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Er sieht die Sache ganz richtig.

Um neun Uhr wird er von zwei Kerlen geholt, über endlose Gänge geführt, eine Treppe hinab – und dann steht er im Büro des Kommissars Bräsig. Neben dem sitzt der ›Hauptreferent‹. Er ist wieder schnieke angezogen und wirkt taufrisch. Der Bräsig hat seinen zerknautschten grau-grünlichen Anzug an und wirkt verkatert. Ist er auch. War eine Menge Krimsekt heute nacht. Bis ein Uhr hat er mit der Marie, der braven, den Erwerb des Häuschens gefeiert. Sie schläft sicher noch, seine Frau. Der Kommissar muß arbeiten. Sein Schädel dröhnt, obwohl er bereits zwei Tabletten geschluckt hat.

Es ist wieder ein glutheißer Tag, die Glanzstoffblenden vor dem Fenster sind wieder heruntergelassen. Die beiden Herren bewundern Brunos Anzug und den tadellosen Sitz. Sie erkundigen sich nach dem werten Befinden. Hat er gut geschlafen? Ist er mit der Verpflegung zufrieden?

»Ick kann nich klagen.«

»Setzen Sie sich, Herr Knolle.« Der Kommissar hat eine Menge Papiere auf seinem Schreibtisch. Er blättert in ihnen, fischt einen Wisch heraus und gibt ihn Bruno. »Da wäre zunächst mal Ihr neuer Meldezettel.«

Bruno liest und staunt. Junge, sind die fix! Name, Daten, alles in Ordnung! Beruf: Arbeiter. Na ja, die werden ihre Gründe haben, nichts von Kellner zu schreiben und so. Zuletzt wohnhaft: Dimitroffstraße 23, bei Haase. Unterschriften. Stempel der Abmeldung. Alles da.

»Zufrieden?«

»Danke ooch scheen, die Herrn.«

»Ich habe Ihnen doch gesagt, ich kümmere mich um den Zettel«, meint Bräsig und stützt den schmerzenden Schädel in eine graubehaarte Hand.

»Wir kümmern uns überhaupt um alles«, sagt Kornmann. »Schließlich sind Sie ja jetzt einer von uns.«

Einer von …

Bruno schluckt.

Na ja. Na schön. Was soll man sagen? Stimmt doch, verflucht! Sagt man also: »Jewiß, Herr Hauptreferent.«

»Mit dem Meldezettel können Sie überall eine neue Bleibe finden«, meint der Kommissar. »Wir haben auch schon eine für Sie.«

»Wo?«

»Später. Zunächst müssen wir etwas anderes erledigen. Etwas Wichtiges.«

»Ja, Herr Knolle«, sagt Kornmann, »nun sind Sie ja bald drüben im Westen.«

»Aber wie komm ick rüber? Un wat denn? Un …«

»Eins nach dem anderen.« Wieder kramt Bräsig in seinen Papieren. »Erinnern Sie sich noch an Franz Lutter?«

»Lutter … Lutter …« Bruno strahlt auf. »Der Franz! Klar erinnere ick mir an den! Aber wieso …«

»Stellen Sie uns keine Fragen, Herr Knolle«, sagt Kornmann. »So kommen wir schneller weiter.«

»Ja, aba …«

»Herr Knolle!«

»Schon jut …« Unheimlich. Die wissen alles. Wie ich da mit heiler Haut rauskommen soll, aus diesem Schlamassel …

»Herr Lutter war in Ihrer Strafkompanie«, konstatiert der Kommissar, ein Dokument lesend. »Er gehörte zu denen, die mit Ihnen in sowjetische Gefangenschaft geraten sind.«

»Stimmt.« (Zu eng ist der Hemdkragen. Nicht zerren. Ist ja gar nicht zu eng. Ist nur meine Aufregung.)

»Sie haben ihm das Leben gerettet, als Sie zusammen zum Minensuchen eingesetzt waren.« Bräsig hebt jetzt nicht mehr den Blick von dem Dokument. »Am 3. August 1941 mußten Sie im Raum von Uman für die vorrollenden Panzer Minen räumen. Lutter paßte nicht auf …«

»Nee, sein Jerät war kaputt!«

»… jedenfalls marschierte er direkt auf eine Tellermine los. Sie, drei Schritte hinter ihm, bemerkten die Mine durch das Ausschlagen Ihres Geräts und rissen Lutter zurück, als dessen Fuß eben die Mine berührte.«

»Und ein phantastisches Schwein ham wa jehabt alle beede!« ruft Bruno, der die Szene von damals plötzlich genau vor sich sieht. »Da war Jott sei Dank ’ne tiefe Mulde, in die ha ’ck den Lutta mit runtajerissen, jerade, als det Ding hochjing! Zwee Tote. Die, die neben uns jingen. Aber wir? Nischt! Bloß ’n paar Hautabschürfungen.« Der Bruno schnüffelt. »Woher wissen Sie det nu aba wirklich?«

