Einiges hat Bruno Knolle erlebt, bevor er bei der Mitzi Szapek gelandet ist …
Am 27. Juli 1964, nachdem er in der leeren Kneipe jene Erklärung unterschrieben hatte, derzufolge er bereit war, freiwillig und ohne Zwang jede Aufgabe zu erfüllen, die ihm vom Staatssicherheitsdienst gestellt wurde, nahm dieser ›Hauptreferent‹, dieser junge, elegante Herr, der seinen Namen nicht nannte, sich seiner an.
Kommissar Bräsig wollte heim zur Marie, er hatte doch versprochen, spätestens um zehn Uhr bei ihr zu sein und den Kauf des Häuschens zu feiern. Krimsekt mußte er auch noch besorgen.
Daß der ›Hauptreferent‹-Schnösel mit dem feinen, leichten Anzug, den schmalen Hosen ohne Aufschläge, dem Nylon-Hemd, der Krawatte samt goldener Nadel und den weichen, leichten Leder-Slippern so sicher im Justizministerium zu finden gewesen wäre wie der Teufel in der Kirche, das stand bei Bruno gleich fest. Klar war dieser Kerl mit dem braungebrannten Gesicht, dem durchtrainierten Körper, den grünen, großen Augen und den vollen roten Lippen genauso beim SSD wie der Kommissar Bräsig. Sie spielten ihre Aufgabe einfach mit verteilten Rollen. Hätte auch einer allein genügt, dachte Bruno. Aber die Brüder gingen eben auf Nummer Sicher.
Er wußte nicht, daß sein Fall für den Ernst Kornmann der ›Bewährungsauftrag‹ war und daß ihm deshalb der Kommissar Bräsig noch zur Seite stand, damit es keine Pannen gab. Später würde Kornmann schon allein arbeiten, o ja! Aber bei Bruno, da macht er noch alles mit dem Kommissar gemeinsam …
»Der Herr Hauptreferent wird sich nun um Sie kümmern«, sagt Bräsig, nachdem Bruno unterschrieben hat, und wischt sich den Schweiß von der Stirn.
»Für die Dauer des Unternehmens hat mich das Justizministerium an den SSD abgegeben, Herr Knolle.«
»Sieh mal an«, sagt der Bruno frech, denn jetzt kann er ruhig frech sein, »also Unterschrift uff den Wisch, und ick bin wieda ’n Herr for Sie, wa?« Er freut sich, daß der Attackierte kuscht, und fährt fort: »Nu sagense mir doch endlich, mit wem hab ick eijentlich det Vagnüjen?«
»Herr Knolle«, rügt der bullige Kommissar, »Sie fragen zu viel. Was ist ein Name? Überhaupt nichts. Sie finden den Herrn Hauptreferenten von nun an in meinem Büro.«
»Aber irgendwie muß ick Sie doch anreden!« stichelt Bruno.
»Na ja, mit Hauptreferent«, sagt Kornmann. Er ist, seit Bruno unterschrieben hat, sehr aufgeregt. Nun geht es also los! Er weiß, er hat eine Menge vor sich. Immerhin muß er auch rüber in den Westen: Bruno überwachen, dirigieren, lenken. Ein Bewährungsauftrag eben. Kein leichter. Bei dem Fisch, den sie da fangen wollen! »Schön. Also Herr Hauptreferent. Und wat jeschieht nu?«
»Nun gehen wir durch den Hinterausgang, und Sie sehen sich Ihre Kneipe mal von außen an«, antwortet Kornmann. Das tun sie. Die Sonne scheint immer noch, es ist immer noch heiß. Die Straßen sind voller Menschen und Autos. Der Lärm, der Wirbel, alles, was den Bruno am Morgen dieses Tages so schwindlig gemacht hat, macht ihn jetzt nicht mehr ganz so schwindlig. Kann sein, er hat sich schon ein bißchen an die Freiheit gewöhnt. Kann auch sein, er hat ein bißchen viel getrunken heute – und dazu noch die Injektion! Jedenfalls fühlt er sich nicht mehr so unsicher. Ratlos schon, aber nicht unsicher. Die Frauen, sieht er, tragen leichte kurze Kleidchen, die Männer gehen im Hemd, Achseln durchgeschwitzt. Sie gehen alle genauso eilig wie am Morgen, und genauso ernst.
