… sie kümmert sich nicht mehr um ihn«, erzählt die Mitzi eine halbe Stunde später dann dem Dr. Rudolf Sylt, nachdem sie gelesen hat, was der Jürgen da für einen Inseratentext verfaßt hat, und während sie beide darauf warten, daß Pflegerin Dora den Jungen bringt. Darum hat die Mitzi nämlich gebeten. Sie will Jürgen etwas Gutes sagen, etwas, das ihm Mut macht. Sie weiß noch gar nicht, was!
Vielleicht war es verkehrt, überhaupt noch hierher zu kommen. Aber die Mitzi hat solches Mitleid mit diesem Jürgen, den sie noch nie gesehen hat, solches Mitleid, nachdem sie Fräulein Schilow gesehen hat. Kinder haben immer auszubaden, was Erwachsene anstellen, die Mitzi weiß es, sie hat es erlebt. So erklärt sich ihr Verhalten. Der Dr. Sylt hat die Mitzi beobachtet, während sie sprach, er hat seinen Walroßschnurrbart gestrichen und gelächelt und sich sein Teil gedacht.
»Sie hätten gern ein Kind und wären verheiratet, nicht wahr, Fräulein Szapek?«
Das sagt er sehr höflich und sehr freundlich, gar nicht unverschämt.
»Ja«, antwortet die Mitzi leise.
»Leider geben wir hier nur Tiere ab, keine Ehemänner und Kinder«, sagt Dr. Sylt, und sie lachen beide über den sehr kleinen Scherz. Durch das geöffnete Fenster hört man die Tiere: Hundegebell, Katzenmiauen, quiekende Meerschweinchen, kreischende Wellensittiche, singende Kanarienvögel. Es riecht nach Heu und Futter und ein bißchen nach Chlor.
»Was ist denn mit dem Jürgen seinen Eltern passiert, Herr Doktor?« fragt die Mitzi.
Der Arzt seufzt.
»Tja, die wurden geschieden. 1959 schon. Verschulden der Ehefrau. Der Junge wurde dem Vater zugesprochen, einem Ingenieur im ›VEB Hoch- und Tiefbau Wilhelm Pieck‹. Die Mutter ging nach Köln. Was ich Ihnen erzähle, habe ich alles vom Jugendamt. Ich weiß nicht, ob ich es weitererzählen darf. Hoffentlich. Denn ich glaube, Sie könnten Jürgen helfen. Sie haben so etwas Freundliches. Und er ist so verzweifelt!«
Sagt Dr. Sylt, der immer naiver wird mit den Jahren.
»Auch hier ist er verzweifelt?«
»Ach ja«, erwidert der Harmlose, »auch hier. Natürlich, die Tiere lenken ihn ab. Aber ist das genug?«
Eine dicke, bernsteinfarbene Katze kommt durch das offene Fenster gesprungen, reibt sich an seinem Bein und schnurrt. Er streichelt sie, während er weiterspricht. »Jürgens Mutter arbeitet nun in Köln als Verkäuferin in einem großen Warenhaus. Der Vater brachte hier eines Tages eine Freundin mit nach Hause.«
»Diese Marlene!«
»Diese Marlene, ja. Der Jürgen mochte sie vom ersten Moment an nicht leiden.«
»Das kann ich verstehen!«
»Ja, Sie, Fräulein Szapek! Aber der Vater … der verlangte von Jürgen, daß er ›Tante‹ und ›du‹ zu dieser Geliebten sagte.«
»Hat der natürlich nicht wollen!« Mitzi nickt.
»Natürlich nicht! Auch Fräulein Schilow konnte den Jungen nicht leiden. Also gab es dauernd Streit. Immer größere Sehnsucht nach seiner Mutter fühlte Jürgen. Und als er es dann nicht mehr aushielt, flüchtete er nach Westberlin, ließ sich in die Bundesrepublik fliegen und war in Köln.«
»Aber wie ist er denn nach Westberlin rüber?« erkundigt sich staunend die Mitzi.
»Ach, das war noch in der guten alten Zeit! Vor der Mauer. Gerade zwölf Jahre alt geworden war der Jürgen. Im Frühling 1961 ging er durch das Brandenburger Tor und sagte zu einem Westpolizisten: ›Ich bin ein politischer Flüchtling‹!«
Die bernsteinfarbene Katze schnurrt so laut, daß es klingt, als würde sie lachen.
