Der Bruno kommt herein, und natürlich merkt Bräsig gleich, daß der Mann einen sitzen hat. Nicht richtig besoffen, bewahre, nur so ein bißchen betütert.
Der Bruno weiß selber, daß er duhn ist. Früher, da konnte er saufen wie ein Loch, und keiner merkte was! Aber die viereinhalb Jahre, die er da eben runtergerissen hat, die haben ihn ganz entwöhnt. Wenn das bei den Mädchen nun auch so ist – achgottachgott, nicht schon wieder!
Dazu natürlich die Hitze. Viel zu warm angezogen ist er, der Persilkarton wiegt seine zehn Pfund, und der verfluchte Wintermantel ist auch nicht aus Papier. Er hat ihn im Vorzimmer an einen Haken gehängt und den Karton drunter gestellt, und jetzt duftet er kräftig nach Bier und Schnaps und Schweiß. Dieser junge Mann draußen hat gleich die Fenster aufgerissen – das hat den Bruno gekränkt! Ihm wird überhaupt immer weinerlicher zumute, seit er aus dem Knast raus ist. Fast denkt er: Wär’ ich bloß drin geblieben! Das ist natürlich blöde.
Aber in irgendein stilles Pensionszimmer würde er sich wohl gern verkriechen, die Tür versperren, warten, bis es dunkel wird. Dann sehen die Menschen einen nicht so genau, Bruno würde sich sicherer fühlen, wenn er zu den Mädchen ginge.
Schon wieder!
Er könnte ja nicht mal, wenn er wollte!
Die haben doch sein Geld an die Wohle geschickt! Diese schwer errackerten 853 Mark und 50 Pfennig, für die er viereinhalb Jahre lang in der Küche geschuftet und den Kumpels den Fraß gebracht und die großen Essenbehälter gewienert hat. Dies Geld will er wiederhaben! Aber da muß er hier höflich sein.
Also reißt er die Hacken zusammen und ruft stramm: »Entlassener Strafjefangener Bruno Knolle meldet sich zur Stelle, Herr Fürsorjer!« Bräsig kommt um den Schreibtisch herum und gibt dem Bruno die Hand. Ganz leger und sehr herzlich tut er das.
Armer Kerl. Kaum raus aus dem Bau und schon …! Der Kommissar muß eine jähe, heiße Wutwelle in sich niederkämpfen. Armer, armer Kerl! Sieht so nett aus. Wie alle Menschen, denkt auch Bräsig sofort an einen Seehund, wenn er Bruno ansieht. Diese gutmütigen (jetzt ein wenig schwimmenden und geröteten) Äuglein, das vorgezogene Gesicht, das in der Schnuffelnase ausläuft und dann beim Kinn zurückweicht, wirklich, ein Seehund. Tapsig und freundlich.
Stinkt wie ein Wiedehopf! Aber der Kommissar reißt nicht die Fenster auf wie dieser Fatzke, der Neider, nein, er offeriert Zigarren, während er sagt: »Lassen Sie doch den Unfug, Herr Knolle! Und setzen Sie sich.« Er drückt Bruno auf einen Sessel vor dem Schreibtisch, hübsch nahe bei der Tischlampe, und er gibt ihm Feuer für die Zigarre und zündet die eigene an, und das alles geht so schnell, daß der Kollege Kornmann hinter dem Zauberspiegel im Zimmer nebenan bewundernd den Kopf wiegt. Der hat eben doch mächtig was auf dem Kasten, der alte Bräsig!
