Tja, Kornmann …
Natürlich gefällt ihm, was er da hört, in seinem Büro, neben dem Lautsprecher stehend, vor dem von seiner Seite durchsichtigen Spiegel.
Bräsig hat seine guten Gründe für das, was er tut, Prangel hat sie, Mittenzwey hat sie, alle haben sie Gründe – Kornmann nicht? Ist das wirklich bloß so einer, der jagen und foltern will aus Spaß und Perversion?
Ach nein, auch Ernst Kornmann hat natürlich Gründe …
Das ist ja das Schlimme, daß wir alle, alle von uns, Gründe haben, gute Gründe für das, was wir tun!
Kornmanns Eltern waren Kommunisten. Beide kamen schon 1935 ins KZ. Den Jungen steckten die Nazis in ein Zwangserziehungsheim. Da kniff er aus, als er vierzehn war. Lebte versteckt und illegal, ohne Papiere, ohne Schutz. Fand eine kommunistische Widerstandsgruppe. Wurde Kurier, schmierte Hauswände, U-Bahnhöfe, S-Bahnhöfe und das Pflaster voll mit Anti-Hitler-Parolen. Natürlich erwischte ihn die Gestapo. 1944 kam er in ein KZ. Die Russen befreiten ihn – im letzten Moment. Kornmann war schon halb hinüber. Lag ein Jahr im Krankenhaus.
Erfuhr, daß sie tot waren, Vater, Mutter, die ganze Verwandtschaft, alle Freunde und Genossen der Gruppe. Tot. Tot. Tot. Da wuchs der Haß in Ernst Kornmann, und er wuchs weiter, als er sah, wie die Töter drüben im Westen wieder auftauchten als Politiker, Richter, Staatsanwälte, Publizisten. Die Amerikaner unterstützten das, fütterten die Brut fett und rund, damit alles noch einmal kommen konnte, alles noch einmal!
SS-Verbände wurden nicht verboten, die durften ihre Treffen veranstalten, die hatten ihre eigene Zeitung, die durften alles! Die KP, die wurde verboten. Und ihre Funktionäre gingen ins Gefängnis. Und alles kam wirklich wieder, alles kam wieder! Dem Ernst Kornmann ist es in diesem Sommer 1964 so, als wäre es Sommer 1932. Er hat eine Frau. Kinder hat er keine. Sie trauen sich nicht, seine Frau und er.
Warum ging er zum SSD?
Aus Begeisterung?
Aus Angst!
Aus Angst davor, daß die Faschisten wieder an die totale Macht gelangen, daß er und seine Frau genauso im KZ verrecken, wie Vater und Mutter verreckt sind. Deshalb ist er ein Zweihundertprozentiger, wie sie ihn nennen, er weiß das. Es macht ihm nichts, wie sie ihn nennen, was sie von ihm denken. Alle können ihn gern haben. Er pfeift auf ihre Meinung. Auch auf die von dem alten, feigen Bräsig, den man braucht, leider. Leider, weil man Spezialisten eben immer braucht. Aber auch was der von ihm denkt, ist Kornmann egal! Das einzige Wichtige: Die Faschistenbrut da drüben darf nicht noch einmal über ganz Deutschland kommen! Sie darf nicht! Sie darf nicht!
Um dieses Ärgste zu verhindern, ist Kornmann bereit, alles zu tun! Alles, jawohl! Er ist viel zu intelligent, um sich nicht zu sagen, daß die Methoden des SSD kaum feiner sind als die der Nazis. (Von Gaskammern und dergleichen abgesehen – das hat bisher den Braunen keiner nachgemacht!) Er ist auch zu intelligent, um nicht zu sehen, daß in der DDR Unrecht, schreiendes Unrecht geschieht. Egal! Egal! Dieser Mann hat Scheuklappen. Alles, was er sieht, sind die Faschisten. Ihnen gilt sein ganzer, maßloser Haß. Tröstung: Brecht, der schrieb: ›Ach, wir, die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit, durften nicht freundlich sein …‹
Ja, so einer ist der Ernst Kornmann, der durch den Spiegel schaut und hört, was nebenan vorgeht.