»Und der Westpolizist, der hat ihn nicht stantepé zurückgschickt?«
»Der? Hätte sich doch den Hals gebrochen so!« antwortet der harmlose, naive Dr. Sylt. »Noch nichts vom Berliner Freiheitsgesetz gehört, Fräulein Szapek?«
»Nein!«
»Nun, es ist ja auch ein Westberliner Gesetz. Wurde vor langer Zeit erlassen. Besagt: Niemand darf zurückgeschickt werden, der älter als zwölf Jahre ist.« Dr. Sylt zuckt die Schultern unter seinem weißen Ärztemantel. »Und so kam Jürgen also nach Köln, zu seiner Mutti.«
»Und warum ist er nicht dort geblieben?«
»Weil das Leben wenig Mitleid hat mit Kindern und Tieren, Fräulein Szapek. So wie es hier nun eine Tante beim Vater gab, so gab es in Köln, bei der Mutter, natürlich einen Onkel. Der konnte Jürgen nicht riechen. Jürgen reagierte mit Frechheit. Wenn er frech wurde, verlor die Mutter die Nerven und schlug ihn. Dann stopfte sie ihn wieder voll mit Bonbons und weinte. Dann schlug sie ihn wieder.«
»A Jammer«, konstatiert die Mitzi. »Der arme Bub! Aber auch die arme Mutter! Freilich, sie hat sich ein neues Leben aufbauen müssen und sicher gehofft, der heiratet sie, dieser Onkel. Und da hat der Bub natürlich gestört.«
»Genauso ist es.« Der Tierarzt nickt. »Sie sagte es Jürgen auch. Und er sah es auch ein. Und fuhr zurück zum Vater.«
»Aber da war doch schon die Mauer!«
»Er versuchte es an der Zonengrenze. Bei Helmstedt. Immer an derselben Stelle.«
»Immer derselben Stelle? Ja, wie oft …«
»Sieben- oder achtmal floh und kehrte er zurück, glaube ich. Im Westen lief er stets zu seinem Pfarrer, der brachte Jürgen an die Grenze zu den Volkspolizisten und redete mit ihnen, und immer wieder ließen sie den Jungen rein. Hier, in Berlin, ging ein paar Wochen oder ein paar Monate später das alte Elend von neuem los. Und Jürgen riß wieder aus. Und die Volkspolizisten ließen ihn wieder durch, da bei Marienborn. Und er kam wieder nach Köln. Und da …«
»Nein«, sagt die Mitzi, »hörens auf, Herr Doktor, bitte! Schrecklich ist das. So ein armer Bub!«
»Und dabei ein so braves, liebenswertes Kind«, sagt Dr. Sylt, der selber eines ist, ein liebenswertes, braves, ewiges Kind. »Als Jürgen vor zwei Monaten zum letztenmal aus Köln zurückkam, da war sein Vater schon verhaftet, und dieses Fräulein Schilow, das brüllte sofort mit ihm herum. Es scheint, daß der Vater die ganze Situation nicht mehr ertragen konnte und in den Westen flüchten wollte – zu seiner Frau und zu Jürgen. Die Flucht ging nur schief. Für Fräulein Schilow war natürlich Jürgen schuld an allem! Das hätten wohl auch Sie und ich uns eingeredet, wenn wir Fräulein Schilow wären, nicht? Man muß sich auch in sie hineindenken.«
Die Mitzi denkt sich angestrengt in Fräulein Schilow hinein, aber sie findet: Nein! Nie und nimmer hätte sie sich eingeredet, daß der Jürgen schuld an allem ist!
»Nun ja, und dann griff das Jugendamt ein und brachte den Jungen zu uns. Weil er Tiere so gern hat. Fünfzehn ist er jetzt …«
Fünfzehn Jahre alt ist Jürgen Machon, der in seiner Herzensnot zum Jugendamt gelaufen ist, weil Vater und Mutter es nicht fertiggebracht haben, ihm gute Eltern zu sein, denen man vertrauen, mit denen man lachen und froh sein kann.
Vierzehn Jahre alt ist Ulli Heisterberg aus der Hasenauerstraße, auf der anderen Seite der Mauer, der zum Jugendamt laufen will, weil er es nicht mehr aushält zu Hause, weil seine Eltern es nicht fertigbringen, so miteinander zu leben, daß der Ulli ihnen vertrauen und mit ihnen lachen und froh sein kann.
Ein Jahr und eine Mauer liegen zwischen dem Jürgen und dem Ulli. Sie würden sich gewiß gut verstehen und einander viel zu erzählen haben, wenn sie sich jemals träfen.
Nur werden sie das wohl nie tun.