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An jenem Nachmittag fotografiert man Bruno Knolle in der Warschauer Straße, von vorn und von der Seite, wie seinerzeit fürs Verbrecheralbum. Die Fingerabdrücke werden ihm abgenommen – hat er auch schon ein paarmal erlebt, ist nichts Besonderes für ihn. Er ärgert sich, der Bruno: Bei Oslanski, diesem prima Pfaffen, da hätte er doch bestimmt telefonieren können. Die Freundin von Ingenieur Machon anrufen, wie er es versprochen hat. Wegen des Jungen. Hätte der Oslanski bestimmt gestattet. Aber in seiner Aufregung hat der Bruno es verschwitzt. Verdammt! Jetzt kann er wieder warten, bis er an einen Apparat rankommt …

Kommissar Bräsig holt Bruno aus dem Zimmer, in dem man ihm die Fingerabdrücke abgenommen hat, und wandert mit ihm in sein Büro. Unterhält sich freundschaftlich. Es wird, meint er, nun natürlich eine Weile dauern, bis Pfarrer Oslanski Nachricht bekommt. Inzwischen muß Bruno Knolle ganz sicher in der Freiheit werden, seine Scheu vor den Menschen verlieren, seine Zuchthausneurose. Viel spazierengehen, spazierenfahren, arbeiten!

Wo?

Soll er gleich sehen …

Mit einem Auto fahren die beiden am Abend durch die Frankfurter Allee (Mensch, die hieß doch früher Stalinallee! denkt Bruno), links ab durch die Siegfriedstraße. (»Hier bin ick jeborn, Herr Kommissar«, zeigt Bruno, aber das Haus, in dem er als Wickelkind gewohnt hat, existiert nicht mehr. Nicht einmal die Trümmer gibt es mehr. Ordentlich planiert ist hier alles, Gras wächst da, Sträucher, Bäume, schon ziemlich groß.) Und dann noch einmal links: Gotlindestraße.

Viele Häuser haben da nie gestanden. Jetzt steht da wahrhaftig nur noch ein einziges Haus, dem alten Friedhof gegenüber, an den sich der Bruno noch erinnert, weil Mutter immer gesagt hat: »Det ist wohl der häßlichste in janz Berlin! Hier möchte ick nie bejraben sein. Für mich jibt’s nur den Friedhof an de Hainbuchenstraße …« Ja, der ›häßlichste Friedhof Berlins‹ existiert noch. Und dem gegenüber steht also das Haus.

Der Kommissar hat Bruno vierhundert Mark gegeben, denn da, wo er nun wohnen soll, sind ja die Bienen, nicht wahr, und die kosten Geld, und Miete muß er auch zahlen.

Die Bienen!

Bruno, der nun den Fiberkoffer trägt, in dem der laute, blaue Anzug, die dottergelben Schuhe, die ganze neue Wäsche und sein Waschzeug liegen, wird ganz kurzatmig vor Aufregung, als er das einsame Haus erblickt. Nun ist es soweit! Ausreißen kann er nicht. Will er auch nicht. Im Gegenteil. Oder nein? Oder ja?

Also was?

Das weiß Bruno selber nicht.

Schön ist es nicht, das Haus. Sehr groß, sehr verkommen. Eine Kohlenhandlung befindet sich rechts vom Haupteingang. ARMIN TIMNIK, KOKS, KOHLEN, HOLZ steht auf einem Schild, das über der Ladentür hängt.

Bruno und der Kommissar klettern gerade aus dem Auto, da geht die Ladentür auf, und eine Frau winkt heftig. Ziemlich schlampig sieht sie aus in ihrem bunten Frisiermantel. Sie hat ein schwammiges, katastrophal gepudertes und geschminktes Gesicht, strähniges braunes Haar und hellwache, mißtrauische Äuglein.

Viele Goldzähne sieht Bruno, als die Frau ruft: »Hier, Herr Bräsig! Ich bin im Geschäft! Mein Mann ist nicht da!«

Bräsig schüttelt ihr die Hand.

»Tag, Frau Timnik. Das ist also Herr Knolle.«

Frau Timnik schüttelt Brunos Hand.

»Kommen Sie weiter«, sagt sie. Eine resolute Dame.

Der Laden ist als Büro eingerichtet. Bruno erblickt einen mächtigen Kanonenofen, eine Art Kontorpult, ein paar Kisten, die wohl als Sitzgelegenheiten dienen, ein Ledersofa und ein Tischchen davor. Die Luft ist sehr trocken und reizt zum Husten. Auf dem Tischchen steht eine offene Schachtel Konfekt, halb leer. Frau Timnik, bemerkt Bruno, hat einen leicht schokoladeverschmierten Mund. Muß Konfekt gern haben! Kaum ist sie im Laden, da greift sie schon nach der Schachtel.

