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Herr Pfarra«, sagt Bruno Knolle, »ick befinde mir in eene verzweifelte Lage und bitte Sie, mir zu helfen.«

Da ist es halb zwölf Uhr vormittags und ganz gräßlich heiß, auch im Arbeitszimmer von Pastor Martin Oslanski. ›Seine‹ Kirche hat der Pfarrer in der Bietzkestraße, aber wohnen tut er in der Münsterlandstraße, nahebei, in einem alten, häßlichen Haus, das durch viele Bombeneinschläge in der nächsten Umgebung während des letzten Krieges schwer erschüttert worden ist.

Seit zwanzig Jahren neigen sich die Grundmauern mehr und mehr. Man hat es ein paarmal mit Abstützen versucht, aber geholfen hat das nichts. Noch dürfen Menschen in dem Haus wohnen, sagt die Baupolizei. Bald werden sie es nicht mehr dürfen.

Durch die aus der Senkrechten gekommenen Mauern sind alle Fußböden aus der Waagerechten gekommen. Legt man einen Ball oder eine Murmel in irgendeinem Zimmer auf die Erde, dann rollen sie hurtig in Richtung Münsterlandstraße los. Nach dieser Richtung fallen alle Fußböden ab, manche, so die in der Wohnung von Pastor Oslanski, derart stark, daß man es sofort beim Gehen bemerkt. Es ist wie auf einem schrägen Schiffsdeck. Nicht gemütlich. Wenn draußen ein Auto vorbeifährt, bebt und zittert und knirscht der ganze Bau, und das Treppenhaus, aus Holz, ächzt laut. Apropos Treppenhaus: Unten, beim Eingang, klebt ein Zettel. Da steht:

ZUM PFARRER – 4 TREPPEN

Der Zettel hat den Bruno wütend gestimmt. Er war nie fromm, aber er hat sich auch nie über Religion oder Pfarrer lustig gemacht oder sie verachtet, obwohl doch sein Vater so ein strammer Sozialist gewesen ist. Und daß man also den Pastor Oslanski in diesem Gerümpelhaus einquartiert und diesen respektlosen Zettel angebracht hat, das geht zu weit, findet der Bruno, das ist eine Schweinerei!

Pastor Oslanski scheint das nicht so zu empfinden. Der sitzt da in seinem kahlen Zimmer mit den gerissenen Papiertapeten an einem Tisch voller Briefe, hinter einer uralten Schreibmaschine, und lacht. Dauernd lacht der kleine, pausbäckige Mann, der gar keine Haare mehr hat. Es sieht allerdings nur so aus, als ob er dauernd lacht. Das liegt an seinem Mund. Der ist zu einem ewigen Lachen verwachsen. Pastor Oslanski hat drei Jahre im Konzentrationslager Dachau zugebracht. Im zweiten Jahr schlug ein SS-Mann ihm einen Spaten auf den Schädel. Er wollte ihn totschlagen, aber Oslanski war flink, wich zurück, und so traf die Metallkante nur die Wange nahe dem Mund und riß da eine tiefe Wunde. Die ist dann so verheilt. Auf dem Arbeitstisch steht auch noch eine Vase mit bunten Blumen. Feld- und Wiesenblumen sind das, der einzige Farbfleck im Zimmer, und der Anblick der Blumen macht den Bruno noch wütender, als der Anblick des ›Zum Pfarrer vier Treppen‹ ihn gemacht hat. Von allen Blumensträußen, die es gibt, sind diese dem Bruno am liebsten. Als er eintrat und die Vase sah und über den abschüssigen Boden auf den Pastor zukam, mußte er denken: So geht das also zu. Den einen puffen sie, schon pufft er den nächsten! Den einen bringen sie ins Unglück, schon bringt der den nächsten hin! Und der einen dritten! Und der dritte einen vierten! Es hat kein Ende. Das ist kein Aufenthaltsort für Menschen mehr, diese Erde. Nun bin ich dran, den Pfarrer ins Unglück zu stürzen – vielleicht. Wenn ich es nicht tue, ist es mit mir selbst aus – bestimmt!

Der Anblick der Blumen hätte beinahe eine explosive edle Regung bei Bruno hervorgerufen, da wollte er ganz schnell sagen: ›Hüten Sie sich, Herr Pfarrer! Schmeißen Sie mich raus! Seien Sie wachsam! Mich schicken die vom SSD!‹

Hat er sagen wollen, jawohl!

Und dann zurückgehen zur Ecke Eitelstraße, wo der Kerl wartet, der seinen Namen nicht nennt, dieser feine ›Hauptreferent‹, und dem sagen: ›Aus! Schluß! Ick mach et nich! Nu könnta mir in de Fanne haun!‹

Das war, wie gesagt, beim Eintritt.

Beim Händeschütteln dachte Bruno ganz schnell dies: Und wenn ich ihn warne? Dann gehen wir beide ein, das ist sicher! Erst mal erzählen, was ich erzählen soll. Und sehen, wie der Pastor sich benimmt. Kann mich ja unaufgefordert rausfeuern. Seine Sache. In einer Zeit wie unserer, da vermag wohl jeder nur für sich selbst zu sorgen. Wenn er das vermag.