Welche sind, die haben eine böse Saat gesät, einmal, vor langer Zeit. Wer waren die? Wann war das? Niemand weiß es. Aber sie geht immer wieder auf, die Saat, und sie macht den Menschen zu des Menschen Wolf.
Kornmann sieht Bräsig und Knolle, er hört ihre Stimmen aus dem Lautsprecher …
»… der Kaisa! Der Kaisa!« ruft der Bruno gerade erregt. »Einen solchen Über-Rochus hab ick jekricht auf den, det ick et überall azählt habe, wie ick den hasse! Und da sind denn so’n paar Kerle jekommen, die ham jesagt, jeh doch mit, und da bin ick mitjejangn. War man jerade erst zwee Jahre in de Schule, als wir den Einbruch jemacht ham bei ihm.«
»Beim Kaiser?«
»Sage ick doch!«
Der Bräsig fängt an zu lachen. Na ja, denkt Kornmann, der ihn betrachtet. Ist ja auch zum Lachen. Nur: Ich konnte nie lachen in meinem Leben. Über nichts.
»Tatsächlich!« kommt Bräsigs Stimme aus dem Lautsprecher, während Kornmann sieht, wie er liest. »Im Hohenzollernmuseum wart ihr! Das war ja nun zwar nicht gerade direkt beim Kaiser, aber immerhin …«
Und Brunos Stimme: »Rinjejangn sind bloß die Kerle. Ick stand nur Schmiere. Aba wat ham wa da rausjeholt, Herr Bräsig! Jold! Un Silba! Un nochma Jold! Ick hatte det janze Vatrauen von die Kerle – wejen mein Haß. Vastehnse?«
»Klar. Aber gefaßt seid ihr worden, lese ich da.«
»Eena hat jequatscht, im Suff. Hamse uns alle hochjenommen. Die Kerle krichten Zet, mir hamse in Jugendzwangserziehung jejeben, in ein Heim.«
»Bis zum fünfzehnten Lebensjahr«, liest Bräsig nebenan in der Akte.
»Ja. Se hatten mir an een Budika vamittelt, damit ick ’n Beruf lerne. Kellna! Ick fing janz unten an. Mit achtzehn hatte ick allet jelernt, wat et zu lernen jab! Ick war ’n prima Kellna.«
»Warum sind Sie es nicht geblieben?«
»Ach, Herr Bräsig! Sie wissen doch: Eine Weile jeht’s jut, denn fängt det Jeflüsta an: Der hat jesessen, der war im Knast, in Jugendhaft, in Zwangserziehung! Mein ersta Kneipjeh, der hat mir trotzdem jehalten, lange! Zuletzt konnte er nicht mehr. Die Jäste blieben ihm meinetwegen weg. Da mußte er mir kündijen. Und so kam der neechste. Und der neechste. Und ’n Restaurang. Und ne Kneipe. Und noch ’n Restaurang. Und immer mußte ick wieda weg. Nich wegen schlechte Arbeit. Eben weil et sich rumsprach. Ach, det ham Sie sicha schon hundertmal jehört, die Leia!«
»Tausendmal!« sagt Bräsig, spielt unter dem Schreibtisch mit der Spritze und sieht in die Mappe. »Sie wurden also dauernd rückfällig. 1934. 1936. 1937. Immer Einbruch?«
»Nur! Niemals Jewalt!« ruft Bruno stolz.
»1940 hat man Sie dann zum Tode verurteilt.«
»Ja, wejen de Zookasse!« Bruno strahlt auf. »Det war mein jrößtet Ding! Ick meine: Die Volksbank hier war ooch nich schlecht, aber et steckte nich so viel Ehrjeiz dahinta, sie ham mir ja ooch schnell erwischt. Die Zookasse, die war mein Meestastück! Fümf Jahre, von 34 bis 39, hat der Kommissar Prangel jebraucht, bis er mir schnappn und übaführn konnte.«
Als der Bruno ›Prangel‹ sagte, ist der Kommissar zusammengezuckt. Bruno hat es nicht gemerkt.
