Also am 6. August 1964 erhielt Bruno die Nachricht, daß er am 13. August 1964 flüchten kann. In den Tagen dazwischen hat er noch viel zu tun – bei Bräsig und privat.
Nach dem Fehlschlag aller Bemühungen, Kontakt mit Kumpels von früher aufzunehmen, steht es fest: Bruno muß in den Westen. Er muß tun, was Bräsig will. Erst im Westen wird er dann – vielleicht! – eine Chance haben, zu tun, was er will. Deshalb muß er sich schleunigst mit der Geographie des Westens vertraut machen. Da hilft ihm die Mitzi. Sie besitzt eine Karte von ganz Berlin. Hat sie gut versteckt. Jetzt holt Mitzi die Karte. Bruno studiert sie jeden Abend, bis er sich wirklich wieder auskennt im Westen. Die haben aufgebaut! Na ja, mit genügend Penunse … Eine Million Mark am Tag, hat Bruno im Zet gehört, stecken die Amis in Westberlin.
Natürlich muß er aufpassen, daß die Mitzi nicht mißtrauisch wird zu guter Letzt, argwöhnisch, ängstlich. Die hat zu glauben, daß er zurückkommt. Deshalb erzählt er ihr: »Muß wissen, wie det aussieht drüm, vastehste? Wenn ick vafoljt wer von Schupos oda so.«
»Ja, i versteh …«
»Aber den Bräsig sagste nischt. Der gloobt sonst, ick will türmen!«
»Ka Wort sag i dem! Für was haltst du mich denn? Du, Bruno …«
»Wat is?«
Sie sieht auf einmal so betreten aus, daß er Angst hat, sie wird gleich anfangen vom Heiraten und von der Kneipe. Aber das tut die Mitzi nicht.
»I muß dir was beichten … War net recht von mir … aber er hat mir so leid getan … Nur darum hab ich’s versprochen!«
»Wem? Wat?«
»Dem Buben im Tierschutzheim, dem Jürgen Machon. I hab gsagt, i weiß vielleicht, wie er zu seiner Mutti kommen kann – weil er doch solche Sehnsucht hat! Und weil, wenn du rüber gehst durch den Tunnel, er doch mitgehen kann … Schau mich net so bös an!«
Er hat sie wirklich böse angesehen.
Verdammt, das fehlte ihm noch, so ein Knabe! Was ist der Mitzi bloß eingefallen? Blufft sie? Nein, sie sagt die Wahrheit. Man sieht immer gleich, wenn sie lügt. Dieser Geburtsfehler hat ihr schon so viel Unglück gebracht.
Bruno überlegt schnell: Wenn ich jetzt wütend werde und sie anschreie, habe ich sie zur Feindin. Das geht nicht. Freundlich muß ich bleiben. Nachgeben. Schließlich: Was kann der Bräsig tun, wenn mir ein Junge nachgeht auf dem Weg zum Tunnel? Bevor ich nicht drüben bin, ballert der SSD nicht los. Gar nichts kann der Bräsig also tun. Mir nicht, und nicht dem Jungen. Und wenn die Mitzi, das arme Luder, es nun mal versprochen hat, diesem anderen armen Luder …
»Ick kieke ja jarnich böse, Mitzi! Ick war bloß ’n Moment aschrocken. Meinetwejen jeh noch mal hin zu Jürgen. Sag ihm, er soll am Dreizehnten um 23 Uhr 15 Weinbergsweg Ecke Zehdenicker sein. Azähle ihm, wie ick aussehe. Wenn ick losziehe, soll er mir nach jehn. Nich zu schnell, nich zu langsam. Ick werde doch von SSD beobachtet. Aber die tun mir nischt, die wolln mir ja drüm ham! Also werden se ooch ihm nischt tun, wenn er jeschickt is. Jeht natürlich uff eijene Jefahr. Und anquatschen darf er mir nich! Nie! Uff keen Fall! Sonst passiert uns beede noch wat.«
»Der quatscht di net an, Bruno!« ruft die Mitzi glücklich.
»’n jutet Jefühl hab ick nich bei die Sache … aba bitte«, sagt er.
Und so besucht Mitzi das Heim ein zweites Mal.
