Prangel fährt sich mit der Hand über die feuchte Stirn. Sein Blick gleitet wieder von Bruno zu dem Ölbild über dem Schreibtisch. Seine Frau. Ihr Bruder. Da sieht er sie, die Geschwister, beide längst tot – aber er lebt. Die Toten haben es gut, denkt Prangel. Die Lebenden haben die Schuld. Immer? Nein, nur solche wie ich …
»Das ist nicht dasselbe, Bruno«, sagt er beschwörend, »das ist doch ein Unterschied wie Tag und Nacht!«
»Untaschied! Da muß ick Ihn’n schnell ’n Witz azähln, den ick jehört hab, wie ick im Zet war. Wat is der Untaschied zwischen Kaptalismus und Sozjalismus? Antwort: Im Kaptalismus wird der Mensch durch den Menschen ausjebeutet. Im Sozjalismus is det jenau umjekehrt. – Jut, wat?«
»Laß den Quatsch! Wer hat denn angefangen mit all dem? Die drüben doch! Wir wehren uns bloß!«
»Ach, Sie – ick meine die Amis – die schicken keene Leute in de Zone? Die spionieren drüm nich?«
»Ich sage dir, wir wehren uns!«
»Det sagen die drüm ooch. Könn nich beede die Wahrheit sagen. Eena muß lüjen.«
»Natürlich! Die drüben!«
»Ja, natürlich«, sagt Bruno. »Die drüm. Und wennse drum sind, Herr Kriminalrat, denn heeßt et jenauso: Die drüm lüjen! Is’n nettet Spielchen! Hier soll ick ’ne Kneipe kriejen, drum soll ick ’ne Kneipe kriejen. Wenn ick mache, wat die hier wohn, wenn ick mache wat die drüm wohn. Wat kriege ick, wenn ich weda noch mache?«
Es hilft nichts, denkt Prangel.
»Das kann ich dir sagen, was du dann kriegst, Bruno. Dann kriegst du dein Fett – aber von beiden Seiten! Die Amis stecken dich ins Lager Marienfelde. Raus kommst du erst, wenn der Bräsig das Auslieferungsbegehren wegen Einbruch bei der BVG schickt. Dann kommst du zu uns, und wir liefern dich drüben wieder ab. Und dann …«
»Hörense uff!« schreit Bruno und preßt sich die aristokratischen Hände an die platten, großen Ohren. »Det wird ja imma schlimma! Wat habe ick denn bloß jetan, det all det mir passiert? Wat denn, Herr Kriminalrat, wat denn bloß?«
»Was du in deinem Leben getan hast, weißt du selbst am besten. Man muß für alles zahlen, Bruno«, antwortet Prangel und denkt: Auch ich, auch ich werde noch zahlen müssen für alles. »Du bezahlst jetzt! Und wirst gleich bezahlt. Barmherziger geht es nicht. Die Kneipe …«
»Ick will keene Kneipe mehr! Ick kann det Wort nich mehr hörn! Drüm hab ick allet jetan, damit ick die Sauerei nich machen muß! Zu Ihn’ hab ick mir jeflüchtet, detse mir helfen! Und wat machen Sie? Sie schlagen mir ooch ’ne Kneipe vor!«
»Bruno …«
»Jawoll, ooch ’ne Kneipe! Ne andere, meintswejen! Ick will aber keene, vastehnse? Jar keene! Ick dachte, nu is Schluß mit den janzen Mist! Sie sind mir wie ’n Engel vorjekomm, Herr Kriminalrat! Ganz sicha war ick, detse mir erlösen!«
Erlösen – tatsächlich, solch ein Wort sagt Bruno! So aufgeregt ist er. Erlösen!