Prangel! denkt Bräsig, und auf einmal schämt er sich so für sich und dafür, daß er hier sitzt, mit der Spritze in der Hand, wie er sich noch nie geschämt hat im Leben.
Berthold Prangel!
Oft hatten sie zusammengearbeitet. Damals durfte Bräsig noch seinen richtigen Namen verwenden bei der Arbeit: Wilhelm Herterich. Unter diesem Namen kannte ihn Prangel – würde ihn auch heute noch so ansprechen, wenn er ihm begegnete. Wilhelm Bräsig – davon weiß Prangel natürlich nichts, kann er nicht wissen. Gott sei Dank. Der würde ja ausspeien vor ihm!
Sie waren beide Spezialisten. Damit hatten sie im Dritten Reich ihre Ruhe. Man ließ sie zufrieden. Die Partei quatschte ihnen nicht rein, sie mußten keine Mitglieder werden. Vor einer Versetzung zur Gestapo drückte auch Prangel sich immer wieder. Beide hatten sie Glück, es gelang ihnen bis zuletzt, nur saubere, unpolitische Kripo- Arbeit zu leisten. Anderen gelang das nicht so …
Prangel – ach Gott! Jünger war er als ich. Dürfte jetzt so fünfundfünfzig sein. Wenn er …
»Lebt …«, beginnt Bräsig und bricht jäh ab.
Verflucht! Ich muß aufpassen.
Er sagt schnell: »Kommissar Pranget, ja, hier steht es. Haben Sie den je wieder gesehen …« – vorsichtig – »… nach dem Krieg?«
»Oft, Herr Bräsig!« Der Bruno ahnt nicht, was er mit seinen Worten anrichtet. »Wenn der nich in de letzten vier Jahre abjenippelt is, arbeitet er wohl immer noch feste. Seine Frau, die Arme, die is ja jestorben, 1953. Oder 1952. Ick weeß et nich ufft Jahr.«
»Ge …« Wieder beherrscht Bräsig sich im letzten Moment. Die Anna ist gestorben? Vor so langer Zeit schon! Den Knolle da, den darf er nicht weiter fragen. Armer Prangel! War eine glückliche Ehe – wie die seine.
Oft haben Prangels Herterichs eingeladen, als die Marie noch besser sehen konnte.
Und Prangels waren bei Herterichs zu Gast. Die Frauen verstanden sich gut. Die Abende, an denen er mit Prangel kegeln ging! Die Ausflüge an den Wannsee! Die Baumblüte in Werder! Da sah Marie schon sehr schlecht, aber Anna Prangel erzählte ihr alles; wie die Blüten aussahen, und welche Farben sie hatten, und Zweige pflückte Anna, damit Marie die Blüten betasten und mitnehmen konnte nach Hause …
Der Krieg ging zu Ende.
Prangel verdrückte sich beizeiten und lebte ein paar Wochen im Untergrund, mich haben sie ganz zuletzt noch zum Volkssturm gesteckt, rausgejagt. Am dritten Tag schon haben mich die Russen gekascht. Als ich heimkam, war es Anfang 1948. Namensverwechslung mit einem anderen Wilhelm Herterich, der etwas ausgefressen hatte. Bis die Verwechslung geklärt war, saß ich im Lager bei Odessa. Alle entschuldigten sich zuletzt sehr, ich wurde sogar mit einem Eisenbahnzug, reserviert für Offiziere der Roten Armee, zurückgeschickt.
Arme Marie! Sie ging fast ein in dieser Zeit, als ich fort war. Zuerst hatten immer noch Prangels nach ihr gesehen, aber dann, Ende 1946, kamen sie nicht mehr. Na ja, da fing ja auch schon die Spannung an, das Mißtrauen, der Kalte Krieg.
