Foltern – das verabscheut der Kommissar Bräsig! Wo er kann, verhindert er es. Diese Art der Behandlung von Gefangenen empört ihn aus zwei Gründen. Erstens, weil er ein weiches Herz hat und ein Menschenfreund wäre, wenn man ihn ließe, und zweitens, weil er nichts so sehr haßt wie die Dummheit. Foltern, findet Bräsig, ist dumm. Durch Foltern bekommt man Geständnisse, echte oder falsche. Auch daß die Gefolterten einem hündisch die Stiefel lecken, kann man so leicht erreichen; auch daß sie andere foltern; auch daß sie noch Ärgeres tun als ihre Folterknechte.
Noch Ärgeres, ja – aber als gebrochene Menschen, seelische Wracks, Leute, die nicht mehr richtig im Kopf sind und denen man deshalb nie völlig und immer vertrauen kann.
Was hat man von solchen Leuten? Nichts! Die bringt man doch besser gleich um. Wirklich mitmachen können sie nicht mehr – selbst wenn sie wollen. Weil man sie eben zerbrochen hat.
Wirklich mitmachen können nur die nicht Zerbrochenen. Zynisch werden die, hart, böse, gierig, alles – doch nie verrückt. Aber das erreicht man eben nicht durch Foltern. Das erreicht man nur durch Psychologie.
Wie oft hat Bräsig in diesem Hause seine Methoden schon vorexerziert, auf die Erfolge hingewiesen, auf die Mißerfolge nach Folterungen. Doch er dringt nicht durch, er dringt nicht durch. Sind eben so viele, die quälen gerne …
Mitzi Szapek wird nicht gequält, nicht ein Haar wird ihr gekrümmt! Den Fall bearbeitet Bräsig allein. So erhält Mitzi in ihrer Zelle unten im Keller stets ordentliches Essen, darf sich mit warmem Wasser waschen, bekommt regelmäßig frische Wäsche. Ihre Zelle ist schalldicht. Also hört sie nicht das Stöhnen, Schreien und Brüllen von Häftlingen, die unpsychologisch behandelt werden.
Jeden Tag läßt der Kommissar sie kommen und redet eine Stunde mit ihr, auch am Sonnabend. Am Sonntag nicht. Da kann die Mitzi lange über ihre Lage nachdenken.
Daß diese Lage aussichtslos ist, erklärt ihr der Kommissar Bräsig bei jedem Gespräch – freundlich, ruhig, geduldig und absolut logisch. Die Mitzi darf Zigaretten rauchen, manchmal bekommt sie sogar einen Schnaps.
Bräsig spielt den väterlichen Freund, wenn er mit ihr spricht: »Sie haben Pech, Fräulein Szapek. Viele Menschen in der Welt haben heute Pech.« Er neigt sich vor, senkt vertraulich die Stimme, als fürchte er, belauscht zu werden. »Sehen Sie, ich persönlich, ich glaube gar nicht, daß Sie eine Agentin sind!«
»Nein? Net? Ja, aber dann …«
»Langsam, Fräulein Szapek! Und leise, bitte, leise! Ich sage: Ich glaube es nicht. Was hat das zu bedeuten? Überhaupt nichts hat das zu bedeuten. Ich bin hier Angestellter. Keiner von den hohen. Die oben, die sind überzeugt, daß Sie eine Agentin sind. Drei Wochen hat man mir Zeit gegeben, das zu beweisen. Wenn es mir bis dahin nicht gelungen ist, muß ich den Fall abgeben. An einen Kollegen. Der ist …« (Kunstpause) »… anders als ich. Ganz anders …«
»Wie?«
Da schüttelt Bräsig dann nur den Kopf und beißt sich auf die Lippe. Und Angst schüttelt die Mitzi dann. Angst!
Es gibt kein stärkeres, mächtigeres Gefühl in unserer Zeit als Angst, das weiß Bräsig. So kommt er in der zweiten Woche mit diesen schönen Worten, geflüstert: »Ich … glauben Sie, ich bin gern hier? Mein Vater – aber das ist eine lange Geschichte. Ich mußte die Stelle annehmen, sonst säße ich auch im Zuchthaus.«
»Wie … Ihr Vater?«
Bräsig nickt. Sein Vater ist seit zehn Jahren tot.
