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12. August 1964, 16 Uhr 07.

Diesmal sitzen Bräsig und Bruno im Büro des Kommissars. Sehr schwül ist es an diesem Nachmittag, schwarze Wolken sind aufgezogen, Windstöße fahren durch die Straßen, es blitzt. Gleich wird das Gewitter losbrechen.

Auf dem Schreibtisch des Kommissars steht ein Transistor-Radio. Eingeschaltet. Die beiden Männer lauschen einer Sprecherstimme: »… sowohl in West- wie in Ostberlin große Unruhe und Empörung unter der Bevölkerung gemeldet. Am 13. August werden die Machthaber des KZ-Staats, der sogenannten DDR, alle Mittel der Bedrohung, Einschüchterung und Überwachung anwenden müssen, um einen Aufstand …«

Es blitzt und donnert. Im Apparat kracht es.

Sind wirklich viele Berichte über Unruhen eingelaufen, denkt Bräsig. Haben sie sich verdammt gut ausgedacht, die mit ihrem Tunnel. In dem Wirbel, der da losgehen wird am Dreizehnten, hier und drüben, kann man natürlich leichter flüchten.

»… inzwischen«, tönt die Sprecherstimme weiter, »wurden auch die letzten Lücken in der Zonengrenze zwischen Ostsee und Thüringer Wald in ununterbrochener Tag- und Nachtarbeit geschlossen. Mehr als tausend Kilometer lang ist nun der Doppelzaun. Fast alle Schlupflöcher, durch die bisher noch Flüchtlinge in die Bundesrepublik gelangen konnten, sind verstopft, Schneisen sind in die Wälder entlang der Grenze getrieben worden, um freies Schußfeld, freien Raum zur Beobachtung der Stacheldrahthindernisse und der Minen zu schaffen …«

»Erkennen Sie die Stimme?« fragt Bräsig.

Bruno nickt, »Ja«, sagt er heiser. »Det issa. Det is der Franz Lutta.«

»Sehr richtig«, sagt Bräsig.

Wieder blitzt es, grell diesmal, sofort kracht der Donner hinterher – und dann beginnt der Regen zu prasseln, so dicht, daß man das Haus gegenüber nicht mehr erkennen kann. Blitz folgt auf Blitz, Donnerschlag auf Donnerschlag, große Hagelkörner knallen gegen das Fenster. In dem Lautsprecher des Radios knattert es ununterbrochen.

»… wie Experten festgestellt haben«, berichtet weiter der Sprecher des Senders Freies Berlin, Franz Lutter, »werden von der Zonenarmee hauptsächlich zwei Sorten von Minen verwendet: Kastenminen, die bei der leisesten Berührung explodieren, und dazwischen, an Pfeilern, die in der Sowjetarmee gebräuchlichen Schützenminen, die auf Zug reagieren und ihre Splitter in einem Umkreis von dreißig Metern streuen …«

»Guter Sprecher«, lobt Bräsig.

»… nach amtlichen Meldungen sind in diesem Jahr bisher mehr als zweitausend Minen detoniert. Frost oder Tauwetter lösten dabei oftmals Kettenreaktionen aus. Im südlichen Niedersachsen und im Oberharz zählten Förster und Zollbeamte über sechshundert Explosionen. Sie wurden fast immer durch Tiere ausgelöst. Allein im Südharz fand man zwanzig von Minen zerfetzte Rehe, verendetes Rotwild und Wildschweine. Jagdverbände schätzen, daß 1964 bisher rund vierhundertfünfzig Stück Hochwild an der Zonengrenze umgekommen sind. Förster stießen nach Detonationen auf noch lebendes Rotwild, dem die Läufe aus den Gelenken gerissen waren, auf Hirsche ohne Unterkiefer, die umherirrten, bis sie vor Hunger zusammenbrachen …«

»Endlich Abkühlung«, sagt Bräsig, in den tobenden Gewitterregen blickend. »War ja nicht mehr auszuhalten, diese Hitze!«

»… die niedersächsischen Landesbehörden hoffen, mit Schutzgattern längs der Stacheldrahtsperren das Wild von den Minenfeldern fernzuhalten …«

»Immer wenn er von Minen redet, denkt er sicher an Sie, der Lutter«, sagt Bräsig.

»… doch die Förster wissen besser Bescheid: Das Wild, das seinen jahrzehntealten Wechseln folgt, wird sich nie mehr durch Gatter oder Zäune aufhalten lassen …«

»Das Tier ist ein Gewohnheitsmensch«, meint Bräsig und schaltet den Apparat ab. »Ihr Kriegskamerad Franz Lutter wohnt in der Bolivar-Allee 170. Neu-Westend. Fragen Sie nicht, woher ich das weiß. Es stimmt. Am Dreizehnten verliest er nur noch die 20-Uhr-Nachrichten, danach hat er frei. Ich habe Ihnen doch schon angedeutet, daß er ein bißchen zu vertrauensselig ist und daß nicht alle seine Freunde seine Freunde sind, nicht wahr? Lutter wird nach den Nachrichten heimfahren. Er hat Frau und Tochter.«

Das Gewitter wird noch ärger. Ganz dunkel ist es geworden, weiß flammen die Blitze. Der Donner reißt nicht mehr ab.

