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Das Haus Hasenauerstraße 67 ist sehr groß. Es gibt Geschäfte und Büros und Wohnungen. Gott sei Dank! Im Keller eines Hauses, in dem nicht viele Menschen arbeiten, leben, aus und ein gehen, hätte man nie einen Tunnelbau beginnen können.

Auf der vierten Etage wohnen Heisterbergs. Er ist Wirtschaftsredakteur bei der ›Weltpresse‹ und sieht mit seinen achtundvierzig Jahren noch sehr gut aus, die Frauen schauen ihm nach. Seiner Frau schaut kein Mann nach. Eine abgearbeitete, farblose Person ist die siebenundvierzigjährige Margot. Am Vormittag geht sie als Sprechstundenhilfe zu einem Gynäkologen. Wirtschaftsredakteure verdienen nicht viel. Und der Egon, der schmeißt mit dem bißchen auch noch um sich, als wäre es Dreck. Margot weiß, daß die Weiber hinter ihm her sind, und sie weiß auch, was der Egon für einer ist. Der läßt nichts aus. Torschlußpanik!

Voriges Jahr ging es ihm richtig elend im Winter, schwere Thrombose. Er dachte, er müsse sterben. Da hat er den Schwestern in der Klinik dauernd vorgejammert: »Viel zu wenig Frauen habe ich gehabt in meinem Leben, jetzt ist es aus, jetzt kann ich nichts mehr nachholen …« Eine Schwester hat das der Margot erzählt.

Kaum war der Egon wieder auf den Beinen, da hat er angefangen mit Nachholen, aber wie!

Es ist schon zum Lachen, wenn Margot die Redaktion (da halten sie natürlich alle zu ihm) anruft, und er ist gerade wieder bei einer, und es heißt dann »Den Moment weggegangen!«, »Eben noch dagewesen!«, »Muß gleich wiederkommen, ist nur zum Umbruch!«

Umbruch!

Kann sich seine Zeit hübsch einteilen, der Egon. Selbst die ungeheuerliche Geschmacklosigkeit besitzt er, bereits ein Weib in die Wohnung zu bringen, am Vormittag, wenn Ulli, der vierzehnjährige Sohn, in der Schule ist und Margot unabkömmlich bei Dr. Vlies. In die Wohnung, jawohl! Und seit Monaten geht das! Nachbarinnen haben das Mädchen zuerst gesehen. Dann haben sie es Frau Heisterberg beigebracht. Schonend natürlich. Und Frau Heisterberg hat die Person einmal – durch einen glücklichen Zufall! – in Fleisch und Blut erblickt, als sie gerade das Haus verließ. Allein natürlich. Wird nicht Arm in Arm mit Egon losziehen. Ganz nahe ist diese junge, hübsche Rothaarige an Margot vorübergegangen!

Natürlich streitet Egon alles ab. Aber was Margot gesehen hat, das hat sie gesehen. Und wenn sie sich noch nicht scheiden ließ, so nicht etwa Ullis wegen, der ist schon mächtig selbständig und frühreif, nein, nur wegen der letzten fehlenden Beweise! Margot wird sie bald haben. Sie muß wissen, wie die Rothaarige heißt und wo sie wohnt. Dicht auf den Fersen ist Margot dem Luder. Ein paar Wochen noch, dann klappt die Falle zu. Dann soll Egon was erleben! Schuldig geschieden wird er werden, aber so! Die Wohnung wird er räumen müssen, und Alimente zahlen, jawohl! Dauert nicht mehr lange, die Herrlichkeit. Zu Weihnachten soll er längst ganz klein und arm und häßlich dastehen. Nur noch ein Weilchen muß man es aushalten mit ihm, gereizt natürlich, böse natürlich, ewig zankend. Was verdient so ein Hurenbock denn anderes? Vor dem Ulli nimmt Margot sich zusammen. Das Kind ist unschuldig. Ihr ein und alles. Ullichen darf nicht leiden.

So sitzen die Heisterbergs, falls der Egon zu Hause ist und nicht ›Dienst‹ hat, haha!, so sitzen sie dann abends am Fernsehapparat, denn Ulli sieht gerne fern. Die Eltern auch. Sie wüßten nicht, was sie sonst – außer streiten – tun sollten.

