Die bernsteinfarbene Katze auf Dr. Sylts Schoß hat es natürlich schon vor fünf Sekunden gewittert, die Ohren gespitzt und sich aufgerichtet – jetzt klopft es.
»Herein!«
Jürgen Machon kommt ins Zimmer, macht eine tiefe Verbeugung und sagt: »Sie haben mich rufen lassen, Herr Doktor?«
Ein kleiner, magerer Junge ist der Jürgen für sein Alter, aber zäh! Das sieht man. Einen feinen, zarten Gesichtsschnitt hat er, die schwarzen Haare sind dicht und zerzaust, die schwarzen Augen sehr, sehr groß und sehr, sehr ernst. Er trägt einen sauberen blauen Monteuranzug, eine Plastikschürze darüber.
»Warst du grade beim Füttern, Jürgen?«
»Bei den Hunden, Herr Doktor.« Fragend ruht Jürgens Blick auf Mitzi. Die hat, als er eintrat, auf einmal ganz heftig an ihre Jugend in Wien denken müssen, an Defloration, Mutters Tod, die Wohnung im Dritten Bezirk, ihre Puppen; eingefallen ist ihr der Wunsch, den sie als Zwölfjährige ausgesprochen hat: »Wenn ich einmal groß bin, möcht ich drei Kinder haben! Nur Buben!«
Da steht nun so ein Bub, und die Mitzi, die eben noch nicht wußte, was sie ihm sagen würde, weiß es auf einmal genau.
Sie nennt ihren Namen, während sie aufsteht und Jürgen die Hand gibt (er macht einen Diener), und sie erzählt schnell. Daß sie einen Herrn kennt, der Jürgen Vater in Brandenburg traf, und daß der Vater diesem ans Herz gelegt hat, ihn, den Jürgen, zu besuchen.
»Mich?« fragt der Junge ungläubig.
»Ja, dich! Der Herr kann nur leider nicht selber kommen, er hat so viel zu tun. Drum werd’ ich mich kümmern, wenn’s dir paßt …«
»Nehmen Sie doch Platz, Fräulein Szapek«, sagt der Arzt. »Und du setz dich auch, Jürgen.«
»Danke«, sagt Jürgen, während er sich (nach Mitzi!) setzt. »Wie geht es meinem Vater?«
»Deshalb komme ich ja. Gut geht es ihm«, quillt es aus Mitzis Mund hervor. Lüge, Wahrheit – ganz gleich! Der Junge da, wenn sie einen solchen hätte, je haben könnte, mit dem Bruno zusammen! »Sehr gut, sollst du wissen. Er läßt dich grüßen und dir sagen, daß er dich sehr, sehr lieb hat.«
»Ach«, sagt der Junge.
Die Mitzi improvisiert: »Und daß du ihn bald wirst besuchen können, der Herr Doktor und das Jugendamt werden dir helfen dabei, gelt, Herr Doktor? Und er freut sich schon auf das Wiedersehen, du bist doch sein alles! Die Zeit wird vergehen, du sollst nur brav bleiben, und du darfst nicht traurig sein. Wenn er sich gut führt, wird er früher entlassen, und dann« (verfluchte Likör-Schlampe!), »dann schmeißt er die Tante hinaus und ist nur für dich da!«
»Hat er das wirklich gesagt?«
»Wirklich!« lügt die Mitzi. (Wenn der Liebe Gott mir das nicht verzeiht, dann möchte ich lieber nichts zu tun haben mit so einem Lieben Gott. Aber natürlich verzeiht er mir.)
Der Tierarzt zieht an seinem Bart und lächelt breit, und die Katze schnurrt wieder.