Niemand soll den Bruno Knolle besser sehen, als er ist!

Der, der diesen Bericht schreibt, hofft, daß keiner, der ihn liest (und er selbst natürlich auch nicht), je in eine Situation kommen möge wie Bruno Knolle. Jeden Tag kommen Millionen Menschen in ähnliche Situationen. Es muß nicht Ostberlin, es muß kein Pfarrer sein. Ja, so hat der Bruno also die Schnauze gehalten, sich gesetzt und aufzusagen begonnen, was man ihm in der Warschauer Straße eingetrichtert hat: »Herr Pfarra, ick befinde mir in eene verzweifelte Lage und bitte Sie, mir zu helfen.«

Der kleine Mann mit dem fröhlichen Dauerlächeln schaut ihn kurz an, dann fragt er heiter: »Kommen Sie vom SSD

»Ja«, antwortet Bruno darauf.

Hätte. Oslanski gefragt: ›Schickt Sie der SSD?‹ hätte Bruno ›Nein‹ geantwortet. Die Formulierung einer Frage erspart einem oft eine Lüge. Gewiß, überlegt Bruno, weiß der Pastor das. Und hat darum so gefragt und nicht so. Der denkt sich doch ohnedies seinen Teil, da bin ich sicher. Wie der lächelt. Na, also ich mache jetzt eisern, was sie mir befohlen haben. Werden ja sehen, was herauskommt dabei!

Alles, was der Bruno von nun an sagt, hat der Kommissar Bräsig ihm gesagt, sie haben miteinander geprobt, zuerst war Bräsig der Pfarrer und Bruno der Bruno, dann war der Kommissar der Bruno und der ›Hauptreferent‹ der Pfarrer, zuletzt haben Bräsig (als Bruno) und der Fatzke ohne Namen (als Pfarrer) es ihm noch einmal vorgespielt. Er kann seine Rolle.

»Nämlich«, sagt Bruno, »det is so: Ick war viereinhalb Jahre im Zuchthaus, Herr Pfarra. Einbruch. Hier, bitte.« Damit legt er Oslanski den alten, echten Meldezettel vor die Nase, den, auf dem steht: Letzter Wohnort Strafanstalt Brandenburg. »Als ick nu rauskam, hamse mir sofort zu de Wohle in de Warschauer Straße jeschickt. Det is aba jar keene Wohle, is det, sondern det is SSD

»Weiß ich«, sagt Oslanski ruhig.

Der Bruno blinzelt und schnüffelt.

»Wissense?«

»Ja. Sind Sie zu einem Fürsorge-Sachbearbeiter namens Bräsig gekommen?«

Verflucht, denkt der Bruno, besoffen bin ich nun aber nicht mehr, verrückt auch nicht! Was ist hier los? Gehört der Pfaffe etwa auch zum SSD? Hier ist alles möglich!

Bruno nickt.

»Ich kenne Herrn Bräsig«, sagt der Pfarrer. »Das heißt: Gesehen habe ich ihn nie, aber gehört habe ich viel von ihm. Sie sind schon vorbestraft?«

»Jawohl.«

Das wird hier ja wieder ein Verhör!

»Dann«, sagt Pfarrer Oslanski und ordnet die schönen Blumen in der Vase, »kann ich Ihnen bereits alles erzählen, was Sie mir erzählen wollen.«

»Wat?«

»Herr Bräsig hat Ihnen gesagt, daß Sie nun die Wahl haben. Entweder Sie arbeiten für den SSD – oder Sie kommen als unverbesserlicher Asozialer lebenslang in ein Haft-Arbeitslager.«

»Jenau!« Daß er das erzählen soll, hat Bräsig dem Bruno befohlen. Nun hat Oslanski ihm die Worte aus dem Mund genommen. Komisches Gefühl …

»Ich«, sagt Oslanski, »bin nicht beim SSD, keine Angst. Auch Hellseher bin ich nicht. In den drei Jahren, seit die Mauer steht, sind zwölf Männer wie Sie zu mir gekommen, alle von Herrn Bräsig vor diese Alternative gestellt. Das soll«, fährt Oslanski fort, »nicht heißen, daß nicht auch andere Männer gekommen sind, die in den Westen flüchten wollten. Sie wollen doch flüchten?«

»Mhm.«

»Eben. Ja, andere Männer sind auch gekommen. Viele! Nicht nur zu mir. Nicht nur in Berlin. Zu vielen meiner Amtsbrüder. In der ganzen Zone.«

Der Bruno zwinkert, schnieft, erkundigt sich schnuppernd: »Wenn det so is, denn weeß det der SSD doch sicha!«

»Natürlich weiß er es, lieber Herr Knolle.«

»Aber warum untanimmt der SSD nischt jejen Sie?«

In diesem Moment fährt draußen ein Laster vorbei. Das Zimmer zittert, das hölzerne Treppenhaus ächzt so laut, daß Bruno es hören kann. Danach ist es still. Bruno sieht den Pfarrer an. Der spielt mit einem Bleistift und denkt in sehr kurzer Zeit an sehr viele Dinge.