Ich wurde gleich wieder eingestellt bei der Kripo – im Osten! Und 1948 war es schon soweit, daß sie mich zwangen, meinem Freund Prangel auf dem Dienstweg mitzuteilen, ich hätte als Angestellter des Staates Weisung, jeden privaten Kontakt mit Staatsbeamten im Westen abzubrechen. Gleich danach ging die Blockade los. Nie wieder habe ich etwas von meinem Freund Prangel gehört …
Oft sagt Marie noch: »Es ist so schade, Wilhelm. Ich bin sehr traurig.«
»Aber du darfst nicht traurig sein! Ich bin doch bei dir!« rufe ich dann immer. »Wir zwei sind zusammen! Und wir werden es immer bleiben! Uns können sie nicht spalten! Nie! Ich tu alles, was sie wollen, Marie, alles!«
Na ja, denkt Wilhelm Bräsig nun voll Bitterkeit, und, wahrhaftig, das tue ich!
Alles!
Pfui Teufel!
Bräsig, wie Herterich jetzt also heißt, reißt sich zusammen. Er versteckt die Injektionsspritze so in der Hand, daß nur die Nadel frei ist, steht auf, hält die Hand auf dem Rücken, tritt vor den Schreibtisch und wiederholt: »1940 zum Tod verurteilt …«
»Ja, von Rüben-Mülla. Den berühmten Landjerichtsdirekter, Sie erinnan sich jewiß. Bei den war imma jleich die Rübe ab – kch! Nach ’n Krieg issa in Westen jemacht. Im Zet hamse azählt, er is heute wieda bei’t Jericht. Kann natürlich ’ne Scheißhausparole sein. Entschuldigense det harte Wort. War besonders wild uff Politische, der Rüben-Mülla. Mir hat er janz lustlos verurteilt. Zookasse – wat war det schon für so een’! Se ham et denn ja ooch nich so eilich jehabt mit de Hinrichtung und nischt dajejen, det ick begnadigt worden bin zu Frontbewährung in ’ne Strafkompanie.«
»Sie haben fünf Jahre Strafkompanie überlebt?«
»I wo! Zum Jlück fing der Krieg mit Rußland an. Warten werde ick, bisse mir abknalln! Im Dezember 41 war ick schon in sowjetische Jefangenschaft. Weil ick mir jleich rübajerettet habe un noch ’n Dutzend Kumpel mitjebracht, durfte ich 47 nach Hause. Kam ick zurück aus Karaganda. Weita Weg bis in de Chimanistraße!«
»Chimanistraße?« Bräsig tritt näher an Bruno heran.
»Da hab ick Nellyn kennenjelernt. Meine jroße Liebe! Herrje, heute is det schon allet wie im Märchen. Aber damals, Herr Bräsig, 47, da hättense mir sehn solln! Richtich stattlich war ick da noch! Und meine Nelly, det war die tollste Biene uff den neuen Strich. Die konnte verlangen, wat se wollte! Wie wahnsinnig warn die Kerle nach die! R-Mark-Zeit! Jeld hat Nelly natürlich nie jenomm! Bloß Fressen, Zigaretten, Schnaps! Jelebt ham wa wie Jott in Frankreich.« Der Bruno lächelt trübe. »Ja, det war Nelly. Die is nu ooch schon ihre fümf Jahre in Westen. Düsseldorf. Der Ruf der Industrie!«
Nun steht Bräsig halbwegs hinter Bruno, Oberschenkel, denkt er. Flach die Hand, ausholen, und jetzt …
Und jetzt dreht sich der Bruno um, denn er ist ein höflicher Mensch und weiß, man muß die Leute ansehen, wenn man zu ihnen spricht. Der Kommissar kann die Hand mit der Spritze gerade noch hinter den Rücken bringen, und während er ›verflucht!‹ denkt, sagt er freundlich: »Was haben Sie denn damals gemacht?«
»Kellneriert ha ’ck«, antwortet der Bruno ebenso freundlich. Er hat nicht das geringste gemerkt. »In eene Kindl-Stube.«
»Nanu!«
»Herr Bräsig, bedenkense mal! 47, da jab et doch noch nischt zu klaun! Meine janzen Freunde warn damals außerberuflich tätig.«
»Hatten Sie viele?« Das ist wichtig, das muß der Kommissar wissen – für später.