Der alte Bräsig meint: »Ordentliches Kraut, wie, Herr Knolle?«
Dem Bruno wird ganz anders. ›Herr Knolle!‹ Viereinhalb Jahre lang hat das nur ›Knolle!‹ geheißen, ›Doofe Sau!‹, ›Scheißkerl!‹, ›Mistvieh!‹, ›Schleimscheißer!‹ ›Arschkriecher!‹ Und jetzt: ›Ordentliches Kraut, wie, Herr Knolle?!‹
»Sehr ordentlich, Herr Fürsorjer – Hr! Hrhrhrrr! – ja wirklich, Herr Fürsorjer!«
»Hören Sie doch mit dem ewigen Fürsorger auf, Mensch! Sagen Sie Bräsig zu mir!« (Noch ein bißchen mehr Zigarrenqualm, und man kann den Gestank aushalten und muß den armen Kerl nicht beleidigen.) »Entspannen Sie sich ein wenig! Die Temperatur draußen … der weite Weg … und die Aufregung, nicht? Kenne ich doch, kann ich mir vorstellen. Locker werden, Herr Knolle, ganz locker!« (Sonst geht nachher die Nadel so schwer rein.)
Das ist ja ein dufter Opa, denkt der Bruno, da habe ich Schwein gehabt! Der läßt mit sich gewiß über die Penunse reden. Vielleicht gibt er mir alles. Und dann? Was mache ich dann? Ausbaldowern die Lage zuerst, ich weiß ja überhaupt nicht mehr Bescheid. Freunde muß ich besuchen. Mit ihnen reden. Keine schiefen Sachen mehr, bei Gott nicht! Ja, aber was sonst? Ich komme mir so beschissen hilflos vor. Was sonst? Was sonst? Keine Ahnung. Wenn ich das Geld erst habe, fällt mir bestimmt was ein. Erst das Geld also!
»Sie sind ’n freundlicher Mensch, Herr Fürsor … Herr Bräsig!«
»Die Leute, die zu mir kommen, haben Schweres hinter sich. Was soll ich da anders sein als freundlich? Ein gutes Wort, das Gefühl der Menschenwürde wieder vermitteln, Selbstbewußtsein, Selbstvertrauen: Das ist mein Job. Sonst gar nichts!«
»Ach, wie Sie so reden, Herr Bräsig! Viereinhalb Jahre hat keiner so geredet mit mir!«
Bräsig geht zum Schreibtisch, setzt sich, greift nach der Mappe.
»Die wollen wir nun möglichst schnell vergessen, diese viereinhalb Jahre. Ich helfe Ihnen schon beim Vergessen!« Er schlägt die Mappe auf. »Also, Sie heißen Bruno Knolle. Geboren 22. Mai 1915 in Berlin. Evangelisch. Ledig. Beruf: Kellner. Strafregisterauszug …«
Bräsig pfeift langgezogen. »Donnerwetter, Herr Knolle!«
Bruno schämt sich. »Nich doch, Herr Bräsig!«
»Ich wollte Sie nicht veräppeln!«
»Herr Bräsig, glaubense mir, det war allet Schicksal, hartet Schicksal! Nu bin ick neunundvürzich, und wenn ick hier und jetzt tot umfalle und komme in’ Himmel und muß sagen, wat ick jemacht habe uff Erden, und sage jeknackt und jesessen und jeknackt und jesessen – nee, Herr Bräsig, nee, da wäre der Liebe Jott schön saua uff mir. Und mit Recht! Für so wat schenkt er einen nich det Leben, für so wat nich!«
Der Satz bedrückt den Bräsig. Er sagt, etwas heiser: »Neunundvierzig, das ist doch kein Alter! Herr Knolle, nun geht es erst richtig los! Wie fanden Sie’s denn draußen – auf dem Herweg, meine ich?«
»Ach, scheen, Herr Bräsig«, lügt der Bruno seelenvoll, »nur noch so unjewohnt. Die vielen Autos und Menschen. Ick bin furchtbar unsicha in Verkehr.« Es ist seine Zwangsidee: »Uff de Straße, meine ick – an det andere wage ick jarnich zu denken!«
