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Auf dem Dachboden des Eckhauses Hasenauerstraße 67 gibt es viele Lattenverschläge, in denen Möbel, Koffer, Geschirr und tausenderlei Krimskrams der Mieter lagern. Jeder Verschlag hat eine Tür, und an jeder Tür hängt ein Schloß. An einer Tür hängt keines. Jedenfalls nicht außen. Innen schon. Versperrt.

Der Verschlag hat dem Chef der stillgelegten Dampfwäscherei, Herrn Czibilsky, gehört. Eine feste Wand besitzt dieser Verschlag: Das ist die Dachschräge. In ihr gibt es eine kleine Luke. Durch sie kann man über die Mauer hinweg in jenen Teil der Mottlstraße sehen, der im Osten liegt. Sie ist hell erleuchtet, die Ost-Mottlstraße. Weit hinten steht ein Wachtturm. Steht aber zur Zeit kein Vopo da oben, und die Scheinwerfer sind nicht eingeschaltet.

Haben wir völlig richtig überlegt, denkt der vierundzwanzigjährige Kurt Mittenzwey, der an der Luke sitzt und mit einem starken Feldstecher alles beobachtet, was drüben vorgeht. Zuviel Wirbel die ganze Mauer entlang. Zu wenig Mannschaften. Hier ist es still. Also passen sie hier nicht einmal so auf wie sonst …

Der ruhige, besonnene Kurt Mittenzwey hat noch 1961 in Ostberlin Jus studiert. Er wollte lernen, er wollte in Frieden gelassen werden. Er tat, was man ihm zu tun befahl. Er tat nichts, was verboten war. Ein Musterbürger der DDR. Kein Feigling oder Dummkopf! Nur ein Realist. Wenn die Sowjets es wollten, dann wurde Deutschland wiedervereinigt. Wenn die Sowjets es nicht wollten, half keine Verschwörung, keine Agitation, war jeder Widerstand von vornherein zum Scheitern verurteilt.

Mittenzweys Eltern lebten nicht mehr, er besaß keine Verwandten. Er lernte Barbara Tomkin kennen, eine Medizinstudentin. Sie verliebten sich ineinander, die schöne, einundzwanzigjährige Barbara mit dem flammend roten Haar und der sehr hellen Haut und der große, schlanke Kurt mit dem braunen Haar und den braunen, skeptischen Augen. Dann begannen sie einander zu lieben. Barbara war wundervoll, fand Mittenzwey. Alle seine Ansichten teilte sie, nur lernen wollte auch sie, etwas werden, nichts wissen von Politik, sich nicht engagieren, sich heraushalten aus allem.

So schien es. Aber es schien nur so.

Am 13. August 1961 stand plötzlich die Mauer da. Und am 14. August in aller Frühe stürzte Barbara, völlig aufgelöst, in Mittenzweys Zimmer.

»Was ist geschehen?« rief Mittenzwey.

Schlimmes, sehr Schlimmes war geschehen in der vergangenen Nacht. Man hatte einen Professor verhaftet und eine Studentengruppe. Unter Leitung dieses Professors waren von der Gruppe Flugzettel zu Tausenden produziert worden. Ausgezeichnete, wirksame Zettel, auf denen gegen den Ulbricht-Staat polemisiert wurde. Polemisiert, nicht gehetzt! Da gab es nur nüchterne Zahlen, Fakten, Daten, die niemand bezweifeln, niemand abstreiten konnte. Kurz und klar war jeder Satz. Jeder mußte ihn begreifen, jeder mußte glauben, was da stand. Die Zettel waren nicht nur in Ostberlin, sondern auch in der Zone verbreitet worden.

»Jetzt sind wir aufgeflogen«, berichtet Barbara atemlos.

»Wir?« Mittenzwey springt entsetzt hoch. »Was heißt das? Warst du denn auch …«

»Von Anfang an … Als einzige bin ich noch in Freiheit …«

»Warum hast du mir nie etwas davon erzählt? Warum hast du mir die Unpolitische vorgespielt?«

»Ich wollte dich nicht belasten … nicht verlieren … Ich hatte solche Angst vor dem Verlieren … Du bist doch alles, was ich habe … Nun muß ich flüchten. Nicht mal mehr heim kann ich, ein paar Sachen holen … Und ich weiß nicht, wie ich rüber komme …«

»Aber ich«, sagt er und fährt in seine Kleider.

»Was?«

»Ich weiß es. Ich komme mit dir.«

»Du …«

»Hast du gedacht, ich bleibe? Ach Barbara …«

Da hat man nun also jahrelang stur nach bestimmten Regeln gelebt, vorsichtig, allein, nur für sich. Und von einer Minute zur andern ist all das vorbei. Menschen ändern sich nicht? Oh, sie tun es! Es gibt nichts, was Menschen nicht tun – unter Zwang. ›People under pressure‹ – jemand schrieb einmal ein Buch, das hieß so …

Eine Stunde nachdem Barbara bei Mittenzwey erschienen war, hat der aus dem Fuhrpark eines Städtischen Großküchenbetriebes einen Fünftonner geklaut und rast – seine rothaarige Geliebte liegt auf dem Boden der Fahrerkabine – durch den Osten, wird wüst beschossen – und durchbricht die Mauer auf dem Wilhelmsburger Damm. Beide Flüchtlinge sind unverletzt. Der Laster ist schrottreif. Steht viel in den Zeitungen über diese tollkühne Flucht. Mittenzwey, der Held des Tages. Ausgerechnet Mittenzwey! Zuerst ist er wütend, dann ärgert er sich nur noch, zuletzt lacht er.

Nach seiner Heirat, da lacht er nicht. Am 5. September 1961 ist das. Die Behörden haben rasch gearbeitet. Nur ganz kurz mußten Barbara und Kurt ins Lager Marienfelde, zur Vernehmung durch amerikanische CIC-Beamte und britische 20MI-5-Agenten. Kleidung erhielten sie da und jeder hundert Mark Friedland-Hilfe. Auf dem Wohnungsamt erklärten sie, sofort heiraten zu wollen. Wurden also bevorzugt behandelt, bekamen Flüchtlingsausweis C. Neue Personalausweise hatten sie schon nach den Vernehmungen bekommen. Eine kleine Wohnung in einem Neubau der Bleibtreustraße, dicht beim S-Bahnhof Savignyplatz, findet sich. Und auf dem Standesamt Charlottenburg werden sie getraut. Danach fahren sie zur Bernauer Straße, denn da leben Barbaras Eltern. Das Haustor ist nun zugemauert, sieht Mittenzwey, der Unpolitische, Mittenzwey, der Ohne-Mich-Mann, Mittenzwey, der Realist. Denn Barbaras Elternhaus liegt schon hinter der Mauer. Oben, im dritten Stock, blicken die alten Leutchen aus einem Fenster. Barbara hält ihren Hochzeits-Blumenstrauß im Arm und sieht zu Vater und Mutter empor und weint, ganz schrecklich weint sie. Und auch den Eltern stehen Tränen in den Augen. Der Vater hat einen Arm um die Mutter gelegt, weißhaarig ist er, Mutter trägt eine Brille, die immer rutscht, und Vater versucht, sie zu trösten, so wie Mittenzwey versucht, Barbara zu trösten. An einem Bindfaden lassen die Eltern ein Päckchen auf die Straße herab. In dem Päckchen liegt das Hochzeitsgeschenk. Barbara knüpft ihren Hochzeitsstrauß an den Bindfaden, und die Eltern ziehen die Blumen empor. Das ist das Geschenk für sie.