»Na, Jürgen! Ist das nicht eine gute Nachricht? Freust du dich?«
»Ich freue mich sehr, Herr Doktor.«
»Und du glaubst mir doch?«
»Ich glaube Ihnen, Fräulein Szapek. Denn wenn mein Vater nichts für mich übrig hätte, wäre er ja nicht geflüchtet!« Der Jürgen holt ein Etui aus dem Anzug. »Darf ich mir gestatten?« Er offeriert Mitzi und dem Arzt Zigaretten, beide nehmen eine, auch Jürgen bedient sich. Aber er hält seine Zigarette zwischen den Fingern, während er der Mitzi und dem Doktor Feuer gibt. Erst dann klemmt er sich die eigene zwischen die Lippen. Er bläst Rauch durch die Nasenlöcher und sagt, immer ernst, fast feierlich: »Es war nur das Pech, daß wir uns verpaßt haben. Wir sind einfach aneinander vorbeigereist. Wäre ich ein bißchen früher zurückgekommen, hätte ich Vater noch hier getroffen, und das an der Saale wäre nicht geschehen …«
»Was ist an der Saale geschehen?«
»Da wurde er verhaftet, mein Vater. Unsere Firma – ich meine, die Firma, für die er arbeitete – ist doch an dem Projekt beteiligt, so kam er hin. Er hat sich freiwillig gemeldet. Natürlich nur, um zu uns nach Köln zu flüchten, zu Mutti und mir.«
Die Mitzi hat von dem Projekt Saaletalbrücke gelesen und sich ihre Gedanken gemacht. Da bauen sie also in Berlin eine Mauer und sperren ihr Volk ein, und gleichzeitig bereiten sie, schon seit 1960, den Bau einer Brücke vor, zu dem verrotteten Westen hinüber!
Diese Autobahnbrücke auf der Strecke Berlin–München wurde 1936 gebaut. Fünfundvierzig Meter tief lag das Saaletal unter ihr, da bei Hirschberg.
1945 arbeiteten Wehrmachtpioniere eine ganze Nacht, um alle Dynamitladungen anzubringen, die nötig waren, damit die große Brücke hochflog. Sie waren sehr erbittert über das, was sie tun mußten, erbittert über die Sinnlosigkeit. Durch das Sprengen der Brücke sollte die amerikanische Panzerspitze aufgehalten werden, die aus dem östlichen Frankenwald in Richtung Plauen vorstieß.
Die Pioniere wußten: Ohne Brücke würden die Panzer eben das Tal durchqueren, es würde länger dauern, das Schlachten – aber das Ende war nicht mehr aufzuhalten. Gab da jedoch einen Hauptmann, der nur brüllen konnte, und einen ›Führerbefehl‹: »Alle Brücken sind sofort zu sprengen!«
So flog die Saalebrücke also im April 1945 in die Luft. Im Mai kapitulierte Deutschland bedingungslos.
Nachdem es dann zwei Deutschlands gab, wurde die fehlende Brücke immer schmerzlicher vermißt. Denn alle Autofahrer von München nach Berlin oder umgekehrt mußten nun einen dreißig Kilometer langen Umweg über Töpen – Juchhöh fahren, auf einer Straße, die von Jahr zu Jahr elendiglicher wurde, obwohl man sie immer wieder reparierte. Auf dieser Straße fährt eben alles – leichteste Sportwagen und schwerste Zehntonner mit Anhänger.
Rund 400000 Autos jährlich rollen über diese Umgehungsstraße. Bereits Ende 1960 haben erste Verhandlungen über den Wiederaufbau der Brücke begonnen. Anfang 1964 sind sie in Westberlin, zwischen dem Leiter der Treuhandstelle für Interzonenhandel, Dr. Kurt Leopold, und einem Vertreter des Ostberliner Verkehrsministeriums, dem Bauingenieur Siegfried Kasper, zum Abschluß gekommen. Die Zonenbehörden haben sich bereit erklärt, die Brücke wiederaufzubauen. 1966 soll sie fertig sein. Bezahlen wird das Unternehmen die westdeutsche Bundesregierung. Fünf bis sechs Millionen Mark muß die dafür an Ostberlin abliefern.
Seit der Zweiteilung Deutschlands wurden auf dem bayerischen (also westdeutschen) Teil der Brücke, der stehengeblieben ist, ständig Posten der Grenzpolizei und des Zollgrenzschutzes stationiert. Täglich richten sich Kameralinsen von Touristen auf die Trümmer da unten im Saaletal.
Der andere Brückenteil, der stehengeblieben ist, liegt im Thüringischen (im Osten also), und da gibt es nur Balkensperren und Stacheldraht.
Ein Riesentheater war das noch, bevor man sich endgültig zum Start entschloß. Zuerst verlangte die Zone, daß die ganze Baustelle von Volksarmisten bewacht werden müsse. Endlich verzichtete sie darauf. Weil aber ein gesprengter Brückenpfeiler auf westdeutschem Gebiet liegt, muß die gesamte Baustelle eingezäunt werden. Rechts und links der Autobahn wird ein übermannshoher, hundert Meter langer Zaun errichtet. Damit die Arbeiter aus dem Osten nicht flüchten können. Gibt natürlich Aufpasser in Zivil unter ihnen. Sie dürfen nicht schießen, hat der Westen verlangt. Gut, hat der Osten gesagt. Und wenn doch einer schießt, dann soll es Grenzpolizisten der Bundesrepublik gestattet sein, die eingezäunte Baustelle zu betreten. Der bundesrepublikanische Grenzschutz bekommt zu diesem Behufe einen Schlüssel. Mit dem kann man ein Tor im Zaun aufschließen.
