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Daß die Mutter gestorben sei, schrieb die nunmehr sechzehnjährige Mitzi dem Herbert Scharowski, ihrem Vater, nach Ostberlin. Dieser antwortete mit bewegten Worten. Entsetzlich! Wer hätte an einen so frühen Tod gedacht? Nun war natürlich auch eine Vereinigung im heiligen Stand der Ehe unmöglich geworden. Herr Scharowski laborierte übrigens an einem Herzleiden, das ihm schwer zu schaffen machte. Er hatte das bisher verschwiegen, um die Mutter nicht zu ängstigen, schrieb er, und das begriff die Mitzi gut, denn Mutter hatte dem Scharowski, um ihn nicht zu ängstigen, ja auch ihre Krankheit verschwiegen. Er lebte mehr schlecht als recht von einer Rente, nur ein Zimmer nannte er sein eigen, eben bei jener Viktoria Lasser, unmöglich konnte er die Mitzi zu sich kommen lassen. Plötzlich also stellte sich heraus, daß es dem Scharowski hundselend ging. Auch das hatte er verschwiegen, aus Scham, aus Offiziersstolz – aber vor allem, damit die Mutti sich nicht grämte.

Was für ein wunderbarer Mann, fand die Mitzi. Natürlich war es unmöglich, zu ihm zu reisen und ihn zu belasten!

Mitzi blieb also in Wien. Mit allen Mitteln versuchte sie, die Wohnung in der Marxergasse zu halten. Doch nun war Muttis Geld wirklich zu Ende, letzte Reserven hatte das Begräbnis verschlungen. Mitzi – schwarzhaarig, blauäugig, bildhübsch – ging in ein Büro. Die Arbeit war schwer, das Gehalt klein. Zu klein. Mitte 1961 hatte Mitzi schreckliche Schulden und war ganz verzweifelt. Der Dritte ist nicht der feinste Bezirk Wiens, es wohnen nicht die reichsten Leute dort. Was die Mitzi bekam, wenn sie es mit einem Mann tat, war wenig. Manchmal bekam sie nichts, der Kerl brannte durch. Einmal bekam sie sogar Prügel statt Geld.

Ihre Freundin wollte in der Klosterschule das Abitur machen. Auf einmal verdiente sie enormes Geld. Wie? Sie erklärte der Mitzi wie. Auf dem Graben, in der Seilerstätte und auf dem Neuen Markt war ein neuer Strich entstanden. Die Wiener nannten ihn den ›Baby-Strich‹. Weil die Huren hier alle so jung waren, keine älter als achtzehn! Dieser ›Baby-Strich‹ brachte die erwachsene Konkurrenz an den Rand des Ruins. Die Männer waren entzückt über den jugendlichen Nachwuchs. Es gab so viele feine Hotels im Ersten Bezirk, da wohnten reiche Fremde, die man richtig ausnehmen konnte. In der Marxergasse kam die Mitzi natürlich nie auf einen grünen Zweig!

Das sah sie ein.

Die Freundin lieh ihr das Startkapital: Für ein paar Kleider, Schuhe und Reizwäsche. Und dann marschierte auch die Mitzi auf dem ›Baby-Strich‹. Sie war ein phantasiebegabtes Mädchen!

Wie pervers Männer sein konnten, erfuhr sie schnell in Pensionszimmern und Absteigen. Je größer die Perversion, je höher die Bezahlung. Die Mitzi heckte etwas Tolles aus!

In der Stephanskirche, neben der Capistrankanzel, befindet sich der Eingang zur sogenannten Herzogsgruft, die von 1720 an als Begräbnisstätte für illustre, gekrönte Persönlichkeiten diente.

Man kann da, unter dem Dom, noch viele Särge sehen. Sie stehen in Nischen. In anderen Nischen sieht man Totenschädel und allerlei menschliches Gebein. Regelmäßige Führungen werden veranstaltet. Die Herzogsgruft ist Mittelpunkt eines weitverzweigten Systems von unterirdischen Gängen und Kammern, den sogenannten Katakomben, einem gewaltigen Labyrinth, in dem man sich unschwer rettungslos verirren kann.

Durch die Keller vieler alter Häuser vermag man in dieses Labyrinth zu gelangen, das fast den ganzen Ersten Bezirk unterhöhlt. Die Eingänge sind natürlich verschlossen, Hausmeister oder Hausmeisterinnen haben die Schlüssel. Im zweiten Weltkrieg wurden die Katakomben als Luftschutzkeller benutzt.