»Na, na! Herr Knolle! Ein kräftiger Mann in den besten Jahren! Was glauben Sie, wie das flutschen wird! Mensch, was sich bei Ihnen aufgespeichert hat! Ich bin vierundsechzig. Ich hätte Grund, traurig zu sein! Für mich hätte es wirklich keinen Sinn, in die Gotlindestraße zu gehen.«
»Gotlindestraße?«
Der Kommissar grient. »Ist natürlich verboten! Wenn Sie mich verpfeifen, kriege ich Ärger.«
»Ick hab in die janzen Jahre nie Lampen jemacht, Herr Bräsig! Ick habe nie eenen vapfiffen. Also da sind Bienen, in de Gotlindestraße?«
»Auf 131, ja. Nun wissen Sie wenigstens, wo Sie nachher abladen können.«
»Det is sehr liebenswürdig von Ihnen, Herr Bräsig!« Der Bruno muß lachen. »Ooch noch Gotlindestraße! Janz in de Nähe bin ick jeboren! Siegfriedstraße 204! Zweeta Hof, Parterre. Scheen war et nich, aber wenigstens Wanzen hatten wa keene. Zu feucht, vastehnse?« Bräsig denkt: Der Kornmann linst durch den Spiegel. Die Marie hat immer noch nicht angerufen. Sicher schiefgegangen mit dem Häuschen. Bräsig fühlt auf einmal schreckliches Mitleid mit sich selbst. Er ist genauso ein armes Schwein wie dieser Knolle. Er kann ihm nicht helfen. Keiner kann keinem helfen.
An die Arbeit, Bräsig!
Der Bubi da hinter dem Spiegel soll jetzt mal sehen, wie ein anständiger Kriminalist so etwas macht nach der guten alten Schule. Vertrauen muß der Knolle gewinnen! Quatschen muß man ihn lassen, bis er ganz beruhigt ist. So haben wir es früher immer gehalten, am Alex. Nicht quälen oder ängstigen. Nein, so als wären wir selber Ganoven. Je besser man sich in den anderen hineindenken kann, um so weiter kommt man. Es besteht kein Unterschied zwischen der Methode Prangel und der Methode Bräsig. Die gute alte Schule eben!
»Ich lese da, daß Sie zwei Brüder haben, Herr Knolle.«
»Hatten! Beide jefallen. Aujust und Kalle.«
»Wann gefallen?« (Wird schon warm der Junge, erzählt schon. Funktioniert immer. Merk dir das, Kornmann, hinter dem Spiegel, kannst was lernen, Widerling!)
»In Frankreich, 1917. Für Kaisa un Vataland. Ick bin ’n Spätling. War zu jung für’n ersten Weltkrieg, mir hamse erst bein zweeten nehmen können.« Der Bruno kommt mächtig in Fahrt. »Diese Jemeinheit, Herr Bräsig! Mein Vata, sehnse, det war so’n juta Mensch! Malermeesta. Hat sich ruffjearbeit. 1917 ham wa schon übasiedeln könn, nach’t Hallesche Ufa! Vata hatte ’n richtijen Laden! Jing uns jut, Möbel ham wa gekooft, mit Essen war janischt mehr in Deutschland, aber ’n bißcken Jeld ham wa beiseite jeleecht, so wie die Ideen Leute imma, wenn se glooben, se ham’t jeschafft, und in Wirklichkeit sind se schon anjeschissen! Denn kaum warn wa an’t Hallesche Ufer, da riefense Aujusten und Kalle. Aba die jingen nich! Sie töten keene Menschen, hamse jesacht. Sehnse, det macht die Erziehung!«
»Wieso die Erziehung?« fragt Bräsig. Er beginnt, Sympathie für diesen Knolle zu empfinden, und das geht natürlich nicht. Darum macht sich der Kommissar an der Schreibtischlade zu schaffen, in der die Spritze liegt. Kornmann beobachtet alles. Scheißkornmann! Wenn man einmal mutig wäre und den Krempel hinschmisse! Wenn man einmal aufhörte, feige zu sein! Himmelherrgott! Ja, aber Marie? Die ist dann doch ganz verloren, wenn sie mich einlochen. Die Spritze. Ich halte sie ein wenig in der Hand. Kornmann sieht es …