Also, das wäre nun die Kneipe von außen.
Bruno schluckt, als er sie ansieht. Mensch, da haben wir vielleicht ein Prachtstück! ›Friedensklause‹ heißt die Stampe, es steht über dem geschlossenen Eingang, und liegen tut die Kneipe in der Greifswalder Straße, Ecke Marienburger Straße. Wirklich eine Bus-Haltestelle! Wirklich ein Taxistand! Wirklich ein Filmkopierwerk gegenüber. Eine breite Allee mit Bäumen ist die Greifswalder Straße. Unter den Bäumen hopsen vier kleine Jungen und Mädchen und singen im Chor:
»Murmeltier kann ta-hanzen,
eins und zwei und drei und vier!
Murmeltier kann ta-hanzen,
das kleine Murmeltier!«
Der Bruno ist gerührt. Die ersten fröhlichen Wesen, seit er aus dem Zet raus ist! Wenn hier immer Kinder spielen … man könnte sie sehen von der Kneipe aus, denn die hat große Fenster, in der Greifswalder Straße, wo auch der Eingang liegt, und in der Marienburger Straße. In der Greifswalder zwei Fenster, in der Marienburger eines. Ein schöner Platz ist das hier, wirklich! Aber Bruno soll die Stampe nur bekommen, wenn er …
Und das kann er natürlich nicht! Er muß bloß so tun, als ob, damit er Zeit hat, einen Ausweg zu finden, Freunde, Hilfe.
Schöne Kneipe, Traumkneipe …
Welche sind eben, die haben kein Glück.
Der Kommissar empfiehlt sich eilig.
Der ›Hauptreferent‹ steigt mit dem Bruno in einen schwarzen Wagen und fährt zur Warschauer Straße zurück. Hier führt er Bruno in ein Zimmer – im vierten Stock, Fenster zum Hof.
»Endlich mal wieda Jitta«, konstatiert der Bruno.
»Das geht leider nicht anders«, sagt Kornmann. »Gitter sind Sie ja wohl noch gewöhnt, wie? Sonst haben Sie hier jeden Komfort.«
Das stimmt. Modern eingerichtet ist das Zimmer, solide Möbel, ein ordentliches Bett, sogar ein Teppich. Waschbecken mit Spiegel darüber.
Bruno sieht schnell zur Tür. Nein, kein Guckloch.
Der Spiegel genügt. Das ist auch so einer wie der in Bräsigs Büro. Die Männer, die schichtweise nebenan die Nacht verbringen werden, um auf Bruno zu achten, können alles sehen, was der tut. Also wozu Guckloch?
»Ziehen Sie bitte« (bitte!) »Ihre Sachen aus, Herr Knolle« (Herr Knolle!), »und legen Sie sie vor die Tür. Nehmen Sie vorher alles aus den Taschen, Papiere, Taschenmesser vielleicht und so.«
»Ick bringe mir schon nich um, Herr Hauptreferent.«
»Sie werden so freundlich sein, zu tun, was ich sage.«
»Aba jewiß doch.«
»Später müssen wir Sie einschließen – Sicherheitsmaßnahme, nicht zu umgehen. Tut mir leid.«
»Aber ick bitte Sie, Herr Hauptreferent!«
»Hier ist eine Klingel. Abendessen und Frühstück werden Ihnen gebracht, wenn Sie läuten. Läuten Sie auch, wenn Sie sonst etwas wünschen. Ein Schlafanzug liegt auf dem Bett. Waschzeug ist da. Morgen bekommen Sie einen elektrischen Rasierapparat. Wir sehen uns um neun. Eine recht gute Nacht, Herr Knolle.«
»Eine recht jute Nacht ebenfalls, Herr Hauptreferent.«
Saudreckwildschwein, verfluchtes!
Allein geblieben, leert der Bruno die Taschen seines Anzugs. Ausweis. Meldezettel mit dem Knastvermerk. Schnupftuch. Taschenmesser. (Ja, er hat eines!) Geld. Münzen und Scheine. Scheine sind deshalb noch da, weil dieser Ingenieur Machon, der in Brandenburg drei Jahre wegen versuchter Republikflucht abreißt, ihm doch fünfzig Mark dafür gab, daß er …
Ach herrje!
