrhaus neben der siebenhundert Jahre alten Dorfkirche, in der sich die Gruft eines Herrn befand, den das Gedicht eines anderen Herrn bekannt gemacht hat. Der in der Gruft lag, glaubt sich Bruno zu erinnern, hieß von Ribbeck. Der Herr, der das Gedicht schrieb, hieß Fontane, das weiß Bruno sicher. Er hat das Gedicht im Knast gelesen. Alle Sachen von diesem Fontane.
Ja, also Pastor Stintzing: Der betreute auch Menschen am anderen Seeufer, auf Westberliner Gebiet. Zweimal wöchentlich radelte er bei Regen, Sonne, Schnee und Wind einen zwanzig Kilometer langen Umweg, damit er in der neuerbauten kleinen Strohdachkirche im westlichen Glienicke sein heiliges Amt ausüben konnte. Knarje war ein frommer Mensch. Der ging zu jedem Gottesdienst. Er besaß eine so schöne Stimme, der Knarje. Einmal hatte er Bruno an einem Sonntag rumgekriegt, mit in die Kirche zu gehen, als der gerade zu Besuch war. Ach, wie ergreifend hatte Knarje, Brunos alter Kompagnon, da gesungen: »Ein’ feste Burg ist unser Gott!«
Was ist aus Knarje geworden?
Plötzlich hat der Bruno wieder Angst.
Angst vor dieser ›Freiheit‹, vor diesem ›Neuen Leben‹!
Wie soll denn das nun werden? Immer mehr Ängste plagen ihn jetzt, natürlich auch die, die er seit Jahren hat: Was wird mit Mädchen sein? Wird es überhaupt noch gehen? Ihm ist so bange.
Er trinkt.
Der ›Erste-Tag-Koller‹. Haben sie ihm vorhergesagt im Bau …
Nicht an Mädchen denken. Lieber noch einmal an damals, an die Zeit vor der Mauer. Bruno kam viel herum in Berlin, nun erinnert er sich an vieles, der Alkohol hilft ihm beim Erinnern, sanft und verschwommen gleiten Bilder vorüber …
Wie eine Kinderfaust ragte die winzige Ortschaft Eiskeller am nordwestlichen Zipfel Berlins in die Zone hinein. Da kannte Bruno einen Bauern, der versteckte oft frische Sore für ihn, bis sie nicht mehr heiß war. Telefon, Licht oder fließendes Wasser gab es nicht da oben. Britische Soldaten und Westberliner Zöllner fuhren mehrmals am Tag durch Eiskeller, um nach dem Rechten zu sehen. Darum hatte Bruno den Platz als Versteck gewählt. Nirgends ist man sicherer als in der Höhle des Löwen. Weiß jeder Säugling. Und die Sore wurde so wenigstens nicht geklaut, sie war gut bewacht.
Zwei kleine Mädchen hatte der Bauer. Wenn die morgens zur Schule nach Spandau gingen – ein weiter Weg –, dann passierten sie stets das Spalier der Vopos zu beiden Seiten ihres schmalen Pfades. Kannten sich gut, die Vopos und die kleinen Mädchen …
Und die Bouchéstraße in Neukölln! An der Ecke Harzer Straße stand eine Riesentafel, weiß der Bruno noch:
Achtung! Beide Bürgersteige und die Fahrbahn gehören zum Sowjetsektor! Vorgärten und Häuser der rechten Straßenseite gehören zum Westsektor!
Da hat Bruno sich mal verlaufen, ordentlich besoffen, zusammen mit seiner großen Liebe, der Nelly. Die war genauso blau wie er. Sie hatten sich einen schönen Tag gemacht, aber die Tafel übersehen. Und Vopos nahmen sie hopp, sperrten sie ein, die Nacht lang, in eine Zelle.
In eine Zelle! Ach, war das eine Nacht …
Der Bruno grinst verloren, dann zittert seine Unterlippe plötzlich, er schwitzt und hat so schreckliche Angst, weil er an Nelly gedacht hat, an ein Mädchen eben, daran eben …
Ach, Nelly!
Wo ist der Schnee vom vergangenen Jahr?
Aber andere Mädchen gibt es, so viele!
Und wird Bruno je wieder … darf Bruno je wieder …? Viereinhalb Jahre Knast … da passiert jedem mal was, und wenn er noch so normal ist!
Ach, noch eine letzte Lage, bevor er sich auf den Weg macht! Ihm ist so flau. Und das soll der in der Warschauer Straße doch nicht merken, das darf der doch nicht merken, dieser Dingsda, wie heißt er gleich, dieser Fürsorger Bräsig.