»Ich habe etwas herausbekommen«, flüstert der Kommissar (immer noch gut zu verstehen für den jungen Vlach, denn Bräsig neigt den Kopf vor und spricht sehr nahe bei der Stehlampe, in der das Mikrophon eingebaut ist), »und was ich herausbekommen habe, ist vielleicht Ihre Rettung vor …« Er bricht ab.
Die Mitzi bebt.
So ist es recht.
»Die oben haben etwas Neues vor. Dazu brauchen sie junge Mädchen. Ausländerinnen vor allem, die sie unter Druck halten können. Wenn Sie tun, was die oben verlangen, kann ich die Geschichte vielleicht umbiegen … Ich kenne da einen Bonzen … Fräulein Szapek, wenn Sie mich verraten …«
»Verraten? Ich? Sie?« Mitzi ringt die Hände. »Wo Sie so gut zu mir sind!«
»… dann bin ich erledigt«, spricht Bräsig, als hätte er sie nicht gehört. »Aber ich habe es nun einmal riskiert … weil Sie mir leid tun … so jung … so hübsch … Wenn die drei Wochen um sind und mein Kollege mich ablöst, werden Sie sehr schnell gar nicht mehr hübsch sein …«
»Aber was ist das, was die oben wollen?«
»Nichts Schlimmes. Jedenfalls nicht so schlimm wie …« Da bricht Bräsig dann ab und meint, man werde sich morgen weiter unterhalten. Und am nächsten Tag redet er wieder nur so herum.
Angst! Angst! Angst!
Bräsig weiß, was er tut. Er ist ein Spezialist für Angst. Das kommt, weil er selbst solche Angst hat.
Es überrascht den Kommissar also gar nicht, daß die Mitzi, nachdem die drei Wochen um sind und sie ihm zum letztenmal vorgeführt wird, ganz ruhig und sachlich, tonlos allerdings, fragt: »Also bitte, Herr Kommissar, was wollens, daß ich tu?«
Der Vlach, hinter dem Spiegel, der staunt und bewundert den Kommissar!
»Ich will gar nichts, das wissen Sie doch. Ich bin doch nur ein Angestellter, wie oft habe ich Ihnen das schon gesagt! Man will, daß Sie bei uns Ihrem alten Beruf wieder nachgehen. Wenn Sie das tun, gibt’s keine Verhöre, keine Gerichtsverhandlung, kein Urteil, kein Zuchthaus. Das hat mein Freund, der Bonze, versprochen.«
Überwältigt fragt die Mitzi: »Also a Hur soll ich wieder sein?«
»Ja«, sagt Bräsig.
Die Mitzi beginnt hysterisch zu lachen und zu weinen, gleichzeitig.
»Na, na, na«, sagt Bräsig.
»Ach, Herr Kommissar, und ich hab mich so schrecklich gefürchtet die ganze Zeit« (Hörst du das, Vlach?) »… gefürchtet vor dem, was ich werd tun müssen, damit ich nicht Ihrem Kollegen übergeben werd! Und jetzt … und jetzt … wenn ich als Hur arbeit, darf ich dann auch in Ostberlin bleiben?«
»Natürlich«, sagt Bräsig und denkt: Hübsch und doof. Leider. Hat noch nicht kapiert. Wird noch eine letzte, kleine Empörung geben, wenn endlich der Groschen fällt.
»Dann … dann dürfet ich vielleicht auch mein Ketterl wieder ham? Ich hab solche Sehnsucht danach! Ist doch von meiner Mutti!«
»Natürlich bekommen Sie das Kettchen wieder«, sagt Bräsig, holt es aus der Lade und legt es Mitzi um den Hals, während diese interessiert fragt: »Auf was für einem Strich soll ich denn gehen?«
»Auf gar keinem.«
»Bitte?«
»Ich sagte, auf gar keinem.«
»Ja, aber wo …«
»Es gibt«, erklärt Bräsig, »da ein Haus. Ich kann ruhig darüber sprechen, Sie haben keine Zeugen, und Sie wissen nicht, wo sich das Haus befindet. Wenn Sie den Vorschlag also ablehnen und bei den … Vernehmungen oder vor Gericht darüber sprechen, werde ich selbstredend abstreiten, Ihnen ein solches Angebot je gemacht zu haben.« Das sagt er in solchen Fällen immer, und das sagen Kriminaler auf der ganzen Welt in solchen Fällen immer. Und tun dann auch, was sie sagen, wenn es nötig ist. Auf der ganzen Welt. »Ja, also so ein Haus …«
»A Puff?«
»Nun, es handelt sich schon um etwas Moralischeres, für den Staat Wichtigeres. Herr Goebbels und Herr Göring hatten ähnliche Etablissements zur Verfügung. Da verkehrten höchste ausländische Würdenträger. Haben Sie schon etwas von dem ›Salon Kitty‹ gehört?«
»Nein«, sagt die Mitzi.