Zunächst einmal besichtigte die Mitzi nun bei ein paar Führungen die Herzogsgruft, bis sie sich da unten einigermaßen auskannte. Danach schloß sie Freundschaft mit der Hausmeisterin eines alten Gebäudes in der vom Dom nicht weit entfernten Wollzeile, hüllte sie in ihre Pläne ein und traf mit der Concierge eine Vereinbarung: Die Hausmeisterin gab der Mitzi die Schlüssel zu der schweren Tür, welche sich im Keller vor dem Abstieg in die Katakomben befand, desgleichen den Haustorschlüssel, so daß Mitzi das Gebäude auch bei Nacht betreten konnte, und versprach, gegen angemessene Entlohnung, ihre Augen nichts sehen zu lassen und ihren Mund zu halten.

Dann war es endlich soweit. Die Mitzi konnte ihren Freiern etwas ganz und gar Einzigartiges bieten.

Durch den Einstieg in der Wollzeile führte sie die Herren in die Katakomben hinab, bog, mit einer starken Taschenlampe bewaffnet, um so manche Ecke, durchquerte so manches Gewölbe – um schließlich in einem kleinen Raum zu landen, woselbst es auch Nischen mit Knochen und Totenschädeln, ja sogar einen vermoderten, aber durch viele Eisenbeschläge stabil gebliebenen Sarg gab. Nach und nach hatte die Mitzi diese Requisiten aus der Herzogsgruft und der nächsten Umgebung zusammengeklaut. Decken und Kerzen, Whisky, französischen Kognak und Gin gab es gleichfalls.

Die Herren waren außer sich vor Begeisterung!

So etwas hatten sie noch nicht erlebt. So etwas existierte nicht in Rom, nicht in Paris. Wien blieb eben Wien!

Je nach Bezahlung gab die Mitzi sich den Herren auf dem Sarg eine halbe Stunde, eine Stunde, auch zwei Stunden hin. Das kostete dann aber schon ein Vermögen – von dem die Hausmeisterin, wie von jedem einzelnen Sakrileg, ihren Anteil erhielt.

Leider bemerkte ein Mieter des Hauses etwas von der Sache und erstattete Anzeige. Gegen Mitzi und die Concierge wurde sofort Anklage erhoben, die Affäre selbst möglichst vertuscht.

Jene Hausmeisterin war eine ordentliche Wienerin mit einem ordentlichen österreichischen Paß. Trotzdem mußte sie natürlich mit Gefängnis rechnen. Ja, aber erst die Mitzi! Die war keine ordentliche Wienerin, die besaß, als Staatenlose, nur einen Nansen-Paß. Schlecht hatte sie die Gastfreundschaft Österreichs gelohnt. Ihre Strafe würde bedeutend schwerer ausfallen, das sagte man ihr, das wußte sie.

Was also tun?

Verschwinden, bevor es zur Verhandlung kam! Wohin?

Da fiel der Mitzi der Scharowski ein.

Der Vater!

Wenn er bloß mit ihr zu den ostdeutschen Behörden ging, wenn er bloß die Verantwortung für sie übernahm, die Vormundschaft, bis sie großjährig war – dann mußte man sie wohl doch in Ostberlin leben lassen, nicht wahr? Sie würde Vater nie zur Last fallen. Arbeiten würde sie in Ostberlin. Doch wie kam man da hin?

Na, das war leicht! Fernfahrer sind Männer wie alle anderen. Mitzi war willig, sie verlangte nur, gut versteckt bis nach Ostberlin gebracht zu werden. Das gelang. In diesen großen Lastzügen gibt es viele Verstecke. Quer durch die Tschechoslowakische Volksrepublik, durch die Deutsche Demokratische Republik ging die Reise – mit einigen Aufenthalten, Fahrzeug-, Fahrer- und Beifahrerwechseln. Auch ein Volksarmist durfte erleben, was die Wiener Madln so goldig macht.

Dann hat Mitzi ihr Ziel erreicht.

Sofort eilt sie in die Dunckerstraße 23, Bezirk Prenzlauer Berg. Um 19 Uhr am 2. Mai 1962 trifft sie da ein. Im dritten Stock findet sie eine Tür mit einer Messingtafel, auf der steht:

VIKTORIA LASSER

Das ist also diese Lasser, denkt die Mitzi. Da wohnt der arme Vati in Untermiete. In seinem einen Zimmer …

Sie läutet. Eine etwa fünfzigjährige Frau mit hartem Gesicht, die das Haar zu einem festen Knoten gebunden trägt und eine Indianernase hat, öffnet.

