… die du unseren Leuten sagen mußt«, liest der Kommissar Bräsig die Mitteilung zu Ende. Er sitzt in Brunos Zimmer in der Gotlindestraße, es ist 18 Uhr 30. Nach seiner Heimkehr von der Arbeit hat Bruno sofort in der Warschauer Straße angerufen und den Erhalt der Nachricht gemeldet. So war es befohlen.
Der Kommissar kam eine Viertelstunde später, zu Fuß. Den Wagen muß er irgendwo stehengelassen haben. Bruno hat noch keine Zeit gefunden, zu baden. Dreckig sitzt er da in seiner Kluft. Mitzi weiß, daß sie jetzt nicht hereinkommen darf.
Bräsig lacht: »Prima macht der Pastor das! Treff 23 Uhr 15. Das heißt, daß natürlich schon viel früher Leute flüchten. Seine Leute – immer dasselbe ….«
»Immer dasselbe?«
»Bei meinen Leuten. Ist doch nicht doof, der Pastor. Sobald Sie wissen, wo der Tunnel ist, sobald Sie die Parole kennen, muß Oslanski damit rechnen, daß wir eingreifen.«
»Det is richtich …«
»Deshalb geht er stets so vor. Dieser junge Mann, der Ihnen den Brief gab, trug Handschuhe, was?«
»Ja …«
»Also auch keine Fingerabdrücke. Meine Hochachtung.« Bräsig singt, mächtig falsch: »Denn ein Haifisch ist kein Haifisch, wenn man’s nicht beweisen kann!«
Schlau, denkt Bruno bewundernd. Ach, überhaupt, dieser Pastor …
Bräsig sagt: »Also werden wir Sie da in der Nähe absetzen um 23 Uhr 15. Etwas früher. Und uns im Hintergrund halten. Sie bekommen Parole und Anweisungen und ziehen los. Keine Angst, wir ballern nicht sofort! Wir lassen Ihnen Zeit! Wir warten mindestens noch eine halbe Stunde.«
»Muß Ihnen aba mächtig liejen an den Kerl in’n Westen, Herr Kommissar.«
»Das kann man wohl flüstern. Für den lassen wir gern ein paar Dutzend rüber. Eingreifen werden wir erst, wenn Sie nach menschlichem Ermessen drüben sein müssen. Dann allerdings bleibt uns nichts anderes übrig. Kann ja schließlich nicht die ganze DDR emigrieren durch den Tunnel, nicht? Wirkt außerdem erst richtig echt mit einer kleinen Schießerei und so. Na, wie fühlen Sie sich?«
»Mies«, sagt Bruno. »Obermies.«
»Ach was, Herr Knolle! Jetzt nicht die Nerven verlieren. An die Kneipe denken! Noch ein paar Tage hier rumkutschieren – dann ab! Zwei Tage brauchen Sie drüben – länger nicht. Was ist das schon?«
»Aba ick hab doch noch imma nich die leiseste Ahnung …«
»Kommt alles, kommt alles.« Bräsig trägt wieder den grau-grünlichen alten Anzug. Hat der Mann keinen anderen?
Er spielt mit dem Briefbogen. »Sagen Sie mal, Herr Knolle, haben Sie die Mitzi eigentlich gern?«
Vorsicht, Bruno! Falle?
»Det hat se Ihn’ doch jewiß azählt, Herr Kommissar.«
»Hat sie. Und es stimmt auch? Freut mich, freut mich! Die Kleine ist ganz verknallt in Sie! So ein niedlicher Käfer! Wenn Sie zurückkommen, Herr Knolle, dann haben Sie auch gleich die richtige Frau für Ihre Kneipe. Ist das etwa kein schönes Gefühl?«
»Doch, Herr Kommissar.«
»Nun enttäuschen Sie die Mitzi nicht. Hätte sie nicht verdient. Ein ordentliches Mädchen ist das. Ich kenne sie so viel länger als Sie.« Bräsig steht auf. Immer der gute Psychologe, sagt er nun zum Schluß: »Sie darf dann nämlich hier weg, wenn Sie zurück sind. Das habe ich durchgesetzt. Also, tschüß, Herr Knolle. Muß weitermachen. Wir werden uns noch ein paarmal sehen. Sie hören von mir.« – Fort ist er.
Bruno setzt sich und starrt aus dem Fenster, hinüber auf den Friedhof. Er zählt die Gräber. Bis hundert. Dann fängt er wieder an. Dann noch einmal. Dann klopft es an der Badezimmertür, ganz zaghaft.
»Ja?«
Die Mitzi kommt herein.
Sie ist noch immer als ›Dame‹ verkleidet, auch sie hat sich noch nicht umgezogen, und ihre Augen suchen Brunos Augen, erwartungsvoll, hoffnungsvoll. »Schon lang weg, der Bräsig?«
»Mhm.«
»Es geht also los?«
»Mhm.«
Bruno bleibt sitzen. Mitzi steht nun vor ihm. Er will ihre Hand nehmen, aber seine ist schwarz von Kohlenstaub. Er zögert. Da packt Mitzi sie und hält sie fest, ganz fest. »Hat … hat er dir gesagt, daß sie mich laufenlassen, wenn du zurückkommst?«
»Mhm.«
»Und daß wir das Beisel zusammen haben können dann?«
Oh, das hält Bruno nicht aus! Er nickt nur noch. Dann fragt er rasch: »Und wat war nu mit die Schilow und den Jungen?«
Und die Mitzi sagt ihm, was da war. Und die ganze Zeit klammert sie sich an seine Hand. Als sei die der einzige Halt, den sie noch hat im Leben. Der letzte. Der allerletzte.