Fieberhaft kramt Bruno. Dann hat er den Zettel gefunden, den er sucht. Den mit der Telefonnummer. Machons Telefonnummer. Da soll er anrufen und der Freundin sagen, sie soll doch bitte gut zu Machons Jungen sein. Behalten darf Bruno den Zettel nicht. Jeden Moment kann er gefilzt werden. Ein Wunder, daß sie ihn nicht schon gefilzt haben! Oder haben sie ihn, während er ohne Bewußtsein war? Ihm wird heiß. Weg mit dem Zettel! Weg mit den Geldscheinen!
Klingel!
Kommt ein junger Mann.
»Da liejen alle Sachen aus mein Anzuch …«, fängt Bruno an.
»Deshalb hätten Sie nicht zu läuten brauchen. Das Zeug wird gleich abgeholt.«
»Ick muß aba mal! Darum hab ick jebimmelt.«
Der junge Mann geleitet ihn zur Toilette, stellt sich davor, wartet. Die Klosettür hat keinen Riegel. Das ist der Bruno schon so gewöhnt, daß es ihn erstaunt hätte, wenn es anders gewesen wäre. Donnernd läßt er einen fahren, während er die Geldscheine zerreißt und den Zettel entfaltet. Damit der draußen nichts hört. Dann memoriert er die Nummer.
47 26 01.
47 26 01.
Das betet er sich zehnmal lautlos vor. Bruno besitzt ein prima Gedächtnis. Im Zet hat er ganze Schachpartien im Kopf gespielt, um nicht aus der Übung zu kommen. Wenn einer von Berufs wegen sein Leben lang mit Kombinationsschlössern zu tun hatte, dann merkt er sich Zahlenfolgen natürlich besonders leicht.
47 26 01!
Das sitzt jetzt mindestens einen Monat lang fest. So. Nun auch weg mit dem Zettel.
Der Bruno handhabt heftig kleingeschnittenes Zeitungspapier (es handelt sich um alte Ausgaben des ›Neuen Deutschland‹, die hier das Kreppapier ersetzen, das in feinen Klos an Abziehrollen hängt), dann spült er kräftig, denn beim Auswendiglernen der Zahl hat er noch brav sein Abendei gelegt. Schließlich läßt er sich in sein Zimmer zurückführen. Der junge Mann nimmt Brunos Habseligkeiten mit. Der zieht sich nun aus und wirft seine Klamotten und Schuhe vor die Tür. Wäscht sich ordentlich, schlüpft in den Schlafanzug, klingelt wieder.
Ein dürrer, schweigsamer Mann bringt ein Tablett mit Essen. Gut und viel. Später holt der Mann das Tablett und das leere Geschirr wieder und gibt dem Bruno die neueste Ausgabe des ›Neuen Deutschland‹, die morgen, zerschnitten, auch schon auf einem Lokus liegen wird. Der Kerl wünscht wohl zu ruhen und zieht ab. Ein Schlüssel dreht sich draußen im Schloß. Das ist der Bruno so gewöhnt, daß er das Geräusch, wäre es nicht gekommen, vermißt hätte. Er kriecht in das Bett, welches ihm viel zu weich vorkommt. Dabei ist es ein ganz normales Bett. Aber Bruno hat eben viereinhalb Jahre lang härter geschlafen.
Werde natürlich kein Auge zumachen können in dieser verfluchten Nacht, denkt er sorgenvoll und nimmt sich das ›Neue Deutschland‹ vor. Er liest aufs Geratewohl, zuerst einen Artikel über den Inspekteur der westdeutschen Bundesmarine. Das ist ein ganz schlimmer Bursche, erfährt Bruno. Über seiner Bürotür auf der Hardthöhe in Bonn-Duisdorf befindet sich eine Tafel mit folgendem Sinnspruch:
›Den Frieden zu wahren, gerüstet zum Streit,
Mit flatternden Fahnen im eisernen Kleid,
So tragt, deutsche Schiffe, von Meer zu Meer,
Die Kunde von Deutschland, den Frieden, einher.‹
Solch Verslein also hängt über der Bürotür dieses kapitalistischen, revanchistischen Kriegshetzers und Amerika-Söldlings, liest der Bruno, aber da fallen ihm schon die Augen zu, und zwei Minuten später schnarcht er, als wäre ein ganzes Sägewerk in Betrieb.
