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Die Mitzi Szapek wird im Oktober 1964 zwanzig Jahre alt. Sie ist staatenlos und unehelich geboren. Ihre Mutter, Franzi Szapek, war desgleichen staatenlos und unehelich geboren. Ihre Großmutter Clementine Szapek war nicht staatenlos und wurde ehelich geboren. Alle drei muß man als Opfer militärischer und politischer Willkür bezeichnen.

Die Großmutter stammte aus Prag. Ihr Vater war General und so abenteuerlich geistdurchtobt wie die Generäle, die im ›Braven Soldaten Schwejk‹ vorkommen. Die Mutter war eine Frau Generalin. Clementine sollte mit einem Herrn Oberstleutnant verheiratet werden. Der war unwesentlich weniger geistdurchtobt und unwesentlich weniger alt als der Herr General. Deshalb riß die Clementine mit siebzehn Jahren aus. Zuerst ging sie nach Pilsen, dann nach Preßburg, dann nach Brünn.

Als Dienstmädchen arbeitete sie. Dienstmädchen, die ganz allein sind, haben es schwer.

1917 verliebte sich die damals zweiundzwanzigjährige Großmutter in einen feschen österreichisch-ungarischen k.u.k. Major. Der war intelligent, charmant, sagte, daß er die Clementine liebte, machte ihr ein Kind und sich aus dem Staub. Kam aus Innsbruck, hatte er Clementine erzählt. Aber als man dann später Nachforschungen anstellte, erwies sich, daß das nicht stimmte. Wie gesagt, ein intelligenter Offizier.

1918 gebar Clementine ein Mädchen, die Franzi. In einem Wiener Krankenhaus. Denn Clementine war nach Wien gefahren, um von hier und besser den k.u.k. Major verfolgen zu können. Leider war ihr das nicht möglich, denn die Geburt der Franzi kostete sie das Leben. Sepsis. Ging damals gerade sehr unordentlich zu auf den Gebärstationen für die armen Leut.

Den Säugling steckte man in ein Waisenheim. Mutter tot, Vater unbekannt, die. Tschechoslowakei mit dem Ende des ersten Weltkriegs ein souveräner Staat: Was anderes konnte man der kleinen Franzi also geben als einen Nansen-Paß für Staatenlose, denn eine solche war sie ja nun! Daß des Vater ein Tscheche gewesen sei, hatte die Mutter niemals behauptet. Und daß er wirklich Österreicher gewesen war, ließ sich nicht nachweisen. Eine Tote kann keine Recherchen anstellen, ein Kleinstkind auch nicht. Na, und bei dem Lebenswandel der seligen Clementine Szapek … Nansen-Paß, werden wir doch keine langen Würschtel machen!

Als kleines Kind hatte die Clementine von den Eltern ein goldenes Kettchen mit einem Amulett erhalten. Zu ihrem siebten Geburtstag. Auf dem Amulett gab es ein wunderschönes Bild der heiligen Beatrix zu sehen, die man im Tschechischen Božena nennt, und um das Porträt der Heiligen herum liefen im Halbkreis diese Worte:

ABY TE SVATÁ BOŽENA OCHRÁNILA!

Das heißt:

MÖGE DICH DIE HEILIGE BEATRIX BESCHÜTZEN!

Die Totenweiber nahmen der Clementine das Kettchen mit dem Amulett ab und befestigten es um den Hals der Franzi. So begann die Wanderung des Geschenks aus Prag.

Auch die Franzi wurde Dienstmädchen. Sie blieb in Wien. Ein uneheliches, staatenloses Mädchen, ganz allein in einer fremden Stadt, hat es schwer. Weil Franzi hübsch war, gab es stets Ärger mit den gnädigen Herren. Sie mußte dauernd die Stelle wechseln. Dann wurde ihr das zu dumm, und sie ging auf den Strich. Eine Registrierte. Mit dem Büchel. Auf den feinen Strich ging sie, auf den in der Kärntnerstraße. Verdiente viel Geld. Wurde nie krank. Paßte sehr auf. Jeden Kunden untersuchte sie vorher fast so genau wie der Polizeiarzt, der allwöchentlich sie untersuchte.