»Kann man wohl sagen! Viele sind ja jefalln oder warn vermißt. Aber immer noch jenuch übrich! Bei de Blockade, da konnten wa wieda anfangen. Hauptsächlich in Villen. Alle drei Minuten so ’n Rosinenbomba von de Amis über de Köppe, Tag und Nacht! Damals hat jeda injebrochen, wat bloß für ’n Jroschen Jrütze in Kopp hatte! Se kOnnten doch nischt hörn bei den Lärm!«
Bräsig geht um Bruno herum. Versuchen wir es mal von der anderen Seite. Aber gerade, als er wieder ausholen will, dreht der Bruno sich wieder um, und es ist wieder nichts. Himmelherrgott!
»Wat machense denn da dauernd hinta mir, Herr Bräsig? Is da wat? Beim Rausjehn aus ’n Knast hat mir nämlich der an’t Tor dreimal anjespuckt. Symbolisch. Der hat mir doch nich etwa ’ne Auster ruffjerotzt?«
»Da ist so ein kleiner, feuchter Fleck«, lügt Bräsig.
»Und det finden nu manche Leute komisch, Herr Bräsig!« regt Bruno sich auf.
Der Kommissar kann sich nicht helfen, er findet es bereits komisch, daß es ihm nicht gelingt, dem Bruno die Nadel reinzurennen. Er grinst einmal in Richtung Spiegel. Aber dieser Kornmann, das ist ja ein Vieh, der grinst nie, der lacht nie!
Bräsig seufzt, tritt vor Bruno, mit der Hand natürlich wieder auf dem Rücken, und nickt: »Tja, Herr Knolle, und dann war diese wunderbare Blockade-Zeit vorüber, Sie waren wieder im Milieu, und Sie haben weiter geknackt und weiter geknackt, bis Sie bei der Volksbank hochgegangen sind. Und nun sitzen Sie da. Mit einem Guthaben von 853 Mark und 50 Pfennig. Und sonst nichts.«
»Und sonst nischt«, wiederholt Bruno beklommen. »Wat soll werden mit mir? Wieda anfangen als Kellna? So ’n ollen Knastbruda nimmt doch keena! Uff meine Abmeldung steht ooch noch druff: Letzta Wohnort: Zuchthaus Brandenburg. Det is ’ne Empfehlung, wat! Da krieje ick nich mal ’n Zimma, wenn det ’ne Wirtin sieht! Ick bin nich umsonst so deprimiert.«
»Na, na, na«, sagt Bräsig, »nun weinen Sie nicht gleich, Herr Knolle. Das mit dem Meldezettel, das kriegen wir schon hin.« (Hör gut zu, Kornmann, Mistvieh, wie elegant ich zur Sache komme.) »Herr Direktor König hat mir erzählt, daß Sie im Zuchthaus immer von einer eigenen Kneipe phantasiert haben.«
»Von meine eijene Kneipe«, murmelt Bruno leise und verloren. »Ja, da hab ick wohl oft phantasiert von, Herr Bräsig.« Und nun, wie stets, wenn ihn etwas besonders erregt oder ergreift, kann er fast einwandfreies Hochdeutsch sprechen: »Selbst wenn ich genug Geld hätte, eine Kneipe bekäme ich nie. Nie!« Unglücklich blicken die Seehundsaugen. »Mit meine Vorstrafenlatte? Da gibt es keine Konzession!« Das hat er laut gesagt. Nun hoffnungslos: »Und trotzdem habe ich geträumt von meine eigene Kneipe! Was will man tun gegen Träume? Das geht Ihnen doch sicher auch so.«
Der Kommissar runzelt die Stirn.
»Wie?«
»Daß Sie einen Traum mit sich rumschleppen und wissen genau, er kann sich nie erfüllen!«
Bräsig hustet und sieht zum Telefon.
