Bruno Knolle liegt in der Badewanne.
Zweimal hat er das Wasser gewechselt, jetzt bleibt es sauber. Der Bruno liegt da mit bleiernen Gliedern, todmüde und übererregt zugleich. Er weiß, er muß noch eine ganze Weile in dem lauwarmen Wasser bleiben, bis er zur Ruhe kommt.
Auf dem Wannenrand sitzt die Mitzi.
Sie hat sich sehr schön gemacht für ihn, sie war beim Friseur, das Gesicht ist liebevoll bemalt, heute trägt sie rot-schwarze Unterwäsche und riecht nach Veilchen.
Draußen dämmert es, der Himmel wird dunkelblau, im Westen, wo die Sonne untergegangen ist, leuchtet er noch golden und rot und apfelgrün, und ein unwirkliches Zwielicht dringt in das Badezimmer.
Die Mitzi hat den Bruno erwartet, als er heimkam.
Zuerst mußte er noch in die Kohlenhandlung mit allen anderen. Die Chauffeure lieferten die Listen und bestätigten Quittungen ab, alle bekamen ihren Lohn, auch der Bruno. 12 Mark 80.
Herr Timnik rechnete, Frau Timnik saß auf dem Lederdiwan und fraß Konfekt. Schon als der Laster in den Hof fuhr, hat Bruno gesehen, daß für den morgigen Tag wieder Hunderte von gefüllten Säkken und Tragen mit gepackten Briketts bereitstehen. Da müssen am Nachmittag andere gearbeitet haben. Einen flotten Laden hat Herr Timnik!
Gerade als Bruno sein Geld vorgezählt bekommt, öffnet sich die Tür, und ein Mann kommt hereingewackelt. Er hat einen Bart, der ist mindestens drei Tage alt, einen zerschlissenen Anzug, kein Hemd, aber einen Hut auf dem Kopf, und er stinkt nach Fusel, zehn Meter gegen den Wind. Heftig schielend, nähert er sich Timnik und lallt: »Einundfuffzig Monate, hick! Einundfuffzig Monate ha ’ck jesessen! Unschuldig! Jebense ma wat … jebense ma ’n paar Märka, lieba Herr!«
»Machen Sie, daß Sie rauskommen!« brüllt Timnik. »Verkommenes Subjekt! Arbeiten Sie was, saufen Sie nicht! Dann haben Sie auch Geld!«
»Einundfuffzig Monate, lieba Herr …«
»Verschwinden Sie!«
»Ick danke ooch tausendmal«, sagt der Betrunkene und entschwebt. Der Bruno läuft ihm nach und drückt ihm fünf Mark in die Hand. Der Mann sieht überhaupt nicht auf, nur das Geld in der Hand betrachtet er und murmelt: »Einundfuffzig Monate …«
Daß der wirklich im Knast war, glaubt Bruno sofort. Die Gesichtsfarbe, das Geduckte, das Verlorene, das Hoffnungslose. Der war drin, garantiert! Wenn er nicht zu besoffen ist, kann man vielleicht schnell mit ihm reden. Damit er nach Brunos Freunden sucht, telefoniert und so weiter.
»Paß uff«, sagte Bruno leise und hastig. »Du! Uffpassen sollste!«
»Wat is?«
»Det wa ’n Jeschenk. Kannst noch mehr ham. Viel mehr.«
»Mehr?« Na also, so besoffen ist der gar nicht.
»Du mußt mir aba ’n Jefallen tun. Du mußt …«
Da ertönt Timniks tobende Stimme: »Wollen Sie wohl zurückkommen, Knolle? Augenblicklich! Lassen Sie den Besuffski! Sie haben sich nicht auf der Straße herumzutreiben, verstanden?«
Daraufhin ist der Bruno zurückgetrottet.
So also geht es auch nicht.
Aber vielleicht so …
»Mitzi …«
»Ja, Schatzi?«
»Warste uff de Wohle heute?«
»Hab ja hingehen müssen. Bericht erstatten. Dem Bräsig.«
»Haste ihm azählt von letzte Nacht?«
Mitzi nickt.
