Dieses Haus, Gotlindestraße 131, ist einigermaßen seltsam. Außen völlig verwahrlost, innen elegant eingerichtet, sauber, gemütlich, komfortabel. Vier Stockwerke hoch.
Im Juli 1964 leben vierzehn Mädchen hier. Es waren auch schon einmal mehr, einmal weniger. Verschieden im Aussehen, im Temperament, in der Nationalität. Manche sind sehr lange da …
Das Haus kann man nur durch den Haupteingang betreten, so wie das jetzt Bruno tut, indem er der Mitzi folgt. Zuerst ist da eine Halle, wie in einem Hotel. Bruno sieht ein paar Mädchen in dieser Halle, auch eine junge Negerin. Die Mädchen unterhalten sich mit ein paar Männern. Man sitzt in Chintz-Fauteuils oder an einer Bar im Hintergrund. Die Mädchen lachen laut und viel, bemerkt Bruno. Die Männer sind still.
Er folgt der Mitzi über eine schöne, breite Treppe nach oben. Einen roten Läufer hat die Treppe. Das ist ein piekfeiner Puff, ist das, denkt Bruno benommen. Er muß dauernd den Hintern der Mitzi anstarren, die vor ihm hersteigt, heftig ihr Gewölbe schwenkend. Natürlich ist das nicht Nelly. Aber genauso sah Nelly aus! Genauso! Dem Bruno tritt Schweiß auf die Stirn.
Im Gang des zweiten Stocks begegnen sie einem Pärchen. Das Mädchen ist platinblond und üppig, höchstens fünfundzwanzig, er mindestens fünfzig, hager, klein und kahl. Sie redet eifrig auf ihn ein, er nickt nur vor sich hin, graugesichtig, sorgenvoll, eine dicke Brille auf der Nase.
»…und dann siehst du auch deine Frau und deine Kinder wieder«, hört Bruno die Platinblonde sagen. Der Kahlkopf nickt verloren.
Es riecht nach Parfüm und Puder im Haus, nach vielen Frauen, dem Bruno wird immer heißer. Als er dann mit der Mitzi in seinem Zimmer steht, rinnt ihm der Schweiß von der Stirn in die Augen. Er seufzt.
»Was hast denn, Burschi?« fragt die Mitzi.
Er schüttelt den Kopf, lächelt verzerrt und sagt leise: »Hübsche Bude!«
Das ist sie wirklich. Moderne Möbel, ein großer Teppich, helle Farben. Vor dem (unvergitterten!) Fenster liegt die Straße. Drüben, auf der anderen Seite, der Friedhof. Bruno sieht viele Grabsteine.
»Das Badezimmer ist hier«, sagt die Mitzi und öffnet eine Tür. Sie lacht. »Und hinter dem Badezimmer, da ist mein Zimmer. Praktisch, gelt?«
»ja«, stammelt Bruno, »sehr praktisch … Na, denn … denn wer ’ck mal auspacken und mir waschen.«
»Is gut, Schatzi«, sagt die Mitzi, gibt ihm einen Kuß auf die Wange und verschwindet.
Der Bruno betastet die Stelle, wo der Kuß ihn traf, lange Zeit, dann schnuppert er an der Hand. Sie riecht so süß, so wunderbar! Der Bruno wundert sich, daß ihm ausgerechnet jetzt eine Szene aus einem alten Film von Charlie Chaplin einfällt. ›Moderne Zeiten‹ hieß der. Und in jener Szene geriet Charlie in die ungeheure Maschinerie einer Fließbandfabrik, zwischen Zahnräder, wurde weiter und weiter befördert, gequetscht, gedreht, geschoben, gehoben, fallen gelassen, aber er blieb im Räderwerk, er blieb im Räderwerk, er kam immer mehr hinein in das Räderwerk!
Woran der Mensch so denkt …
Bruno zieht sich nackt aus, bevor er seinen Koffer entleert und die neuen Sachen in einem Schrank verstaut, der nach Lavendel duftet. Er hängt beide Anzüge auf, den dezenten und den lauten, er legt Hemden, Wäsche und Schuhe in Fächer, auch zwei von den drei Schlafanzügen, die er erhalten hat. An die Innenseite eines Türflügels hat jemand mit Tintenstift etwas hingeschrieben. Der Bruno begreift nicht, was das bedeutet, aber weil im Text das Wort ›intellektuell‹ vorkommt, neigt er der Ansicht zu, daß ein Intellektueller die Worte geschrieben hat. Ein Vorgänger? Ein früherer Gast in diesem Hause des SSD? Noch am Leben? Längst tot? Ein Held? Ein Verräter? Ein Lump? Ein Idealist?
Das steht da:
Die mutigste intellektuelle Entscheidung,
die mir heute noch möglich erscheint,
ist der Kompromiß.
Zu hoch für mich, denkt Bruno. Und er nimmt ein Bad. Läßt sich Zeit damit. Mensch, ist das eine Wonne!
Wie er so in der Wanne liegt und döst, öffnet sich die Tür, die zu Mitzis Zimmer führt, und das Mädchen kommt herein. Es trägt nur einen Hüfthalter, durchbrochen schwarze Strümpfe, hochhackige Schuhe und die kleine Kette mit dem Amulett, das zwischen ihren festen, großen Büsten liegt, die harte Warzen mit großen, bräunlichen Höfen haben.
Genau solche Brüste hatte die Nelly! Genau solche Beine! Der Hals! Die Hüften! Der kleine Bauch – alles wie Nelly, alles!
»Wart, i wasch dir den Rücken«, sagt die Mitzi.
Sie tut es, und sie greift ihn an dabei, und so beginnt für den Bruno ein Martyrium, das zwei Stunden dauern soll.