Immer noch kein Anruf von Marie.
Was dieser Knolle da sagt … ist es wahr? Gehen solche Träume wirklich nie in Erfüllung?
»Sehen Sie«, meint Bruno, der des Kommissars Schweigen als Zustimmung auffaßt. Er klopft sich ans Herz. »Hier drin, da ist eine kleine Kammer, stelle ich mir immer vor. Und in der Kammer, da wohnt er, der Traum. Bei jedem Menschen ein anderer natürlich. Sind wir jung, dann denken wir: Klar geht er in Erfüllung, na was denn! Werden wir älter und klüger, dann wissen wir: Nichts ist mit der Erfüllung!« Bruno redet traurig und ernst, und ernst und traurig schaut ihn der Kommissar an. »Plötzlich spürt man: Er ist ausgezogen, der Traum, leer ist die kleine Kammer, und das tut weh, schrecklich weh, ganz verrückt macht es einen! Na ja, und dann kommt der Tag, da setzen wir was anderes rein in die kleine Kammer, jeder von uns!«
Bräsig ist ein bißchen durcheinander, er kommt sich plötzlich furchtbar armselig und schäbig vor, schäbig und armselig, sein ganzes Leben war es, und er fragt leise: »Was setzen wir rein, Herr Knolle?« Antwortet Bruno eifrig, man sieht, er hat oft nachgedacht darüber: »Den Lieben Gott am häufigsten! Darum werden die alten Leute wohl alle noch so gläubig. Wie viele habe ich im Bau kennengelernt, die sagten immer: Lieber Gott? Mein Lieber Gott ist in meiner Hose! Ach herrje – warten wir noch zwanzig Jahre! Ich denke mir, diese Träume und die kleine Kammer, die hat der Liebe Gott nur geschaffen, damit auch noch die Allerärmsten amen sagen können, wenn’s zu Ende geht.«
Ich muß handeln, denkt der Kommissar und erwidert deshalb: »Aber bei Ihnen, Herr Knolle, da ist die kleine Kammer noch nicht leer, da ist der Traum noch drin!«
»Nicht mehr«, antwortet Bruno. »Aber es ist noch nichts anderes da. Deshalb phantasiere ich, verstehen Sie? Deshalb weiß ich noch genau, wie er aussah, mein Traum.«
»Und wie sah er aus?«
Hilflos und sehr zaghaft lächelt da der Bruno, und er spricht andächtig und etwas schwerzüngig: »Ja, wie sah er aus … Klein sollte sie sein, meine Kneipe. Kein Personal! Nur ich und … und …« Er druckst. »… und vielleicht eine …« Aber er bringt es nicht heraus.
Der Kommissar hilft, ebenso leise: »Und vielleicht eine Frau?«
Der Bruno nickt und schluckt: »Ja, Herr Bräsig. Die Frau hätte kochen können – alles andere wäre meine Sache gewesen!«
Er steht unsicher auf. Sein alkoholumflorter Blick geht durch den Kommissar hindurch und durch die Wand hindurch, die er anstarrt, weit weg geht der Blick Brunos, und er merkt gar nicht, daß er auf einmal in der Gegenwart spricht und gar nicht mehr Hochdeutsch: »Die Tische scheuere ick blütenweiß … den Boden schrubber ick … die Theke, die blitzt man bloß so! Jeden Morgen putz ick det Nikkel! Die Bierhähne! Die Kanten! Und denn steh ick da vor meine Jläsa, neben det Schränkchen mit de Buletten und die Rollmöpse …«
»… und den Bratheringen«, ergänzt der Kommissar und tritt näher, denn nun, das ist klar, wird der Bruno die Nadel nicht merken, nun kann es gleich losgehen, nur noch ein bißchen weiter träumen soll er, der arme Kerl!