Ist es elf Uhr, manchmal zum Wochenende auch zwölf Uhr, stehen alle drei sofort auf, wenn der Apparat abgeschaltet wird. Ganz schnell! Vater und Sohn räumen weg, was herumsteht, Gläser, Flaschen, Aschenbecher. Mutter klopft die Kissen zurecht und lüftet, Ulli wäscht sich blitzartig und verschwindet, dann marschiert Vater ins Badezimmer, während Mutter noch in der Küche rumort. Kommt sie ins Badezimmer, ist Egon schon im Schlafzimmer. Und kommt sie ins Schlafzimmer, schläft er schon. Oder er tut so, als ob. Und sie legt sich neben ihn (könnte man auf der Couch im Wohnzimmer schlafen, wäre sie längst übersiedelt!) und tut auch so, als ob. Da liegen sie oft stundenlang wach. Und um ein, zwei Uhr morgens beginnen sie dann wieder zu streiten im Finstern, und sind fest davon überzeugt, daß Ulli nichts hört; der Junge hat einen so festen Schlaf. Gehabt! Jetzt schläft er nervös und wacht leicht auf, und dann hört er alles durch die Wand …

»Geld rausschmeißen für diese Mistweiber, und die eigene Frau kann arbeiten!«

»Zwinge ich dich? Machst es ja freiwillig!«

»Freiwillig! Ich mach’s, weil es sonst immer noch nicht reichen würde! Aber treib’s nur so weiter! Deine blauen Wunder wirst du erleben! Die Rothaarige, die hat das Faß zum Überlaufen gebracht!«

»Geht das wieder los!«

»Ist dir peinlich, was? Schlampe, gemeine! In die Wohnung von einem verheirateten Mann!«

»Ich sage es dir jetzt zum hundertsten Mal, ich kenne keine Rothaarige, habe nie eine gekannt! Du bist ja hysterisch!«

»Hysterisch, ja, das möchtest du wohl! Erzählst es ja auch überall herum! Aber ich arbeite bei einem Frauenarzt, und der weiß, ich bin die ruhigste und normalste Person von der Welt!«

»Ha! Hahaha!«

»Schriftlich gibt der mir das! Laß mich in Ruhe! Rühr mich nicht an! Du stinkst ja nach der Roten! Alle Roten stinken! Du genauso! Dein Haar am meisten! Übel kann einem werden, ähhh!«

»Ja, ähhh! Da hast du recht! Rackert man sich ab den lieben, langen Tag, und nachts darf man sich anklaften lassen!«

»Ach, du mein Armer! Hast dich wieder schwer abrackern müssen heute? Bist eben doch nicht mehr der Jüngste. Und so eine Rothaarige, so ein geiles, junges …«

»Halt jetzt den Mund, verflucht!«

»Schrei nicht! Du weckst den Ulli!«

Ja, den Ulli, den sie bereits vor einer Stunde geweckt haben und der sich alles anhört …

So also geht es zu bei Heisterbergs in mancher Nacht, und am Abend danach sitzt man wieder vor dem Flimmerkasten – wie heute, wie jetzt.

Ein langweiliger Abend ist das, ein schiet-feierlicher mit einem ganz miesen Programm. Der Ulli brummt und raunzt.

»Wollen wir nur noch den Mann zu Ende hören, dann drehen wir ab«, sagt Vater.

Der Mann ist der Professor Golo Mann, und er spricht zum Jahrestag der Errichtung der Berliner Mauer. Er warnt davor, alle Sowjetzonenpolitiker rundweg zu verteufeln und zu glauben, daß der Kommunismus mit Stumpf und Stiel ausgerottet werden kann und muß.

»Mensch, das ist ja selber ’n Kommunist!« sagt Ulli und trinkt Apfelsaft.

»Halt den Mund! Was verstehst du schon davon!« sagt Vater und trinkt Kognak.

»Ganz recht hat er«, sagt Mutter.

»Wollt ihr vielleicht ruhig sein?« knurrt Vater drohend und verschüttet etwas aus seinem Glas, als er es hinsetzt.

Und der Professor auf der Mattscheibe fordert dazu auf, jenen Menschen in der Zone zu helfen, die freiere, anständigere und produktivere Formen des Sozialismus erstreben, anstatt sämtliche Menschen, die dort irgend etwas mit Politik zu tun haben, in Bausch und Bogen zu verdammen.