Der walroßbärtige Dr. Sylt freut sich über ihr Erscheinen: »Jürgen war so vergnügt vorgestern, liebes Fräulein. Es braucht eben doch jeder Mensch einen Menschen … Und für den Jürgen sind Sie bereits so etwas wie eine … eine Mutter. Eine sehr junge, sehr nette …«
Wegen dieses Kompliments genieren sich beide. Dr. Sylt, der ohnedies eine rote Gesichtsfarbe besitzt, läuft richtig violett an. Dann läßt er Jürgen rufen, und als der kommt, eilt er davon. Muß sich um die Strupp-Meerschweinchen kümmern, brabbelt er …
Der Junge hat sofort begriffen, warum die Mitzi da ist. Sein Blick flackert. »Ja?«
»Ja!«
»Wann?«
Die Mitzi erklärt alles flüsternd. Danach fällt Jürgen ihr um den Hals, preßt sie an sich und küßt sie auf beide Wangen.
Und die Mitzi muß wieder einmal weinen.
»Viel Glück«, flüstert sie. »Grüß deine Mutti von mir …« Und sie eilt fort, ohne sich von Dr. Sylt zu verabschieden.
Bruno sitzt zur gleichen Zeit mit dem Kommissar Bräsig im Café ›Bienenkorb‹, nicht weit entfernt vom Alexanderplatz. Ein winkeliges, plüschiges Lokal ist der ›Bienenkorb‹. Viele Nischen gibt es da, in denen sitzen gegen Abend Liebespaare. Jetzt, um die Mittagsstunde, ist es leer und trübselig hier.
Die Herren trinken Wodka. Bräsig trägt einen zerknautschten khakifarbenen Anzug (so hat er doch noch einen anderen!), und er spielt dauernd mit den buschigen grauen Augenbrauen. Bräsig ist nervös. Bruno kann’s ihm nachfühlen. Er ist selber nervös.
»Also passen Sie auf, Herr Knolle«, sagt der Kommissar. »Drüben leben zwei alte Freunde von Ihnen: Ihr bester, der Oskar Knargenstein, mit dem Sie so viele Dinger gedreht haben, dem seine Tante die Klitsche in Glienicke vererbt hat …«
»Woher wissen Sie …«
»Wir wissen es eben. Wir wissen fast alles, wie der Hauptreferent Ihnen ja seinerzeit erklärt hat. Das ist ein Gedanke, mit dem Sie sich nun schnellstens befreunden müssen, Herr Knolle. Und danach einrichten – Sie verstehen, was ich meine?«
Bruno nickt.
Junge, Junge, wird das eine Sache werden! Wie ein Mann kommt er sich vor, der in einen Wald hineingeht, in dem es immer finsterer und finsterer wird.
»Wo der Knarje – so nennen Sie ihn doch – zur Zeit wohnt, weiß ich im Moment nicht. Jedenfalls in der Stadt. Der Wirt von eurem alten Stammlokal, dem ›Schwarzen Schimmel‹ in der Chimanistraße, wird Ihnen die Adresse geben. Auch die von Ihrem zweiten Freund, dem Arthur Pokay. Sehen Sie mich nicht so an! Ich habe Ihnen doch gesagt, wir wissen fast alles.«
Der Bruno schluckt einen Kloß herunter, der ihm im Hals sitzt. Den Kloß gibt es gar nicht. Er geht trotzdem nicht herunter.
»Und?«
»Und mit den beiden setzen Sie sich zusammen. Sie haben ein Ding ausbaldowert, sagen Sie. Todsicher!«
Bruno knurrt: »Todsicha. Sichra Tod für wen?«
»Blödsinn! Sie wissen, was ich meine. Bei der Sache kann überhaupt nichts schiefgehen!«
»Nee?«
»Nee. Ich sage Ihnen natürlich noch nicht, wie der Mann heißt, den Sie entführen sollen, aber das sage ich Ihnen: Es ist ein reicher Mann! Ein Mann, der viel Geld im Hause hat! Weil er dauernd Barzahlungen leisten muß. Das Geld liegt in einem Tresor.«
»Erst mal rankommen«, sagt Bruno.
»Natürlich müssen Sie erst mal rankommen. Werden Sie auch. Ohne weiteres.«
»Aha. Und wie?«
»Sie bekommen Uniformen.«
»Wat kriejen wa?«
»Uniformen. Von Westpolizisten.«
Der Bruno verschluckt sich vor unterdrücktem Gelächter.