1943 erwischte es sie dann: Die große Liebe! War ein fescher reichsdeutscher Major aus Berlin. (Wieder ein Major). Ein edler Mensch. Die Franzi müsse von der Straße weg, sagte er, denn er liebe sie, und er könne doch keine Hure lieben!

War die Franzi selig! Kaufte die Franzi sich ganz schnell eine Wohnung in der Marxergasse im Dritten Bezirk. Geld hatte sie ja! Ging nicht mehr auf den Strich. War nur noch für den Major da, den feschen. Der machte ihr Geschenke. Und ein Kind.

Als das feststand, nämlich daß die Franzi schwanger war, wurde der Major von einem Tag zum anderen versetzt. Besser: Von einer Nacht zur anderen. Nicht einmal Zeit hatte er mehr, seiner geliebten Franzi Lebewohl zu sagen. Herbert Scharowski hieß er.

Die Franzi brachte ihre Tochter, die Mitzi, am 15. Oktober 1944 zur Welt. Da war es längst unmöglich geworden, den Major Scharowski aus Berlin zu finden. Die Alliierten waren in Italien und am Atlantik gelandet, die Russen standen in Ostpreußen. Die Suche nach Franzis großer Liebe mußte vertagt werden. Ziemlich lange vertagt. Zuerst ging das Tausendjährige Reich in den Eimer, dann folgten die Hunger- und Elendsjahre, dann bekamen die Westmächte in Berlin Krach mit den Sowjets – immer passierte etwas! Die österreichischen Behörden, in jenen Jahren bemüht, so viele deutsche Staatsbürger wie möglich aus dem Land zu bringen und so wenigen wie möglich die österreichische Staatsbürgerschaft zuzuerkennen, sahen im Falle der Mitzi Szapek weder Grund zu dem einen noch zu dem anderen. Auch für das kleine Mädchen fand sich ein Nansen-Paß …

Eingedenk eigener Lebenserfahrungen erzog die Mutter ihre Mitzi sehr streng. Sie hatte immer noch genug Geld, um leben zu können. Bescheiden natürlich! Zwei Zimmer der Wohnung vermietete sie. An alleinstehende Herren. Damenbesuche untersagte sie strengstens.

Als die Mitzi sieben Jahre alt und schon in einer Klosterschule war, bekam sie zum Geburtstag das Kettchen mit dem Amulett, dem Bild der heiligen Beatrix und der Inschrift:

ABY TE SVATÁ BOŽENA OCHRÁNILA!

So wanderte das Geschenk aus Prag weiter …

Die Mutter arbeitete als Heimnäherin für ein großes Geschäft. Sie tat sich immer schwerer dabei, denn sie litt an fortschreitender Gewebeverhärtung, einer sehr qualvollen Krankheit, die sehr lange dauert. Nach ein paar Jahren wurde die Mutter häufig vor Schmerzen ohnmächtig. Nun konnte sie nicht mehr arbeiten.

Knapp nach ihrem vierzehnten Geburtstag brachte die Mitzi ihre arme Mutter ins Krankenhaus. Da blieb die Mutter. Mitzi wurde flugs von einem der alleinstehenden Herren defloriert. Die Sache tat weh und machte keinen Spaß, aber der alleinstehende Herr schenkte der Mitzi Geld, und das machte Spaß. Und so wiederholte sich der Vorgang – mit diesem Herrn und mit anderen. Mit Buben nie. Die hatten doch kein Geld.

Immer noch von der brennenden Sehnsucht erfüllt, den Scharowski zu finden und ihn zur Anerkennung der Vaterschaft zu bewegen, wurde der todkranken Mutter auf ihrem Schmerzenslager noch dieser Triumph zuteil: Das Rote Kreuz, durch das sie den Treulosen jahrelang hatte suchen lassen, teilte mit, daß der Scharowski in Berlin lebte, in der Dunckerstraße 23, Verwaltungsbezirk Prenzlauer Berg, als Untermieter einer gewissen Frau Viktoria Lasser.