»Es gibt sehr wenig, was wir nicht wissen, Herr Knolle«, sagt Kornmann, und Bräsig denkt: Miststück! Wer hat in den letzten Wochen den ganzen Kram über Knolle zusammengetragen bei den Sowjets und bei Direktor König vom Zuchthaus Brandenburg, der weitergab, was der Bruno Königs Spitzeln erzählt hatte? Ich! Ich war das! Und du bist nun der große Mann, was? Und wirst immer größer. Na, das war ja immer so – bei euch allen. Ein Jahr noch … »Lutter«, sagt der Kommissar, »war aus politischen Gründen in der Strafkompanie.«

»Stimmt.«

»Das ›stimmt‹ können Sie sich auch sparen, Herr Knolle. Wir wissen, daß es stimmt!«

Dieser Kornmann! Na, wollen mal sehen, ob du auch so eine große Schnauze hast und so ein Heldenheld bist, wenn du erst drüben im Westen sitzt und auf Bruno aufpassen mußt …

»Ob der Lutter noch lebt?« denkt Bruno laut.

»Natürlich lebt der«, sagt der Kommissar. »Glauben Sie, ich unterhalte mich mit Ihnen so lange über einen Toten? Der ist Nachrichtensprecher beim Sender Freies Berlin.«

»Wat – in Berlin issa?«

»Verstehen Sie nicht deutsch?«

»Aba … aba der hat doch in Hamburch jelebt! Det weeß ick janz jenau! Ooch nach ’n Krieg! Wir ham uns ’n paarmal jeschriem!«

»1959 ist er nach Westberlin übergesiedelt. Vorher war er Sprecher beim NWDR

»Ja, ’ne jute, anjenehme Stimme hatta jehabt, der Franz … und jebildet war der! Beinah ’n richtija Dokter! Ick gloobe, er hat ville Reden jehalten uff politische Versammlungen – vor dreiunddreißig.«

»Hat er, ja.«

»Komisch! Ick weeß jar nicht, for wat for ’ne Politik der war …«

»Wir wissen es. Das ist aber nicht wichtig. Wichtig ist nur, daß er sich an Sie erinnert. Und das tut er bestimmt. Den Menschen, der einem das Leben gerettet hat, vergißt man nicht. Deshalb haben wir auch Herrn Lutter gewählt.« (Jetzt beginnen die Tabletten langsam zu wirken. War schon nicht mehr zum Aushalten. Das kann kein echter Krimsekt gewesen sein.)

»Sie ham ihn jewählt? Wozu?«

»Damit er Sie rüberholt in den Westen.«

»Wie kann der Franz …«

»Herr Knolle, Sie waren lange Zeit nicht in Freiheit, Sie wissen nicht Bescheid über das, was sich in den letzten Jahren tat. Drüben bauen sie schon seit Jahren Tunnel.«

»Tunnel?« wiederholt Bruno idiotisch.

»Unter der Mauer durch. Zu uns herüber«, sagt Bräsig geduldig.

»Ach! Und durch die Tunnels könn dann Leute …«

»Das hat aber mächtig lange gedauert bei Ihnen! Ja, da können die Leute dann! Natürlich nur so lange, bis wir den Tunnel entdeckt haben. Oder so lange, wie wir es für opportun halten. Manchmal wissen wir, wo die drüben gerade buddeln, und warten geduldig. Manchmal wissen wir es nicht.«

Kornmann findet, daß der Kommissar lange genug geredet hat. Jetzt muß er wieder einmal zeigen, wie das funkt beim SSD: »Sehen Sie, Herr Knolle, dieser Herr Lutter, dem Sie das Leben gerettet haben, der hat einen Neffen. Student der Philosophie. Horst heißt er.«

»Na und?«

»Das ist einer von denen, die buddeln.«

»Woher wissen Sie det nun schon wieda … ach so, ick soll ja nich fragen.«

»Richtig. Wir erklären Ihnen alles.« Kornmann gerät wieder in Fahrt. Reinseidenhemd trägt der, denkt Bräsig erbittert. Wo sind bloß all die feinen Sachen her? Na, ich komme schon noch dahinter! »Herr Lutter muß mächtig stolz auf die Buddelei seines Neffen sein. Und sein Neffe muß großes Vertrauen zu Onkelchen haben. Hat ihm nämlich vor einiger Zeit erzählt, daß er wieder einen Tunnel baut. Mit anderen zusammen natürlich. Wo, hat er nicht gesagt. Nur, daß er baut. Und das hat Herr Lutter einem guten Freund im Sender erzählt. Auch ganz im Vertrauen. Muß in der Familie liegen. Der Freund ist allerdings kein so guter, wie Herr Lutter denkt. Soll ich weitersprechen?«

Bruno schüttelt den Kopf und denkt: Gott, ist das eine dreckige, mörderische Welt geworden hier draußen! Gott, war das eine saubere, anständige Welt drinnen im Zet!

Er sagt: »Also warten wa, bisse mit den Tunnel durch sind, und denn marschiere ick mit Ihre jütige Erlaubnis ab, nich?«

»Nee«, sagt Bräsig. »Nee, so nich, Herr Knolle. Das müssen wir schon ein bißchen raffinierter anfangen. Steht viel zu viel auf dem Spiel.«

»Raffinierter? Wie?«

Der Kommissar erklärt dem Bruno, wie.