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tja, so is det also jewesen, Herr Kriminalrat«, sagt Bruno nun, um 0 Uhr 45 am 14. August 1964 in Berthold Prangels großem Wohnzimmer in der Meraner Straße, wohin er nach seiner ›Flucht‹ geeilt ist.

Alles hat er dem fünfundfünfzigjährigen Kriminalisten mit der untersetzten Gestalt, dem kurzgeschnittenen dunklen Haar, der hohen Stirn, den klugen Augen und dem ausgeprägten Kiefer erzählt, ›seinem‹ Kriminalrat, der stets melancholisch und stets leicht angewidert aussieht, wir wissen, warum.

Aufmerksam hat Berthold Prangel zugehört.

Nun ist es still in dem Zimmer mit den Eichenholzmöbeln, den Ledersesseln, dem Schreibtisch, dem Ölbild von Prangels toter Frau Anna und ihrem toten Bruder Werner, den vielen Bücherstapeln auf dem Fußboden, dem Nähtischchen am Fenster, in dem verrostete Strick- und Häkelnadeln und ein paar Knäuel frische Wolle liegen. Lange bleibt es still.

Der Kriminalrat saugt an seiner Pfeife, die Luft ist schon ganz blau vom Tabaksdunst. Eine zweite Flasche Wein steht halb leer auf dem Tisch, Prangel hat sie geöffnet, während Bruno erzählte.

»Herr Kriminalrat«, fleht Bruno nun, »redense doch! Sagense wat! Ick habe keene Zeit mehr! Ick muß wat tun! Ick sollte längst bei Lutta sein. Die beobachten doch sicher den sein Haus. Ick kann nich ewig hier rumsitzen. Ick muß …«

»Ja«, sagt Prangel langsam, »du mußt. Aber was mußt du? Was kannst du? Was darfst du? Mensch, hast du dich in die Nesseln gesetzt!«

»Ick mir? Aber wieso denn ick? Ick kann doch wahrhaftich übahaupt nischt dafür!«

»War nur so dahergesagt«, murmelt Pranget tief in Gedanken.

»Hab’s nicht so gemeint. Eines interessiert mich.«

»Wat?«

»Du hast mir erzählt, daß du den Lieben Gott wieder und wieder gebeten hast, dir einen Ausweg aus dem Schlamassel zu zeigen …«

»Und er hat et doch jetan, zuletzt! Der Ausweg, der sind Sie, Herr Kriminalrat!«

»Ja, hoffst du. Deshalb bist du hergekommen. Aber wann hattest du die Erleuchtung, herzukommen? Das interessiert mich.«

Der Bruno grinst.

»Was ist so komisch?«

»Der Liebe Jott.«

»Wie?«

»Der hat manchmal ’ne verdammt ulkije Art, een’ den richtijen Weg zu zeijen. Sehnse, Herr Kriminalrat, noch als ick schon in Westen war, in den Hasenauerstraßen-Keller, da wußte ick nich, wat nu. Ick habe man bloß so rumjestanden. Gleich zu Lutta, hat Bräsig ,mir befohlen. Na, und wie ick also abhaue in meine Angst, da komme ick durch ’n Gang, in den hängen Jacken.«

»Jacken?«

»Und Mäntel. Und Hosen. Zeuch von de Fluchthelfer. So ’ne Art Jarderobe, wissense. Und wat sehe ick da? ’n Portmoneh sehe ick da! Uff ’ne Kiste. Ooch ’ne Brieftasche, Schlüssel, Zigaretten und so. Muß eena allet hinjelecht ham. Und in den Moment kommt die Erleuchtung von Jott! Da zeigt a mir, wie ick anständig bleim kann! Da durchzuckt et mir wie ’n Blitz. Wahrhaftich, wie ’n Blitz! Zum Kriminalrat Prangel mußte und ihm allet azähln, allet! Jede Jefahr, wo damit zusammenhängt, mußte uff dir nehmen, Bruno. Det is deine Pflicht!« Der menschliche Seehund zieht eine abgegriffene Geldbörse aus der Tasche und grinst wieder. »Det isse«.

»Du hast das Portemonnaie geklaut?«

»Mußte ick doch, Herr Kriminalrat! Ick hatte doch keen Westjeld! Und Westjeld brauchte ick doch! For Taxen! Und for’t Telefonieren!«

»Also so zeigte dir Gott, wie man anständig bleibt«, murmelt Prangel.

»Ick sage ja, er hat manchmal ’ne vadammt ulkije Art«, meint Bruno. Eben hat er noch gegrient. Jetzt wird er sich wieder des Ernstes der Stunde bewußt, und seine Stimme wechselt.

»Ick mach et nich … ick entführe keen!« ruft er atemlos, wieder einmal. »Aba wennse mir nich helfen, jeh ick selba hops! Und det will ick ooch nicht Herr Kriminalrat, bitte

Prangel seufzt. Er sieht das Ölgemälde an. Anna, seine geliebte Frau, sieht er, Herrn Werner May, ihren geliebten Bruder, sieht er, einen gemeinen Mörder, tausendfach.

Schwerfällig steht Prangel auf.

»Ich muß telefonieren.«

»Herr Kriminalrat …« Bruno springt hoch.

»Was denn? Glaubst du, ich telefoniere mit Moskau? Hast du kein Vertrauen zu mir?«

»Nur zu Ihn’, nur noch zu Ihn’! Verzeihense!« stammelt Bruno und plumpst in seinen Sessel zurück.

»Das mußt du jetzt auch haben. Sonst kann ich dir nicht helfen. Bei einer solchen Sache darf ich nicht eigenmächtig handeln. Ich bin schließlich nur bei der Kripo.« Das sagt er mit geradezu masochistischer Lust. »Ich muß die zuständigen Leute alarmieren, das verstehst du doch?«

Bruno nickt.

Prangel, in Morgenrock und Pyjama, in Strümpfen und Pantoffeln, betritt ein anderes Zimmer. Da hebt er den Hörer eines Telefons ab, das überhaupt keine Wählscheibe besitzt. Es gibt nur eine einzige Verbindung von diesem Telefon aus – zu einer Stelle, die sich sofort meldet, bei Tag und bei Nacht.

»CIC-Headquarters!«

»Prangel«, sagt der Kriminalrat. »Get me Mister Snowden on the phone, will you please? … Then wake him up! This is urgent! Very urgent!«