»Hm, zu jung«, meint Bräsig und informiert sie erschöpfend.
»Ah so«, sagt die Mitzi. »Des wollens also von mir!«
»Ja«, sagt Bräsig, »das will man von Ihnen. Es leben zahlreiche junge Damen dort. Man bringt in dem Haus für eine Weile Herren unter, die den Staat interessieren. Ich werde Ihnen jedesmal sagen, was den Staat interessiert. Sie werden versuchen, es herauszubekommen. Herren reden leicht im Bett …«
»Da könnens lang warten!« schreit die Mitzi plötzlich. »So was tu i net, so a Schweinerei! Eher laß ich mich umbringen!«
Endlich kapiert, denkt Bräsig. Und da ist sie auch schon, die letzte kleine Empörung. Erledigt. Na, Vlach?
»Bevor Sie zu arbeiten beginnen, schicken wir Sie an die See, zur Erholung. Dann sage ich Ihnen, wo das Haus liegt. Sie ziehen ein und beginnen Ihre Tätigkeit.«
»Hams net ghört? Lieber laß ich mich …«
»Nun«, sagt Bräsig zufrieden, »dann lassen Sie sich also umbringen. Mein Kollege wird entzückt sein, wenn er Sie morgen sieht. Er macht das gern, wissen Sie. Langsam. Hat ganz neue Methoden. Auf Wiedersehen, Fräulein Szapek. Tut mir leid. Dachte, Sie wären vernünftiger. Hab’ mir alle Mühe gegeben, wirklich. Nicht sehr dankbar von Ihnen. Na ja! Ach so – das Kettchen! Das geben Sie mir zurück. Sie werden es nicht mehr brauchen – und ich möchte es als Andenken. An die dümmste Frau, die mir je begegnet ist …«
Vier Wochen später kehrt Mitzi Szapek von ihrem Erholungsurlaub zurück und zieht in das Haus Gotlindestraße 131 ein. Das ist ein einsames Haus, rechts und links stehen Ruinen, gegenüber liegt ein Friedhof. Im Erdgeschoß gibt es eine Kohlenhandlung. Die gehört Herrn und Frau Timnik. Das Haus gehört ihnen auch. Herr Timnik kümmert sich um die Kohlen, Frau Timnik um die Mädchen.
Mitzi Szapek arbeitet zu Bräsigs Zufriedenheit, der ihr von Zeit zu Zeit die deutsche Staatsbürgerschaft in Aussicht stellt, verbunden mit dem Ende ihrer Tätigkeit in der Gotlindestraße. Mitzi ist danach immer besonders fleißig.
Sonderbarste Männer begegnen ihr in den fünfundzwanzig Monaten zwischen dem Juni 1962 und dem Juli 1964, seltsamste Aufträge hat sie auszuführen. Die Katakomben waren ein Kindergartenscherz gegen das, was sie nun zu tun hat und tut. Ach, die Katakomben! Glückliche, ferne Tage der sorglosen Jugend …
Kommt der 28. Juli 1964.
Illusionslos und sehr tüchtig geworden ist die Mitzi in den vergangenen fünfundzwanzig Monaten – mit ihren nunmehr zwanzig Jahren. Sie lacht zuviel, sie trinkt zuviel, sie raucht. zuviel. Nie weint sie. Und dann, in dieser Nacht des 28. Juli 1964, da muß sie weinen, ganz plötzlich, ganz schrecklich. Nach all der Zeit!
Das liegt an dem Mann, den der Bräsig ihr da geschickt hat. So einen hat die Mitzi noch nie erlebt. Um Mitternacht herum weint sie über ihn, der so traurig war zuerst und der nun so fröhlich ist, so hoffnungsvoll, weint sie dann dicke Tränen über diesen Herrn Bruno Knolle. Und es sind Tränen des Glücks!