Die Zone verlangt von jedem Fahrer aus Westberlin oder Westdeutschland seit jeher eine Gebühr für die Benützung der Ost-Autobahnen. In D-Mark West. Die Bundesrepublik baut ihr Autobahnnetz aus. Also kann die Zone damit rechnen, daß sehr viele Autos über die neue Saaletalbrücke fahren werden. Wird noch mehr Geld hereinkommen.
Nicht daß da jemand glaubte, es ginge der Zone um die dreckigen D-Mark. Um das Prinzip geht es und um die Ordnung! Deshalb stritt man acht Wochen darüber, ob der Zaun zwei Meter oder zwei Meter fünfzig hoch sein sollte. Man einigte sich dann auf zwei Meter zwanzig.
Der ›VEB Hoch- und Tiefbau Wilhelm Pieck‹ in Berlin-Weißensee arbeitet an der Brücke mit. So sah Ingenieur Machon nun also eine Gelegenheit …
»So sah Vater nun also eine Gelegenheit«, sagt Jürgen Machon im Tierschutzheim am Verlorenen Weg ernsthaft zu Mitzi. »Ich habe herumgehört, wie das war. Er fuhr hin. Den Zaun gab es schon, aber noch keinen Stacheldraht drauf …«
Es gab auch noch nicht die fünfundfünfzig Kadmiumlampen auf hohen Masten, von denen jede tausend Watt stark war und die zwei Monate später, in einem riesigen Dreieck angeordnet, die Baustelle und das umliegende Zonengebiet vom Einbruch der Dämmerung bis zur Morgenfrühe gleißend hell erleuchten. Auch den Bunker mit den Scherenfernrohren gab es noch nicht. Es war alles noch im Entstehen. Ingenieur Machon versuchte über den Zaun zu kommen. Aber er hatte ein lahmes Bein, vom Krieg her. Zweimal glitt er ab und fiel zu Boden. Posten hörten Geräusche …
»Hätte sich mit mir beraten sollen. Ich kenne mich in solchen Sachen besser aus. Morli hat übrigens Durchfall, Herr Doktor.«
»Da muß ich mal nachsehen«, sagt der Tierarzt und steht schnell auf. »Ich bin gleich wieder da.« Schon ist er weg. Natürlich, er will die beiden allein lassen …
Sehr beklommen fragt die Mitzi: »Wirst du es aushalten können hier, Jürgen?«
Ernst schüttelt der Junge den Kopf.
»Aber du hast doch Tiere so gern!«
Jürgen zuckt die Schultern.
»Und der Herr Doktor ist doch sehr nett zu dir, nicht?«
»Sehr, ja.«
»Na also!«
»Ich werde trotzdem wieder ausreißen. Zu Vater kann ich nicht. Nach Hause auch nicht. Ich will zu Mutter. Auch wenn ich ihr im Weg bin und sie sich mit mir kein neues Leben aufbauen kann. Das muß sie doch einsehen, daß ich zu ihr komme, nicht? Sie ist doch meine Mutter!«
»Aber«, flüstert Mitzi beklommen, »wie willst du denn jetzt noch rüber?«
»Das weiß ich nicht. Bei Marienborn geht es nicht mehr. Die Vopos haben gesagt, nun ist Schluß. Das nächstemal schießen sie. Ich werde trotzdem einen Weg finden.«
»Jürgen«, ruft da die Mitzi, die so gerne, so gerne selbst Eltern gehabt hätte, Vater und Mutter, als sie heranwuchs, »bitte, lieber Jürgen, tu nicht gleich was! Wart noch ein paar Tage!«
»Worauf?«
Mitzi hat kein Gefühl mehr dafür, wie gefährlich das ist, was sie sagt: »Ich kenn jemanden, der weiß vielleicht, wie du in den Westen kommst … Eine Woche, Jürgen! Wart noch eine Woche! Wenn du bis dahin keinen Bescheid von mir hast, tu, was du willst. Aber so lange wart! Versprichst du es mir?«
Lange sieht Jürgen sie an.
Dann meint er mit einem Achselzucken: »Na gut. Was ist schon eine Woche?«