»Die Mauer«, sagt der Professor, »ist eine Schmach für alle: Für das Deutschland von 1933 bis 1945, das dieses Elend vorbereitet hat, für die alliierten Politiker, die den Mauerbau nicht verhindern konnten und sich auch nicht gerade leidenschaftliche Mühe darum gegeben haben, und für die Bundesrepublik selber.«

»Bravo!« ruft Vater, der 1936 in die NSDAP eingetreten war, damit er Redakteur werden konnte, was zu sein ihm dann von 1945 bis 1949 verboten wurde. »Endlich einer, der die Wahrheit sagt! Was haben die Amis denn getan vor drei Jahren? Und die Franzosen? Und die Engländer? Und die braunen Brüder in Bonn?«

»Egon!« ruft Mutter empört. »Vielleicht reißt du dich wenigstens vor dem Kind zusammen! Du bist ja schon wieder blau! Wenn der Ulli alles in der Schule erzählt, was du im Suff daherredest …«

»Im Suff? Sag mal, was fällt dir …«

»Ich erzähle nie was!« mault der Ulli, unterbrechend.

»Du?« fährt Vater ihn an. »Jeden Piep erzählst du! Machst du doch am liebsten!«

»Laß den Jungen in Ruhe!« ruft Mutter. Sie trinkt in letzter Zeit abends auch ein wenig (die Nerven), und so fällt die pädagogische Wendung um 180 Grad ganz leicht: »Der Ulli weiß, was er aus dem Haus tragen darf und was nicht!«

»Das will ich meinen«, sagt Ulli. »Würdet schön dastehen, alle beide, wenn ich es nicht wüßte!«

»Was soll denn das heißen?«

»Na, wäre es dir vielleicht angenehm, wenn ich erzähle, daß du Mutter sechsundvierzig nur geheiratet hast, weil du damals nicht arbeiten durftest und Mutter eine heile Wohnung hatte und die Stelle bei Doktor Vlies?«

»Noch ein Wort und …«

»Und? Und? Was denn und?« Der Ulli ärgert sich gräßlich über diesen sabbelnden Professor, er hat gehofft, es würde eine schicke Show geben mit hübschen Mädchen oder wenigstens einen Krimi, und wenn es ›77 Sunset Strip‹ gewesen wäre, und weil er sich so ärgert, wird er nun frech, aber mächtig: »Und dann klebst du mir eine, Vater, ja? Dafür, daß ich nie was von den Babys erzähle, die Mutter bei Doktor Vlies hat wegmachen lassen …«

»Also, das ist doch …«

»Deine Erziehung, Margot!«

»… bis du nach der Währungsreform endlich wieder in einer Redaktion rumkriechen durftest und ein bißchen mehr Geld da war und ihr gedacht habt, jetzt könnt ihr euch mich leisten?«

»Du bist ja verrückt! Von wem hast du diesen Quatsch?«

»Von euch! Nicht mal mehr schlafen kann man in dieser Bude, weil ihr euch ausgerechnet in der Nacht anschreien müßt mit all dem! Und mit deinem Saufen, Vater, und mit deinem Keifen, Mutter, und mit deinen Weibern, Vater, und mit deiner Hysterie, Mutter, und mit dieser dämlichen Rothaarigen, die herkommt, wenn ich in der Schule bin und du bei dem ollen Kratzer, und mit der Vater dann in die Betten …«

Da hat er eine weg, daß ihm der Bonbon aus dem Mund fliegt, an dem er gelutscht hat. Er heult los.

Die Mutter schreit: »Mein Sohn wird nicht geschlagen, verstanden, Egon? Von dir nicht! Nicht von so einem wie dir!«

»Ach, Margot, weißt du, was du kannst? Du kannst …«

»Egon!!«

»Ich hab den Kanal voll!« brüllt der Ulli plötzlich los. »Mir reicht es jetzt mit unserer Ehe! Ich gehe zum Jugendamt! Ich will in ein Heim, aber sofort! Da habe ich wenigstens meine Ruhe!«

»… zwar«, sagt Professor Golo Mann, »vermochte die Bundesrepublik nach Westen hin schöne, konstruktive Erfolge zu erringen, doch diese waren nur möglich auf Kosten der Menschen in der Zone …«