»Wat denn, du wirst ja rot!«
»Nie im Leben bin i rot gwordn! Aber jetzt bei dir … alles is anders bei dir …«
»Hm … Wollte allet wissen, der Bräsig, wa?«
Mitzi nickt.
»Mußteste allet azähln?«
»Ja.« Die Mitzi sieht einen Moment so aus, als wollte sie wieder weinen, dann lacht sie. »Gelobt hat er mich! Sehr, sehr zufrieden is er mit mir, hat er gesagt! Weitermachen soll i so! Dann, hat er gesagt …« Die Stimme versintert.
»Dann?«
»Dann kommst du ganz bestimmt zu mir zurück!« Die Mitzi ruft, als müsse sie sich verteidigen: »Des hat er gsagt! Wirklich! I bin keine Kletten! I häng mich net an dich – und wenn i dich noch so lieb hab! Dann erst recht net! I erzähl es dir nur, weil du mich fragst … hast mich auch lieb, a bissel?«
Ach, ist das ein Leben …
»Sehr lieb hab ick dir, Mitzilein«, sagt der Bruno feige.
Da ist sie auch schon zufrieden! Wie ein Hund, der sein Leben lang getreten wurde und den nun auf einmal einer streichelt.
»Mein Bruno!«
Zur Sache: »Du kannst dir also frei bewejen, Mitzi. Ick meine: Dir jeht keena nach, wa?«
»Na, i glaub net. Wo i schon so lang arbeit, da lassens mir manche Freiheit. Friseur, Einkaufen. Kino und so.«
Ja, dann wird dies wohl der Weg sein, denkt Bruno.
»Würdste mir ’n Jefallen tun, Mitzi?«
»Des weißt du doch!«
Kann ich ihr trauen? Ich glaube. Aber ich weiß es nicht. Wer kann heute noch wem trauen? Ich muß es riskieren. So geht es auf keinen Fall weiter. Wenn ich nichts tue, bin ich eins, zwei, drei im Westen. Pastor Oslanski hat sicher längst etwas unternommen. Ich muß auch etwas unternehmen. Gleich!
»Aber du darfst Bräsig nischt von azähln, det is Voraussetzung! Keen Menschen darfste wat azähln!«
»Für was haltst du mich denn? Meinst, daß i dich verrat?«
Wäre schön, wenn du es nicht tätest, denkt Bruno. Ein Mensch, der einen nicht verrät. Ja, vielleicht bist du so ein Mensch …
»Paß uff, Mitzi! Ick hab noch Freunde hier in Osten. Aber ich kann se nich uffsuchen, nich mal anrufen, nischt. Die lassen mir nich ’n Moment aus de Augen. Würdest du … würdest du zu die hinjehn und sagen, wo ick bin, und azähln, det der SSD mir in de Mache hat?«
Die Mitzi starrt ihn an.
»Was heißt, in der Mache hat? Willst ausreißen? Willst ’leicht net tun, was der Bräsig dir befiehlt?«
O je. Falsch angefangen.
»Aber Mitzi! Wat is ’n det for ’ne Idee? Du weeßt doch so jut wie ick, det ick jarnich abhaun könnte – selbst wenn ick wollte! Wer sollte det besser wissen als du?«
»Aber wozu dann die Freund’?«
Immer noch mißtrauisch. Aber, verdammt, ich muß doch wenigstens alles versuchen, um zu kneifen. Ich bin nicht fähig, Böses zu tun. Hat Pastor Oslanski gesagt. Der HERR wird mir helfen. Nun soll ER aber endlich!
Zuerst muß ich die Mitzi beruhigen.