»Schnauze«, sagt Bräsig, sehr leise. »Kein Theater hier, ja?«
»Ogottogottogott«, stöhnt Bruno überwältigt. »Knarje, Pokay und ick – als Polente!«
»Wie Sie in das Haus kommen, erfahren Sie rechtzeitig. Was Sie zu tun haben, auch. Und der Tresor ist eure Sache. Bequemer könnt ihr es eigentlich wirklich nicht haben.«
»Und wenn nu nischt drin is in den Tresor?«
»Herr Knolle«, sagt Bräsig gereizt, »halten Sie mich bitte nicht für einen Idioten. Was hätte ich davon, wenn ich lüge? Daß zum mindesten Ihre beiden Freunde sofort abhauen. Allein schaffen Sie den Mann nie herüber. Selbstverständlich liegt Geld drin.«
»Hm …« Das Argument hat Bruno überzeugt. Trotzdem fragt er noch: »Wieviel?«
»Wieviel was?«
»Wieviel Geld hat der Mann im Hause?«
»Mindestens fünfzigtausend Mark.«
»Wennt wahr is.«
»Hören Sie, Herr Knolle, das müssen Sie mir schon glauben! Sie müssen mir jetzt überhaupt eine Menge glauben, und eine Menge tun, sonst …«
»Ja, ja, ick weeß, sonst verständijense die Westkripo wejen die BVG-Sache.«
»Genau. Dem Knarje und dem Pokay sagen Sie sofort, daß Sie den Mann entführen sollen.«
»Det soll ick sagen?«
»Ja, das sollen Sie sagen. Immer mit der Wahrheit, Herr Knolle! Wo es nur geht. Die beiden müssen Ihnen doch helfen, den Herrn dann ein Stückchen zu transportieren. Dafür dürfen sie das ganze Geld behalten und auch sonst noch mitnehmen, wozu sie lustig sind. Gibt eine Masse Antiquitäten und Schmuck da. Die Sore können die beiden dann bei Ihrem alten Freund, dem Bauern in Eiskel1er, verstecken. Ja, von dem weiß ich auch. Hören Sie endlich mit dieser Anglotzerei auf.«
»Ach, Herr Bräsig, Sie sind doch keen Unjeheua! Könnense mir nich loofenlassen?« Der Bruno schnüffelt wieder einmal, ihm ist sehr flau.
Dem Kommissar plötzlich auch.
»Noch zwei doppelte Wodka, Fräulein!« ruft er. Und leise sagt er: »Nein, ich kann Sie nicht laufenlassen, Herr Knolle. Der ganze Apparat läuft schon. Nicht mehr zu stoppen.«
Bruno senkt den Seehundskopf und schnieft schrecklich.
»Tut mir leid, Herr Knolle.«
»Kann ick mir wat koofen for!«
»Zwei doppelte Wodka, die Herren.«
»Danke schön, Fräulein. Also, Herr Knolle, nun sind Sie wieder vernünftig, ja?« (Vernünftig, vernünftig!) »Ihre Freunde werden garantiert mitmachen.«
»Und wenn nich?«
»Es geht ihnen beiden schlecht. Sie brauchen Kies.«
Pause.
Dann sagt Bruno: »’ne Frage is doch alaubt, nich? Wird der Mann sich einfach so entführn lassen?«
»Der wird überhaupt erst merken, daß er entführt wurde, wenn er hier bei uns ist.«
Bruno fährt zusammen: »Ick soll ihm ’ne Spritze vapassen?«
»Kluger Junge! Hat sie nicht gewirkt bei Ihnen, die Spritze?«
»Ja, det schon …«
»Sehen Sie.«
»Abo wir könn den Mann doch nich durch die janze Stadt zerren in den Zustand!«
»Sollt ihr auch gar nicht. Er hat einen Wagen. Weshalb, glauben Sie, habe ich dafür gesorgt, daß Sie sich wieder ans Fahren gewöhnen? Sie nehmen seinen Wagen aus der Garage. Ist ein viertüriger, großer. In den können Sie ihn leicht verladen.«
»Und wenn uns wer uffhält untawejens?«
»Wenn Sie wirklich aufgehalten werden, sind Sie eben drei Schupos, die einen Besoffenen in seinem Wagen heimkarren. Kann überhaupt nichts passieren. Überhaupt nichts, Herr Knolle!«