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Alexander Cecil Snowden wurde am 20. November 1910 in New York geboren. Sein Vater war ein erfolgreicher Rechtsanwalt. Snowden erhielt eine ausgezeichnete Erziehung, studierte Rechtswissenschaft und trat 1936 in die Kanzlei des Vaters ein. Der starb zwei Jahre, die Mutter drei Jahre darauf.

Nun führte Snowden die Kanzlei allein. Er war Strafverteidiger, der sich besonders in Prozessen politischer Art und solchen zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeber-Verbänden schnell einen Namen machte. Die Zeitschrift ›The New Yorker‹ fand es damals in einer Glosse über den brillanten jungen Anwalt am bewundernswertesten, daß Justitia in A. C. Snowden ein Jünger erstanden war, der nur für sie, für sie allein stritt. Indem es ihm nämlich vollkommen, ausnahmslos, gleich war, welche politischen Überzeugungen seine Klienten besaßen, welche wirtschaftlichen Anschauungen die Gewerkschaften und die Arbeitgeber. Von rechts nach links, von oben nach unten: Die Ansicht seines Mandanten war Snowdens Ansicht. Da er sehr viele Mandanten hatte, wechselten diese Ansichten ständig hundertprozentig und höchst eindrucksvoll. Alle verstehen, das hieß: Alle verteidigen können! Es war eine Gottesgabe, die A. C. Snowden da besaß …

Die Frauen umschwärmten ihn. Er hatte viele Affären. Er heiratete nie. Als er berühmt genug war, bezog er ein Dauerappartement im Waldorf-Astoria. Das waren wunderbare Jahre. Unabhängigkeit! Freiheit! Seine Arbeit, die ihn faszinierte, weil sie ihm zeigte, wie Menschen sind! Bewundernswert nicht, fand Snowden. Wahrhaftig nicht. Aber so verschieden!

Snowden sah blendend aus, groß, schlank, dunkel. Zynisch war er – und so charmant. Ohne jeden Glauben an irgend etwas lebte er – so geistreich. Er hielt auf sich. Regelmäßig betrieb er Sport. Seine Kleidung war stets up to date.

1942 wurde er eingezogen. Schnellstens bekam Snowden den Rang eines Colonels im ›Counter Intelligence Corps‹, der ›Abwehr‹ der Armee. Als CIC-As arbeitete er in Afrika, Japan, Indochina, Deutschland. Hier blieb er zunächst drei Jahre, in Frankfurt. Klärte Fälle von Spionage und Landesverrat amerikanischer Soldaten oder Zivilisten; wurde zu Atomgeheimnis-Affären herangezogen (so bei der Aufdeckung des Spionageringes Lonsdale), und das führte ihn nun wieder aus Deutschland fort – in viele Länder der Erde. Die neuen, fremden Menschen und Mentalitäten, die er kennenlernte, die Abenteuer des Geistes, die er zu bestehen hatte und bestand, begeisterten ihn. Was war dagegen seine Anwaltstätigkeit? Er verkaufte die Praxis, blieb beim CIC: Agent aus Leidenschaft.

Was immer in Büchern zu lesen steht über das harte Los der Spione, die, einmal im Netz der Geheimdienste gefangen, nie mehr freikommen – all das traf nicht auf A. C. Snowden zu. Mehr und mehr liebte er seinen Beruf. Das einzige, was er dabei weniger und weniger liebte, waren die Menschen. Diese Entwicklung erscheint ebenso logisch wie bedauerlich.

Als Snowden nach Deutschland zurückkehrte, um in Berlin Mr. Green abzulösen (1960), hatte er nicht mehr die geringste Empfindung für irgendein lebendes Wesen. Die einzige Ausnahme bildete ein Schäferhund, den er Adolf getauft hatte, als er ihn 1957, vierjährig, erwarb. Adolf war sein Freund, sein Halt, denn kein Mensch kann es ertragen, völlig allein zu leben, ohne Schaden an seiner Seele zu nehmen – mit Ausnahme der Heiligen, wie Maurice Baring schreibt, und selbst diese finden es schwierig.

1960 lohnte Adolf seines Herrn Zuneigung, Obsorge und Zärtlichkeit schlecht: Er lief davon und kehrte nie zurück.

Das war ein furchtbarer Schlag für Snowden, der ärgste, den er im Leben erhalten hatte. Monate benötigte er, um sich von ihm zu erholen. Allerdings war er kein Heiliger. Und nahm also Schaden an seiner Seele, nun, ganz alleingelassen. Er merkte es nicht, ihn störte nichts an sich selbst. Andere merkten es, andere störte vieles an Snowden. Sie waren gewiß, daß er sich einst würde verantworten müssen vor jenem Höchsten Richter, verantworten für die Mißachtung jedes menschlichen Lebens und die Verhöhnung jedes menschlichen Gefühls – Eigenschaften, die ihn noch verwendungsfähiger für sein Metier werden ließen, das ist klar.