»… und die jute Sülze!« Der Bruno lächelt entrückt. »Und hinta mir die Pullen, die Zijarrenschachteln! Nie Ärja mit de Polizei … Krach und Prüjel, det gibt et nicht bei Bruno Knolle, der läßt bloß anständije Leute rin, friedliche, stille! Mit die spielt er manchmal Skat oder trudelt sich ’ne Runde aus, der Bruno, und Musik machta, hat so ’n Automaten mit Platten … wenna alleene is, denn spielte sich immer die eene vor, die er am liebsten hat … so wie er’t jemacht hat in Brandenburch …«
»Was haben Sie da gemacht?«
Der Bruno sieht den Kommissar lächelnd an, aber er sieht ihn in Wirklichkeit nicht, er sieht seine Kneipe. »War doch ’n Grammophon in Aufenthaltsraum … ’n altet … und ’n Haufen alte Platten … und da habe ick sie mir vorjespielt, immer wieda … meine Platte … hick! ’tschuldigung … mein Lied …«
»Wie heißt es denn?«
»Ach, Sie kenn et sicherlich! ›Wenn die Sonne hinter den Dächern versinkt!‹ Nich, Sie kennen et?«
Der Kommissar nickt. Und als sein Besucher die süße, wehmütige Melodie zu summen beginnt, da summt er mit.
Brunos Erregung hat sich in euphorisches Wohlbefinden verwandelt.
»Also: Wenn ick det höre, Herr Bräsig! Det janze olle Berlin steht vor mir uff! Wissense noch? Witwenball bei Waltachen? Un Resi? Die Bulljonkella un die Ringvereine! Die Bjutis von de Scala! Haus Vataland! Treptow in Flammen …« Er summt wieder ein bißchen: »Carows Lachbühne, wat? Bockbierfest in de Hasenheide! Spazierenjehn in Pläntawald?«
Der Kommissar neben ihm assistiert: »Und die Löffelerbsen und die Brötchen bei Aschinger!«
»Und die Baumblüte in Werda!« murmelt Bruno und merkt nicht, daß der Kommissar sich auf die Lippe beißt, weil ihm wieder die Ausflüge mit dem Ehepaar Prangel eingefallen sind. »Und die Züge mit de Besoffenen«, setzt Bruno als Gedankenassoziation zu ›Baumblüte‹ fort.
»Sechstagerennen«, murmelt der Kommissar und tritt ganz dicht neben Bruno.
Der nickt selig, und mit unsicherer Stimme beginnt er zu singen: »Wenn die Sonne hinter den Dächern versinkt, bin ich mit meiner Sehnsucht allein …«
Der Kommissar fällt ein: »… wenn die Kühle in meine Einsamkeit dringt …«
Und nun zusammen: »… kommen ins Zimmer Schatten herein!«
Bei ›herein‹ holt der Kommissar aus und haut dem Bruno die Spritznadel endlich durch die Hose in den Oberschenkel. Blitzschnell drückt er den ausgeleierten Kolben herunter.
Bruno verstummt. Mit offenem Mund steht er da, starrt vor sich hin, stöhnt einmal, sehr zart, dann kippt er schon um. Sehr zart fängt der Kommissar ihn ab und läßt den Körper auf den Fußboden gleiten. Da läutet das Telefon!
Bräsig rennt zum Schreibtisch, reißt den Hörer ans Ohr.
»Ja?« Er hält noch die Spritze in der Hand, jetzt wird er auf einmal mächtig kurzatmig. »Marie? Endlich! Also?«
Aus seinem Büro kommt Kornmann. Er geht zu Bruno, der da liegt wie ein Kartoffelsack und starrt ihn begeistert an.
Indessen hat der Kommissar gesagt: »Nein, Marie, nein, du störst überhaupt nicht! So rede doch! Nur ein Herr, der …« Er bemerkt, daß Kornmann den reglosen Bruno hochheben will, legt eine Hand auf den Hörer und sagt: »Nicht! Liegenlassen! Schließen Sie die Tür zu.« Und denkt: Will der den Knolle nun spazierenführen? Was für ein Kretin!
Kornmann steht auf, geht zu der Tür von Neiders Büro und dreht den Schlüssel im Schloß.