Bräsig lehnt sich über den Schreibtisch: »Ich habe Ihnen auch schon gesagt, daß Sie drüben nach Eintreffen auf Schritt und Tritt beschattet werden.«

»Det hamse ooch jesacht, jawoll.«

»Der Hauptreferent ist bereits drüben.«

»Wat?«

Bräsig grinst. Er denkt daran, daß diesem Kornmann, dem Fatzke, bei seinem ersten ›Bewährungsauftrag‹, jetzt, wo er im Westen sitzt, gewiß der Arsch schon mit Grundeis geht. Der Gedanke bereitet dem Kommissar unendliches Wohlbehagen.

»Wie is’n der rübajekomm?« fragt Bruno.

»Auf demselben Weg, auf dem Sie mit ihm und unserem Mann zurückkommen werden. Der Hauptreferent ist drüben Ihr Chef. Sehen werden Sie ihn selten. Hören oft. Am Telefon. Wo Sie auch sind. Er wird Ihnen Weisungen erteilen, durch ihn erhalten Sie die Spritzen und die gute Medizin, die Schupo-Uniformen, falsche Schupo-Ausweise, Pistolen …«

Da hakt es bei Bruno aus: »Pistoln?«

»Na, zu einer Polizistenuniform gehört doch eine!«

»Nee, Herr Kommissar, nee! Wat zuville is, is zuville! Ick hab in mein janzet Leben noch nie ’ne Knarre jehabt, nie! Pistole! Wenn wir da hochjehn – wir kriejen ja glatt lebenslänglich Zet!«

»Erstens gehen Sie nicht hoch, zweitens können Sie die Munition aus den Pistolen sofort wegschmeißen. Haben müssen Sie welche.« Bräsig wird ungeduldig. »Und nun halten Sie ein bißchen den Mund und lassen mich reden, damit wir zu Ende kommen, ja? Ich muß Ihnen nachher auch noch zeigen, wie man so eine Injektion macht. Also: Von dem Hauptreferenten werden Sie geleitet. Und überwacht, Herr Knolle, und überwacht!«

»Hamse schon ’n paarmal jesacht.«

»Kann ich nicht oft genug sagen. Von dem Hauptreferenten erfahren Sie zur rechten Zeit, wer der Mann ist, den wir wollen. Mit dem Hauptreferenten kehren Sie zurück. Schutz bis zuletzt. Könnten Sie wenigstens danke sagen.« (Zum Kotzen, dieser Ton – aber es ist psychologisch nötig, den Knolle nun rauher anzufassen. Nach dieser Aktion nehme ich drei Tage frei. Und setze mich auf meinen Angelsteg und gucke ins Wasser und tu gar nichts, nicht mal angeln. Nur ins Wasser schauen.)

»Danke«, sagt Bruno.

»Was?«

»Ick danke für den Schutz bis zuletzt, Herr Kommissar.«

Sie sehen sich an. Bruno hält es länger aus, Bräsig muß schließlich den Kopf abwenden.

»Also«, fährt er in dem brutalen Ton fort, »morgen abend holt Sie ein Wagen ab. Rechtzeitig. Bei Timniks ist alles geregelt und bezahlt. Sie ziehen den blauen Anzug an.«

»Wat, det Karnevalskostüm?«

»Und das Hemd mit den rosa Streifen, die gelbe Krawatte, die gelben Schuhe …«

»Herr Kommissar …«

»Dachten Sie, wir haben das umsonst gekauft? Jeder, der Sie sieht, muß aufmerksam werden.«

»Warum?«

»Seien Sie nicht kindisch! Damit Sie nicht gleich hopphopp untertauchen und uns ein Schnippchen schlagen. Deshalb werden Sie auch bei der Flucht alles tun, um die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Wehe Ihnen, wenn Sie es nicht tun! Richtig Tamtam machen, verstanden?«

»Jawoll, Herr Kommissar!« Wie komme ich bloß aus dieser Scheiße raus? Die haben an alles gedacht, wirklich an alles.

»Drüben hauen Sie gleich ab.«

»Warum?«

»Auch, damit man auf Sie aufmerksam wird! Sie nehmen eine Taxe …«

»Ick habe doch keen Westjeld!«

»Sie bekommen auch keins. Die Taxe zahlt Lutter. Unterbrechen Sie mich nicht. Sie fahren sofort zu Lutter nach Neu-Westend, Bolivar-Allee 170. Adresse merken! Diese Fahrt ist eine völlig logische Spontanreaktion bei einem Mann, von dem Lutter weiß, daß er geflüchtet ist, weil der SSD ihn zur Mitarbeit zwingen wollte. So ein Mann läßt sich nicht ins Lager bringen und verhören und pipapo! So ein Mann rennt gleich zu dem, der ihm schneller weiterhelfen kann, der für ihn gutsagt. Lutter erzählen Sie, daß wir Ihnen den blauen Anzug gegeben haben. Und die Schuhe und das andere. Damit Sie stets hübsch auffällig bleiben. Sie hatten kein Geld, also konnten Sie nichts Normales kaufen. Sie mußten anziehen, was Sie bekamen. Und das tragen Sie immer noch.«

»Damit Ihre Schatten drüm mir bessa uff de Spur bleim könn.«

»Natürlich, das ist der Hauptgrund. Lutter wird Ihnen andere Kleidung geben. Und die Formalitäten bei den Behörden regeln.«

»Und die janze Polizei von Westberlin wird wissen: Bruno is wieda da!«

»Das soll sie ja wissen! Wenn Sie nicht spuren, geht sofort Ihr BVG-Akt rüber. Danach haben die es ganz leicht, Sie zu verhaften und an uns zurückzuschicken. So. Und nun wollen wir noch das mit den Injektionen üben. Kommen Sie her …«