Der Bezirk Prenzlauer Berg befindet sich im Ostteil der Stadt, aber Österreich ist eine ›Befreite Nation‹, da konnten die Behörden den Herbert Scharowski bei Viktoria Lasser ohne weiteres schriftlich befragen, wie das denn nun wäre mit der Vaterschaft. Exakt: Die österreichischen Behörden verständigten die entsprechenden Ostberliner Behörden, und die befragten den Major a.D., der, so durfte man annehmen, deshalb in Untermiete wohnte, weil seine eigene Wohnung zerstört war, wie so viele Wohnungen in Berlin, und noch nicht wieder aufgebaut, wie so viele Wohnungen in Berlin, insbesondere in Ostberlin.

Ja, antwortete der Scharowski, er sei der Vater der Mitzi.

Daß er es sogleich zugab, rührte die Mutter zu Tränen des Glücks. Was für ein anständiger Mensch, der Herbert Scharowski! Die Sowjets hatten ihn nicht etwa bis 1958 in Gefangenschaft gehalten, weil er etwas auf dem Kerbholz hatte, Kriegsverbrechen etwa, nein, sondern nur, weil er als Chemiker an der Entwicklung der sogenannten ›Wunderwaffen‹ beteiligt gewesen war, und weil die Sowjets ihn so lange dienstverpflichteten, bis er all seine Erfahrungen und Erkenntnisse russischen Wissenschaftlern weitergegeben und diese geschult hatte. Schrieb er. Allerdings müsse er, aus verständlichen Gründen, in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands bleiben. Was nun die Alimente betraf …

Aber da winkte die Franzi energisch ab! Sie brauchte kein Geld! Sie hatte selbst immer noch ein wenig Geld, bald würde die Mitzi arbeiten können, und gewiß sahen sie einander alle rasch wieder! Franzi wollte samt Tochter nach Berlin kommen. Dann konnte sie ihre große Liebe heiraten! Und war nicht länger staatenlos, und ihr Kind war nicht länger unehelich!

Auf Zukunftsvisionen dieser Art, die den Scharowski, bei Viktoria Lasser, schriftlich erreichten, antwortete er stets umgehend. Er hatte nämlich durch einen Wiener Bekannten in Erfahrung gebracht, daß die Franzi Szapek an Gewebeverhärtung litt und höchstens noch ein paar Monate zu leben hatte. Da wollte er ihr jede Freude machen, die er konnte, der Gute.

Er machte sie. Als Franzis Schmerzen unerträglich wurden, erhielt sie Morphium. Euphorisch erzählte sie der Tochter, wenn die zu Besuch kam, dann von der großen Seligkeit, die ihnen beiden bevorstand: »Der beste Mensch von der Welt ist er, Mitzilein, wirst ihn gleich lieb haben! Heiraten werden wir und leben in Berlin! Wenn er nicht nach Wien darf – ich find eine richtige Wohnung für uns drei! Eine Frau Major werde ich sein. Du wirst die Matura machen und dich gut verheiraten. Wer hätt gedacht, daß alles noch ein so schönes Ende nimmt …«

Ein Ende mit der Franzi nahm es am 19. Februar 1960, und es war kein schönes Ende, trotz des vielen Morphiums.

Die Mitzi und eine Freundin aus der Klosterschule waren die einzigen, die dem Sarg auf dem Zentralfriedhof folgten. Ein gütiger Geistlicher Herr sprach die Grablitanei: »Die Seele dieser Verstorbenen möge durch Gottes Erbarmen ruhen in Frieden!«

Dieselbe Bitte, fällt uns gerade ein, sprach ein Feldgeistlicher am Grab des Vaters jenes Caporals Louis Tilmant, der am 13. August 1964 in Westberlin die Mauer bewachen half.