Dieses Wort löst bei Prangel einen Zwangsmechanismus aus. Seit Jahren sagt er sich, daß er einen erlösen muß, wenn er selbst erlöst sein will von seiner Schuld. Seit Jahren tut er das Gegenteil von dem, was man Menschen erlösen nennt. Leider, leider. Feige, feige. Traurig, traurig. Verständlich, daß er bei seiner Intelligenz die Sachlage überblickt und unter ihr leidet. Um dieses Handwerk überhaupt noch ausüben zu können (wozu ihn wieder seine Feigheit zwingt), hat er sich angewöhnt, bei jedem Menschen, den es zu ›behandeln‹ gilt, als erstes zu denken: Diesmal gelingt es mir, alle zu überlisten, Snowden, das CIC, die Russen, den SSD – und diesem Menschen zu helfen!
Das hat er sich so lange eingeredet, bis er zu glauben begann, daß er stets Gutes wollte. Wenn dann Schlechtes daraus wurde – ach, da kam ja schon der nächste Fall! Wie hier. Wie dieser Bruno Knolle. ›Erlösen‹, hat der gesagt, selber gesagt!
Professor Pawlow hätte seine Freude an Prangel gehabt.
Prompt tritt der bedingte Reflex ein! Etwas heftiger als sonst diesmal. Vielleicht, weil Prangel den Knolle, der da verheizt werden soll, so lange kennt, aus sentimentalen Gründen also.
In seiner ewigen Alibi-Jagd denkt Prangel, völlig ernst, erschüttert fast, wieder einmal: Mit diesem Bruno Knolle ist der Mann gekommen, den ich (und der damit mich) wirklich erlösen kann! Das ist jetzt endlich meine Chance, doch jene Tat zu begehen, die uneigennützige, mutige!
Klingt irrsinnig im Moment. Aber wir stehen erst am Anfang, erst am Anfang. Ich werde einen Einfall haben. Ich werde Bruno helfen, ich werde einen frohen Menschen aus ihm machen, er soll seine Kneipe haben. Jawohl! Und wenn Snowden sie ihm nicht verschafft, dann verschaffe ich sie ihm! Und wenn es das letzte ist, was ich tue! Schnell und wirr kreisen Prangels Alibi-Gedanken. Es ist eine warme Nacht, aber er fröstelt heftig.
»Bruno«, fleht er, »Bruno, hör auf mich. Tu, was ich dir sage. Ich verspreche dir, daß du nichts Unrechtes tust. Du tust das Rechte. Und du bekommst deine Kneipe. Ich, Bruno, ich gebe dir mein Ehrenwort darauf!«
Bruno blinzelt, schnieft, schweigt und schüttelt den Kopf.
Prangel, schon froh, daß Bruno nicht laut widerspricht, fährt hastig fort: »Nun rufe ich dir eine Taxe. Du fährst zu deinem Freund Lutter. Das Portemonnaie bleibt hier. Lutter soll zahlen. Erzähl ihm, du hast dich verirrt, nachdem du aus dem Keller weggelaufen bist. Irgendwas. Fällt dir sicher was ein …«
Bruno schüttelt den Kopf.
Ich kriege ihn doch herum, denkt Prangel. Ich muß ihn herumkriegen. Muß! Muß! Muß!
»Lutter bürgt für dich. Da geht alles ganz schnell. Das hat sich der Bräsig schon richtig überlegt.« (Ach, Berthold Prangel, wenn du wüßtest, wer Bräsig in Wirklichkeit ist!) »Und du suchst Knarje und Pokay, und so weiter, und so weiter, tust, was du an Befehlen bekommst von deinem Hauptreferenten, und immer verständigst du sofort mich. Dann muß es klappen! Und wenn es geklappt hat, dann hast du die Kneipe! Der, der mir das versprochen hat, ist einer von den höchsten Amis hier. Ich kenne ihn. Der brach noch niemals ein Versprechen. Und wenn dir das nicht genügt, dann hast du ja auch noch mein Ehrenwort!« Prangel ringt nach Luft. »Also, was ist? Bist du nun endlich normal und spielst mit?«
Bruno schüttelt den Schädel. Und sagt sehr leise: »Nee, Herr Kriminalrat. Ick kann nich. Det is jejen mein Jewissen.«
Da atmet Prangel auf. Denn wie das mit dem Gewissen funktioniert, das weiß er selbst am besten.
Ein großer Mann, Mr. Snowden. Er kennt die Menschen.
Ach ja, er kennt sie.