Der Bruno versucht alles, was es gibt. Die Mitzi versucht alles, was es gibt. In seinem Zimmer. In ihrem Zimmer. Mit Kognak. Mit Streicheln und Küssen – umsonst.
Es geht nicht.
Der Bruno kann nicht. je länger es dauert, um so weniger kann er. Die Ängste, die er hatte, als er das Zuchthaus verließ, verdoppeln, verdreifachen, verhundertfachen sich. Aus! Alles aus! Nie wieder wird er können. Nie!
Aber er muß! Er mußt! Er wird verrückt, wenn es nicht geht!
Es geht nicht.
Dunkel wird es, die Nacht kommt.
Mitzi gibt nicht auf. Sie kennt das. Sie weiß, daß sie Geduld haben muß. Sie hat ihren Auftrag von Bräsig erhalten, und diesen Auftrag hat sie zu erfüllen.
Mitzi schließt die Vorhänge, knipst eine Lampe mit dunkelrotem Schirm an, dreht an den Knöpfen eines Radios, bis sie einen Sender findet, der sentimentale Musik bringt. Und sie gibt dem Bruno noch mehr zu trinken und trinkt selber fleißig, denn das alles ist auch für sie sehr anstrengend, nicht nur für ihn.
Bruno, der ihren Körper streichelt und küßt und liebkost, denkt: Vielleicht, wenn sie nicht wie meine Nelly aussehen würde? Nein, dann auch nicht! Oder doch? Ach, waren Nelly und ich glücklich damals. Ob heute noch jemand glücklich ist auf der Welt? Hier bestimmt niemand. Im Räderwerk. Im Räderwerk …
Dieses Mädchen lächelt wie eine Puppe. Sie plappert wie eine Puppe. Worte, süß wie das scheußliche Konfekt der fetten Timnik. Ihr Wienerisch! Und ich habe Wienerisch so gern! Armes Luder. Achje achje achje … ja, wirklich, was für ein armes Luder! Wenn es schon bei mir nicht geht, will ich wenigstens lieb zu ihr sein. So lieb ich kann. So lieb, wie ich zu Nelly immer war, damals …
Und er ist so lieb, der Bruno! So lieb, wie die Mitzi das noch nie bei einem Mann erlebt hat. Deshalb beginnt sie sich auf einmal aufzuregen. Sie wehrt sich dagegen, denn so kann man nicht klar denken, aber es hilft nichts, sie wird immer aufgeregter, dieser Bruno ist so lieb, so lieb! Und die Mitzi stöhnt, und öffnet und schließt die Hände und die Schenkel, ihr Körper verkrampft sich, sie redet sinnloses Zeug und wühlt in Brunos kurzen, weißblonden Haaren. Und wieder und wieder und wieder, und jedesmal stärker fühlt Mitzi sich emporgetragen in eine Seligkeit, von der sie nichts geahnt hat. Wie auf der Krone einer majestätischen Woge reitend kommt sie sich vor, und die Woge rollt und rollt und hebt sie höher, höher – oh, ist das wunderbar!
Dann sitzen sie nebeneinander, und sie streichelt ihn und fragt:
»Nix?«
Er schüttelt den Kopf.
»Aber es muß doch gehen … laß mich noch einmal …«
»Nein, Mitzi. Is schon jut. Wenn nur du …«
Da flüstert die Mitzi, sehr ernst und sehr kindlich: »Bruno …«
»Ja?«
»I muß dir was sagen …«
»Sag doch!«
Aber als die Mitzi den Mund wieder öffnet, ist die Musik zu Ende, und eine Männerstimme meldet sich: »This is AFN Berlin. At the sound of the last tone it will be twenty-three hours Central European Time.« Pfeiftöne. Dann: »Here is a brief summary of news up to this hour as compiled by the wires of the Associated Press and die United Press International. In the Congo …«
»I such was anderes«, sagt die Mitzi und dreht an den Skalenknöpfen, bis wieder Musik erklingt. »Des is Luxemburg. Die senden fast nur Musik. Und in der Nacht kann mas gut empfangen.«
»Wat wolltste sagen?« fragt Bruno.
»Daß so wie du noch keiner gewesen is! Keiner in meinem Leben!«
»Nu mach aba ’n Punkt!«
»Na, des is wahr! I schwörs bei meinem Mutterl selig!« Und die Mitzi hebt den schwimmenden Blick zu einer Fotografie unter Glas, die auf einem kleinen Wandbord steht. Der Bruno sieht eine lachende, junge Frau. Hm. Schicke Mutter. Ob die auch – nein, Mitzi hat gesagt ›selig‹, also ist sie tot, und da stellt man keine Fragen, Bruno!
»So zärtlich … ich … ich hab nie wirklich was ghabt davon. Wirklich, du verstehst! Hier natürlich überhaupt nie. Kannst dir sicher vorstellen, gelt? Aber heut, mit dir … i komm mir vor, als hätt’st du mich entjungfert. I mein natürlich net entjungfert, ich mein … Ach, du weißt schon, was ich mein …«
Der Bruno hört auf einmal sein Herz klopfen!
»So stark war des … so stark wie noch nie! Und du, mein Armer, mach dir nix draus … des geht jedem mal so … hab i oft erlebt! Aber auch andere hab i erlebt … Schweine, die net vorher gebadet ham und dreckig waren und gemein und mir weh getan ham … aber du … Bruno, ach, Bruno! Und wenn es nie mehr gehn tät bei dir – i möcht dir treu sein und dich lieb haben, bis daß i stirb – für des, was du gemacht hast, wie du gewesen bist …«
Und da geschieht das Wunder!
Auf einmal hat der Bruno keine Angst mehr, auf einmal fühlt er, wie das Blut in seinen Schläfen zu dröhnen beginnt, wie er der Alte wird, schnell, ganz schnell, der alte Bruno von 1947, der Nelly-Bruno, der, den seine große Liebe stets ihr ›Böckchen‹ nannte. Und er umarmt die Mitzi, sie sinken auf das Bett, und der Bruno ist ein Mann, wieder ein Mann, ein richtiger Mann geworden!
Was wird morgen sein? Wie soll es weitergehen? Der Bruno denkt nicht daran. Er denkt überhaupt nicht mehr. Er tut, wovon er viereinhalb Jahre lang geträumt hat. Noch einmal tut er es, und noch einmal, die Mitzi stöhnt, und auch er stöhnt, und sie sind wie Tiere, nachts, allein, im Dschungel.
Zuletzt flüstert die Mitzi: »Hör auf … bitte, hör auf, lieber Bruno … Später wieder … jetzt net … ich kann nimmermehr …«
Da küßt er sie, und dann lacht er und lacht und lacht! Das ist so um die Mitternacht herum. Und die Mitzi sieht ihn an, diesen Mann, der so traurig war zuerst und der nun so fröhlich ist, so hoffnungsvoll. Und da, nach all der Zeit, nach all den Jahren, muß sie auf einmal weinen. Weil sie auch so glücklich ist. So glücklich mit diesem komischen Kerl, den sie ihr geschickt haben und der gar nicht komisch ist, sondern wunderbar, dieser Kerl, dieser Bruno Knolle!