Was A. C. Snowden melancholisch machte, das war der Verlust eines Hundes, über den er nie ganz hinwegkam, nichts anderes. Prangels Melancholie hatte andere Ursachen. Aber die beiden Männer empfanden von Anbeginn ein Gefühl der Achtung füreinander – natürlich keine Sympathie oder gar Freundschaft, das wäre in Anbetracht von Snowdens Charakter absurd gewesen.

Nein, Prangels Tüchtigkeit und Snowdens Tüchtigkeit banden diese beiden Männer aneinander und ließen sie ausgezeichnet zusammenarbeiten, wenn Prangel auch oft vor Snowdens Entscheidungen und Ansichten schauderte.

Was Adolf, den Schäferhund, anging, so war er nach Ostberlin entwichen, streunte dort eine Weile umher, wurde aufgegriffen und in das Tierschutzheim des Dr. Rudolf Sylt am Verlorenen Weg gebracht. Da es sich um einen sehr gepflegten, intelligenten und noch relativ jungen Hund handelte, fand sich schnell ein Käufer. Das war der Landwirt Christian Rüthnik aus Schwanebeck. Dieser nannte das Tier Hasso. Hasso wurde der Liebling der ganzen Familie Rüthnik, ja des ganzen Ortes. Anhänglich und treu war er, seinen alten Herrn schien er völlig vergessen zu haben. Zum Glück ahnte Snowden nichts davon. Es hätte ihn doch sehr gekränkt …

Als man dem amerikanischen Star-Agenten in der ersten Morgenstunde des 14. August 1964 meldete, daß Prangel ihn telefonisch zu sprechen wünschte, sprang Snowden sofort aus dem Bett und führte über die Direktleitung eine längere Konversation mit dem Kriminalrat. Nachdem der Amerikaner sich die ganze Geschichte angehört hatte, gab er schnell und kalt seine Anordnungen. Sie waren von einer Art, gegen die Prangel, der doch einiges gewöhnt war, protestierte. Die Unterhaltung wurde in englischer Sprache geführt, kühl von seiten Snowdens, erregt von seiten Prangels, und in der Übersetzung klang sie so:

»Das wird er nie tun, Mr. Snowden! Ich kenne Knolle seit einer Ewigkeit. Der tut alles mögliche. So etwas nicht!«

»Natürlich tut er es.«

»Bestimmt nicht! Wäre er sonst zu mir gekommen?«

»Sie machen ihm das Angebot, das ich eben skizzierte, und Sie werden sehen, wie er pariert.«

»Er wird nicht parieren! Er ist ein anständiger Mensch!«

»Ha.«

»In seinem Herzen ist er es!«

»Was ist das, Herr Prangel, ein Herz?«

»Ach, Mr. Snowden …«

»Werden Sie mir nicht sentimental! Diese Geschichte ist wichtig für uns. Sie wissen das genauso gut wie ich. Wir müssen diesmal die Sieger sein – nicht die anderen! Nicht schon wieder die anderen! Und dieser Knolle, dieser Ganove …«

»Ein ordentlicher Ganove, das sehen Sie doch …«

»Ich sehe gar nichts. Wer sagt Ihnen denn, daß das kein Spitzel ist? Lehren Sie mich die Menschen kennen, Prangel! Von Natur sind sie alle schlecht und feig und böse.«

»Von Natur aus sind sie gut, Mr. Snowden!«

»Machen Sie sich nicht lächerlich. Gut ist nur, wer Gewinn davon hat. Und den versprechen wir ja Ihrem Knolle. Passen Sie auf, wie gut er sein wird!«

Prangel verliert für einen Moment die Nerven. Er ruft: »Wie gut sind denn Sie, Mr. Snowden? Sie müssen mir nur Ihr Gehalt nennen, dann habe ich schon eine Vorstellung!«

Snowdens Stimme kommt verachtungsvoll: »Das war eine feindselige Bemerkung, Herr Prangel.« Nun spricht er deutsch. »Feindselig, so lautet das Wort doch in Ihrer schönen Sprache?«

»Ja. Und es war eine feindselige Bemerkung, Mr. Snowden.«

Auch Prangel spricht nun deutsch. Er hört den Amerikaner lachen. »Feindselig – was für ein Wort! Feind-selig! Selig, einen Feind zu haben! Tz, tz, tz! Selig darüber! Einem Volk, Herr Prangel, das solch ein Wort in seinem Sprachschatz hat, kann gar nichts anderes passieren als das, was ihm dauernd passiert. Was sang man bei Ihnen im ersten Weltkrieg? ›Lieb Vaterland magst ruhig sein‹ – nicht wahr? Ganz ruhig darf es sein, Ihr liebes Vaterland!« Wieder lacht Snowden. Dann wird seine Stimme eisig: »Sie stehen in unseren Diensten, Herr Prangel! Sie tun, was ich sage. Das ist ein Befehl … haben Sie verstanden?«

»Jawohl«, antwortet Prangel tonlos. Er hat sich wieder in der Gewalt. »Ich habe verstanden, Mr. Snowden.« Und er legt den Hörer des Telefons ohne Wahlscheibe zurück in die Gabel und geht in das Wohnzimmer, wo Bruno ihn erwartet, vor Ungeduld auf und ab laufend.