»Wozu denn Freunde, frachste?« Bruno lacht übertrieben. »Weil die mir jetzt suchen, Meechen! Sich Sorjen machen! Nich wissen, wohin ick vaschwunden bin!«
Das wirkt. Mitzi nickt ernsthaft. Ja, nun kann sie begreifen. Werden sich auch viele Huren vom Baby-Strich in Wien seinerzeit Gedanken darüber gemacht haben, wohin sie so plötzlich verschwunden ist. Nicht einmal ihrer besten Freundin durfte sie jemals schreiben.
»Det kapierste, wa?« Man muß langsam vorgehen. Erst soll sie die Freunde finden, dann kann man ihr weitere Aufträge geben. »Is ja bloß, det se sich nich unnötich ängstijen. Mein Jott, wat haste denn nu wieder?«
Die Mitzi ist nämlich plötzlich in Tränen ausgebrochen.
Sie legt eine Hand auf Brunos eingeseifte Schulter.
»Nix. Gar nix! I … bin nur so glücklich!«
»jlücklich?«
»Daß du so a Vertrauen zu mir hast! Des is so schön, so schön!«
»Klar ha ’ck Vertrauen zu dir! Holste dir ’n Stück Papier und ’n Stift?«
Sie läuft fort, sie kommt zurück, außer Atem, mit glänzenden Augen.
»Also, Bruno …«
Da sitzt sie wieder auf dem Wannenrand, einen Kugelschreiber gezückt.
»Also zuerst mal, wenn du den Weihwasser suchen würdest. Karl heeßta. Weih mit h. Ick weeß nich, ob er Telefon hat. Zuletzt hatta Heinersdorf jewohnt, Treskowstraße 5. Haste?« Die Mitzi nickt. »Denn der Willi Hanke. Prenzlaua Berch …« Er bemerkt, wie sie zusammenzuckt. »’tschuldije! Da hatta aber wirklich jewohnt! War schon ’ne Sau, dein Olla. Saarbrücka Straße 8. Da hatta jewohnt, der Hanke, als ick in Knast jing. Denn der Orlow, Igor Orlow …« Bruno diktiert weiter Namen und Adressen, fünf Freunde von früher hat er noch in Erinnerung. Zuletzt sagt er:
»… und eene Nummer soll ick anrufen. Eena in Knast hatse mir jejem. Weeß nich, wo a wohnt, irgendwo in Weißensee. Die Telefonnummer is 47 26 01. Viktor Machon, Injenör. Wollte türmen. Drei Jahre reißta ab. Lebt mit ’ne Freundin. Und ’n Jungen hatta ooch, vielleicht von ’ne Frau, die ihm wegjeloofen is. Hängt sehr an den Jungen. Jürgen heeßta, die Freundin Schilow. Marlene Schilow. Schrecklich kompliziert, wa?«
»Garnet. Und was soll i da machen?«
»Als er injebucht wurde, der Injenör, war der Junge jerade nich da. Nu sollte ich die Freundin anrufen und vielleicht hinjehn und bitten, det se jut is zu Jürgen. Det se sich nich zanken. Det se ihn tröstet und achtet uff ihn. Willste mir det ooch noch abnehm, Mitzi?«
»Freilich, Bruno! I red mit der Schilow als Frau zu Frau. Des is sogar besser, als wie wenn du des machen möchst.«
»Ach, Mitzi«, sagt er und nimmt schnell ihre Hand und küßt sie.
Die Mitzi läßt Papier und Kugelschreiber fallen vor Schreck.
Sie starren sich an, beide verlegen.
»Na ja«, sagt er. »Mach ick sonst nie. Aba bei dir …«
Die Mitzi ist auf einmal schrecklich aufgeregt.
»Komm … komm schnell …«
»Aber ick bin noch so schlapp … laß mir noch … Bloß ’ne halbe Stunde …«
»Nein!«, ruft die Mitzi, und ihre Wangen glühen. »Nein! So mein’ ich des ja net! Nur kommen sollst und dich ruhig hinlegen aufs Bett … und garnix tun, hörst? Net bewegen … ganz still liegen … Heut mach ich alles … so wie du gestern … alle die süßen Gschichten …«