»Bitte?«

»Grüß Gott«, sagt die Mitzi. »Ich bin die Tochter vom Herrn Scharowski.«

»Aha«, sagt die mit dem Knoten.

»Ja«, sagt die Mitzi. »Ich komme grade aus Wien. Kriegens keine Angst! Es ist bloß so …«

»Treten Sie doch ein«, sagt die Frau. »Das müssen wir uns ja nicht alles zwischen Tür und Angel erzählen!« Sie führt die Mitzi in ein Zimmer, da riecht es nach Mottenkugeln. über Stühlen und Tischen hängen weiße Schutzbezüge, die Möbel sind altdeutsch und scheußlich. Ein Eisenbett gibt es. Aber kein Bettzeug!

»Übrigens«, sagt die Strenge mit der Indianernase, »ich bin Frau Scharowski.«

Die Mitzi fährt zusammen.

»Sie sind …«

»Ja, wußten Sie nicht, daß wir geheiratet haben?«

Die Mitzi kann nur den Kopf schütteln.

»Typisch«, meint die Frau, die behauptet, Frau Scharowski zu sein, böse. »Da hat er mir also auch vorgelogen, er hätte das Ihrer Mutter geschrieben.«

»Meine Mutter ist schon im Februar 1960 gestorben!«

»Und wir haben schon im April 1958 geheiratet, gleich, als er aus der Gefangenschaft kam!«

Die Mitzi ringt nach Luft.

»Darf … bittschön, darf i mich setzen?«

Die Frau macht eine Handbewegung. Krallenhand!

Mitzi setzt sich auf den kalten Schutzüberzug, der über einem der Sessel liegt. Ihr ist schrecklich elend zumute. Der Vater hat also gelogen? Und schon 1958 geheiratet? Und ausgerechnet die da?

Die da sagt: »Wohnte zuerst in Untermiete bei mir, der Herbert. Ich fütterte ihn durch. Dann bekam er seine Rente. Da heiratete er mich sofort. Aus Dankbarkeit natürlich – in unserem Alter! Aber ich habe auch wirklich alles für ihn getan!«

Die lügt, denkt Mitzi. Diese Bestie lügt!

»Da stimmt doch was net!« ruft sie. »Wieso, wenn er Sie geheiratet hat, steht draußen an der Tür immer noch großmächtig Viktoria Lasser?«

»Das ist mein Mädchenname. Die Wohnung gehört mir«, antwortet die Frau kalt. »Wir haben mit Gütertrennung geheiratet. Er hätte sich ja eine zweite Messingtafel mit seinem Namen machen lassen können. Daneben, nicht wahr? Wollte nicht.«

Die Mitzi hat genug. »I glaub Ihnen ka Wort!« sagt sie heftig. »Wo is mein Vater? Ich will ihn sprechen!«

»Da kommen Sie zu spät.«

»Zu spät?« Der Mitzi wird kalt.

»Ihr Vater ist vor zwei Wochen gestorben. Herzinfarkt. Was glauben Sie, was ich für Rennereien hatte seinetwegen!«

»Rennereien …«, wiederholt die Mitzi verloren.

»Aber da ist nichts zu machen! Ich bekomme die Rente nicht weiter! Dazu hätten wir fünfzehn Jahre verheiratet sein müssen! So sieht das aus, liebes Fräulein! Da hat man sich abgerackert und abgemüht mit dem Kerl, ihn durchgefüttert, und dann stirbt er und läßt einen zurück, ohne Rente! Eingeredet hat er mir, ich bekäme sie automatisch weiter! Wußte genau, daß das eine Lüge war! Aber er hat ja immer gelogen! Wenn er nur den Mund auftat, log er!«

Die letzten Sätze hört die Mitzi ganz verschmiert und undeutlich, sie sieht auch plötzlich alles ganz unscharf und undeutlich, selbst daß diese schreckliche Person nun aufsteht und in das Nebenzimmer geht. Eine Tür bleibt offen. Die Person läßt Mitzi nicht aus den Augen. Was ist das, was da drüben steht? Ein Telefonapparat. Da wählt diese Person nun eine Nummer, und erst, als sie zu sprechen beginnt, versteht die Mitzi wieder ganz klar, sieht sie wieder ganz klar.

»Frau Viktoria Scharowski«, spricht die Schreckliche. »Ja, die. Dunckerstraße 23. Dieses Mädchen, das Sie erwarten, ist jetzt gekommen … Wie? … Haha! Keine Bange! Ob ich stärker bin als sie! Und die Wohnungstür habe ich natürlich sofort abgesperrt …«