»Darf ich etwas anbieten?«

Bruno schüttelt den Kopf.

Der Kommissar nimmt einen Würfel Nougat.

Frau Timnik nimmt auch einen. Im folgenden holt sie ein Stück Konfekt nach dem anderen aus der Schachtel und stopft es in ihr Mündchen. Mensch, die ist vielleicht verrückt nach dem süßen Zeug!

»Wie ich Ihnen schon am Telefon gesagt habe«, sagt der Kommissar, »möchte Herr Knolle gern für eine Weile bei Ihnen wohnen, Frau Stefanie.«

Stefanie Timnik nickt. »Zweiter Stock. Ich rufe ein Mädchen, das zeigt Ihnen den Weg, Herr Knolle.« Damit drückt sie auf einen Klingelknopf. »Meldezettel?«

»Hier, bitte«, sagt Bruno und präsentiert den neuen, falschen.

»Und eine Woche Miete im voraus, bitte. Oder geben Sie mir noch besser eine größere Anzahlung. Sagen wir, hundert Mark. Die können wir dann verrechnen.« Frau Timniks Augen werden hart.

Vielleicht passiert mir was in dieser Woche, denkt Bruno, dann hat sie ihren Rebbach gemacht. Er sieht den Kommissar an. Der nickt.

Na schön.

»Bitte, Frau Timnik.«

Wie das Weib die Scheine packt! So was von gierig!

»Mein armer Mann«, sagt Frau Timnik, »der muß jetzt selber manchmal zum Liefern mitfahren. Im Sommer geht es zu wie verrückt. Die Kohlen sind billiger. Die Leute decken sich ein. Herr Bräsig sagt, Sie hätten Lust, mal ein bißchen ins Geschäft reinzuriechen, Herr Knolle?«

»Hm«, macht Bruno. Er hat nicht die geringste Lust, aber der Kommissar hat bereits angeordnet, daß er welche zu haben hat. Beim Liefern kommt er herum, sieht wieder die Stadt, Straßen, Menschen, Autos. So wird er sicher. Nur nicht in irgendeiner Bude rumhocken.

Nein, das hielte der Bruno auch nicht aus!

»Können Sie ’n Wagen fahren?«

»Ich hab ’n Führaschein.«

»Auch für Laster?«

»Alle Klassen. Alladings …«

Der Kommissar hilft: »Herr Knolle ist aus der Übung. Muß sich erst wieder gewöhnen, Frau Timnik. Zum Schleppen ist er nicht kräftig genug. Nehmen Sie ihn als Chauffeur.«

»Wir können dringend einen brauchen! Der Gruchot, der ist doch dauernd krank.«

»Lassen Sie Herrn Knolle zwei, drei Tage so mitfahren. Dann soll er üben, abends, hier draußen, wo kein Verkehr ist – und nach einer Woche ruhig ans Steuer mit ihm! Autofahren verlernt man ebensowenig wie Schwimmen.«

»Das kann er dann morgen früh alles mit meinem Mann besprechen, Herr Bräsig. Heute ist sowieso nichts mehr los.«

»Mit Kohlen jedenfalls«, sagt Bräsig, und die Schmuddelige lacht schallend und sieht sehr wohlhabend aus mit dem vielen Gold im Munde.

»Nee, mit Kohlen nich!«

Da geht die Ladentür auf.

»Na endlich«, sagt Frau Timnik ungnädig zu dem Mädchen, das hereinkommt.

Dieses Mädchen trägt hochhackige Schuhe, ein tief ausgeschnittenes grünes Kleid ohne Ärmel und eine dünne goldene Kette mit einem Amulett. Dieses Mädchen ist höchstens zwanzig Jahre alt, es hat eine furchtbar aufregende Figur, Ia Beine, einen Hintern, einen Busen, Hüften – zum Hinknien! Schwarzes Haar, glatt und lang, fällt bis zu den bloßen Schultern. Hellblaue Augen. Ein großer, flammend rot bemalter Mund.

Bruno hat auf einmal das Gefühl, daß er ein Luftballon ist.

Das gibt es nicht … das kann doch nicht wahr sein!

Da steht sie vor ihm! Genau so, wie er sie in Erinnerung hat! Genauso wunderbar. Genau so, wie er sie zum erstenmal sah, nach dem Krieg, in der Chimanistraße!

»Nelly …«, flüstert Bruno fassungslos. »Meine Nelly …«

»Grüß Gott«, sagt die Mitzi Szapek aus Wien.