Der Aufpasser, der gerade nebenan Dienst tut, ist beruhigt. Mensch, pennt der! Wie eine tote Ratte. So was! Sind immer welche, die jammern, daß das Licht nicht abgedreht wird in diesen Durchgangsräumen. Dem Bruno, dem ist das gleich, der merkt es überhaupt nicht, der erwacht nicht einmal, um in das Waschbecken zu pinkeln, der schläft durch bis sieben, und er würde weiterschlafen, wenn er da nicht von einem neuen Mann geweckt würde, der ihm das Frühstück bringt.
»Wo bin …«, beginnt Bruno, in seinem Bett hochfahrend. Die hellblonden Haare stehen zu Berg, das Gesicht ist noch gelber, er blinzelt mit seinen wimpernlosen, kleinen Knopfaugen. Er sieht das Gitter vor dem Fenster. »Ach so«, sagt Bruno, »ick weeß schon wieda.« Er frühstückt im Bett, mit Appetit. Dann erst wäscht er sich.
Kommt wieder ein neuer Mann herein. Da müssen vielleicht viele arbeiten! Der Mann bringt zwei Anzüge: Einen grauen, leichten Konfektions-Einreiher, unauffällig und dezent, und einen blauen Zweireiher mit weißen Streifen, da tun einem die Augen weh beim Hinsehen. Verschwindet, der Mann, kommt wieder mit einem Fiberkoffer. Bruno trocknet sich ab und steht dann nackt neben dem Mann, der den Koffer auspackt. Da liegen Strümpfe und Hemden und Unterhosen darin, Krawatten, Taschentücher und zwei Paar Schuhe. Wie die Anzüge verschieden sind, so ist auch das übrige Zeug verschieden: Der eine Teil sehr dezent, der andere einfach zum Piepen. Hemd mit rosa Streifen! Dottergelbe Krawatte! Dottergelbe Schuhe! Violettes Taschentuch!
»Mensch, die Rotzfahne! Ick bin doch keen warma Bruda!« entfährt es dem Bruno. Dieses Taschentuch ist einfach mehr, als er verkraften kann.
Der Mann, der alles brachte, sagt ausdruckslos: »Sie ziehen den grauen Anzug an, die schwarzen Schuhe, ein weißes Hemd und die schwarze Krawatte da. Alle anderen Sachen gehören zu dem anderen Anzug.«
»Wo habt ihr det Zeuch denn her?«
Keine Antwort. Der Mann geht schon zur Tür.
»Habt ihr ville sone Klamotten uff Laga? Wenn et mir nu nich paßt …«
»Es paßt«, sagt der Mann. »Wir haben schließlich Ihre alten Sachen als Maß gehabt. Sie waren Ihnen zu groß geworden. Die hier sind etwas kleiner.«
Sie passen tatsächlich.
Nicht hundertprozentig natürlich, aber fast.
Der Bruno (rasiert hat er sich bereits mit dem elektrischen Apparat, der auf dem Frühstückstablett lag) puppt sich ein und betrachtet sein Spiegelbild. Damit er sich ganz sehen kann, klettert er auf einen Stuhl. Da sieht er sich natürlich nur vom Bauch abwärts. Aber nun weiß er, wie er oben und unten aussieht, und er ist ganz begeistert. Kleider machen wirklich Leute! Wie das neue Zeug riecht! Die Bügelfalten der Hose! Das weiße Hemd. Die Krawatte – keine Spur von ausgefranst! Seinen ollen Dreck haben die sicher verbrannt.
Wie gut, daß er die Telefonnummer auswendig gelernt hat!
Nun muß er nur noch an ein Telefon heran. Hm. Aber wie der Bruno die Sache sieht, wird es wohl eine Weile dauern, bis er sich wieder einigermaßen frei bewegen kann.