Inzwischen hat der Bruno geantwortet: »Na, mein 0lla, der war doch Sozialdemokrat! Und überzeugta Pazifist. Und so hatta uns erzogen. Bitte! 1917, da sind se jekomm, die Hunde, Bajonett uffjeflanzt, und hamse abjeführt, meine Brüda. Alle haben’t jesehn! Und wenn Mutta nu einholen jing, denn ham die Weiba vor ihr ausjespuckt und jerufen: ›Rote Sau!‹ Det hat Mutta sich so zu Herzen jenomm. Rot jing ja noch – aber Sau! Wose doch immer so uff ihre Anständichkeit jehalten hat …« Der Bruno entgleist, er kann seine Gedanken nicht zusammenhalten, sie wandern, sie wandern. »Mein Jeld, Herr Bräsig! 853,50! Könnte ick nich vielleicht doch allet uff einmal kriejen? Ick hab bloß die ollen Sachen, ick muß mir neu einpuppen, und die Meechens …«
»Nee, Herr Knolle, nee. Eines nach dem anderen. Wir reden schon noch über Ihr Geld, keine Angst! Aber ich muß noch ein bißchen mehr von Ihnen erfahren, um mir ein Bild machen zu können, um zu wissen, wie Ihnen am besten zu helfen ist! Also, das war natürlich eine schlimme Zeit für Sie alle …«
»Wurde noch schlimma, Herr Bräsig!« Der Bruno pafft erregt. »Vatas Jeschäft hamse boykottiert, keen Aas ließ mehr streichen, det Jeld jing weg wie nischt …« Es ist Bräsigs Freundlichkeit, die sanfte Besoffenheit, die Kühle im Raum, die Bruno, der sonst einer von den Stillen ist, dermaßen aus sich herausgehen läßt. »Meine Brüder hamse so jepiesackt in de Kaserne, bis se sich doch ham an die Front schicken lassen. Aujust is gleich in de erste Woche krepiert. Bei Kalle hat’s länga gedauat. Zwee Monate. Und im Sommer 1918, allet war längst im Eima, da hamse doch wahrhaftig noch Vatan jeholt! Der war da schon ’n jebrochna Mann. Jeschäft vakooft. Schulden. Vaschüttet issa jewordn. Oktoba 1918. Denkense mal: Oktoba 18! Een Monat späta sind se denn jetürmt, unsa jeliebta Kaisa und sein tapfra Sohn!«
»Ihr Vater ist also auch gefallen?«
Der Bruno knirscht mit den Zähnen. Er hat jetzt einen feuerroten Kopf. »Wär’ er man! Nee, zurückjekomm issa! Een Zittera! So eena!« Und er macht einen Zitterer nach, der Bruno, er schlenkert wie eine Puppe mit allen Gliedern, und dabei bebt seine Unterlippe, und die Lider klappen auf und zu, es sieht scheußlich aus. »Konnte nich mehr reden, nich mehr essen, det andre ooch nich. Zwee Röhrchen hamse rinjesteckt in ihn. Und einjesperrt in ’ne Anstalt in de Mark. Da hatta noch drin jelebt, siebzehn Jahre! Wenn Mutta ihn besucht hat, wollte er ihr jedesmal erwürjen. Aber Kaisachen saß ja in Holland, und Kronprinzen ooch. Und hatten zu fressen, und warn jesund, und wir hatten den Kriech wegen den Dolchstoß valoren! Als ick det jehört habe, det mit den Dolchstoß, da war ick achte, aba helle, Herr Bräsig! Mächtich helle! Und ick hab ’n Haß jekricht, ’n furchtbaren Haß! Imma hab ick mir jesagt, ick muß se rächen, Vatan, Aujusten, Kalle, unsan schön Laden. Imma hab ick jedacht: Der Kaisa is schuld, und die Scheißjeneräle! Richtig jedröhnt hat det in mein Schädel!«
Bräsig wirft einen Blick zum Spiegel, als wollte er sagen: Na, das dürfte dir doch gefallen, Kornmann – oder?