Der Kommissar, am Telefon, gerät derweilen in immer größere Aufregung, die buschigen Brauen sträuben sich, er atmet schwer: »Geschafft! Was? … Nein, du kannst ruhig reden, Liebling … Also wirklich unterschrieben der Vertrag? Ach, du meine Süße!«
Und reglos liegt der Bruno auf dem Boden.
»Der Angelsteg auch?« Die Stimme des Kommissars überschlägt sich. »Das hast du fertig gebracht? Marie, meine Gute, meine Beste! Wenn du jetzt hier wärst …«
Und reglos liegt der Bruno auf dem Boden.
»Heute komme ich bestimmt nicht später als zehn! Dann feiern wir! Ich bringe ein paar Pullen Sekt mit. Krimsekt, hast du doch am liebsten!«
Und reglos liegt der Bruno auf dem Boden, und Kornmann ist neben ihn getreten, aber er starrt ihn nicht mehr an, sondern er lauscht voll Interesse des Kommissars Gespräch.
»Nein, früher wird es nicht gehen, leider. Ich habe noch etwas zu erledigen. Bis zehn also. Wiedersehen! Wiedersehen, meine Brave!« Damit legt Bräsig den Hörer nieder.
Sein bulliges Gesicht hat sich gerötet, er strahlt, er kann nicht sprechen vor lauter Glückseligkeit. Da kommt Kornmann zu ihm, schüttelt seine Hand, und weil er alles kapiert hat, sagt er: »Ich gratuliere, Herr Kommissar. Ich gratuliere von ganzem Herzen!«
Bräsig blinzelt. Das ist doch der Kornmann, das Ekel. Ach, Ekel! Was heißt Ekel? Piepegal jetzt! Die Marie hat es geschafft!
»Danke, mein Freund«, sagt der Kommissar, beinahe gerührt über die Glückwünsche dieses Dreckskerls. »Das ist der schönste Tag meines Lebens! Und mitsamt dem Angelsteg, Kornmann! Den haben sie auch verkauft! Auch den Angelsteg!« Er lacht dröhnend. Dann bricht er plötzlich ab und geht zu Bruno hinüber, der da liegt und sich nicht rührt, grau im Gesicht, die sanften Äuglein geschlossen.
Leise sagt Bräsig: »Du mit deiner kleinen Kammer … sei jetzt vernünftig … Dann geht dein Traum so in Erfüllung wie meiner!« Und er denkt: Sag ja, so wie ich ja gesagt habe, pfeif auf alle, denk an dich, mach die Schweinerei mit, ich habe so viele Schweinereien mitgemacht, damit dieser Tag heute kommt!
Ach, Bruno Knolle, denkt der Kommissar, ich bitte dich, sei kein Held. Das ist keine Zeit für Helden. Das ist eine Zeit für Feiglinge. Sei feige, Bruno Knolle, bitte. Bist so ein netter Mensch …
»Und nun?« fragt Kornmann.
Bräsig zuckt zusammen. Hat dieses Schwein etwas in meinem Gesicht gelesen? Meine Gedanken? Noch ist das Glück nicht gesichert! Noch muß ich ein Jahr lang kuschen! Achtung! Vorsicht! Das Häuschen!
»Jetzt fahren wir ihn hin«, sagt Bräsig. »Ist alles vorbereitet?«
»Beim Lastenaufzug, jawohl. Der Wagen steht im Hof. Wir können direkt verladen.«
»Erst noch die Platte«, sagt der Kommissar.
»Was für eine Platte?«
»Sein Lied. Wir müssen die Platte mitnehmen.«
»Wo kriegen wir …«
»Rufen Sie beim Funk an! Das Lied ist doch nicht verboten! Sie sollen uns die Platte leihen.«
»Glauben Sie nicht, es genügt, wenn er die Kneipe sieht?«
»Nein«, sagt der Kommissar bockig. »Seine Kneipe ohne sein Lied, das wäre unvollkommen. Das wäre so … so wie mein Häuschen ohne den Angelsteg!«