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Ja, das war ein wirklich ganz schöner Trubel, vorgestern nacht und den ganzen Tag gestern, kann man wohl sagen!

Heute schreiben wir Sonnabend, den 15. August 1964, es ist 10 Uhr 25, als der Bruno mit seinem ›Hauptreferenten‹ telefoniert.

›Herübergekommen‹ ist er um 23 Uhr 50 am 13. August 1964, das haben wir schon berichtet. Auch von seinem Besuch bei Berthold Prangel haben wir erzählt und von dem, was sich dabei ergab.

In der Hasenauerstraße 67 ergab sich, während Bruno den Kriminalrat aufsuchte, gleichfalls allerhand. Viel Durcheinander, viel Aufregung!

Polizeimeister Schulz und Kurt Mittenzwey verhörten den völlig konfusen Studenten der Philosophie Horst Lutter.

Dessen Onkel hatte doch gebeten, diesen Bruno Knolle herüberzuholen. Und dieser Knolle ist verschwunden. Und Horst Lutter hat keine Ahnung, weshalb und wohin. Das scheint dem Polizeimeister Schulz ungemein verdächtig. Mittenzwey auch. Scheußlich so etwas. Armer Horst Lutter …

Dann sind da die vielen Soldaten und Polizisten. Die müssen immer noch warten, denn drüben im Osten blenden immer noch Scheinwerfer, jeden Moment kann etwas geschehen.

Dann sind da die Bewohner des Hauses, alle völlig hysterisch. Einzige Ausnahme: Margot Heisterberg, Frau des Wirtschaftsredakteurs der ›Weltpresse‹. Für Margot ist das eine gesegnete Nacht. Hat sie doch ein Bild dieses rothaarigen Luders gefunden, mit dem ihr Mann sie betrügt! Morgen, Freitag, ist der schlimmste Tag der Woche bei Dr. Vlies. Aber am Sonnabend, da wird Margot in die Grolmanstraße gehen mit dem Bild, zu Foto-Roland, und wissen wird sie dann, wer das Luder ist. Oh, und dann …

Ihr Mann, Egon Heisterberg, den sie so ungerecht verdächtigt (denn nicht er hat das Lederetui mit dem Foto verloren, sondern Mittenzwey), Egon Heisterberg also steht im Hausflur und wartet auf das Eintreffen der Reporter und Fotografen seiner Redaktion, die er sofort alarmiert hat.

Zeit lassen die Brüder sich!

Als sie endlich kommen, vier Mann hoch, ergeben sich neue Schwierigkeiten.

Polizeimeister Schulz, infolge Überarbeitung knapp vor offenen Zornesausbrüchen, verbietet jedes Zusammentreffen von Zeitungsleuten mit Flüchtlingen oder Fluchthelfern. Inmitten seiner Schupos, versperrt er den Reportern den Weg.

»Unverschämtheit! Wir haben immer noch Pressefreiheit!« kräht Heisterberg.

Schulz sieht ihn langsam von oben bis unten an.

»Pressefreiheit«, sagt er und spuckt auf den Boden. »Sensationsfotos wollen Sie! Sensationsgeschichten! Pressefreiheit – von wegen! Ich würde mich schämen an Ihrer Stelle.«

»Was soll denn das heißen?«

»Ein anständiger Mensch macht nicht Geschäfte, die andere in Lebensgefahr bringen!« poltert Schulz, der inzwischen zwei Beamte losgeschickt hat. Die sollen vom Revier aus das Präsidium alarmieren, damit jemand zu diesem so verdächtigen Rundfunksprecher Franz Lutter nach Neu-Westend hinausgeschickt wird, bevor der – möglich ist alles – etwas anstellt. »Manche Flüchtlinge haben Verwandte drüben! Manche Fluchthelfer auch! Glauben Sie, der SSD liest keine Westzeitungen?« schnauzt Schulz den Heisterberg an.

»Wir legen selbstverständlich schwarze Balken über jedes Gesicht auf den Fotos, dann kann niemand einen erkennen …«

»Nein, nicht! Schon gar nicht, wenn einer heute nacht drüben verschwunden ist, wie? Also, das kommt überhaupt nicht in Frage, meine Herren! Das schlagen Sie sich schön aus dem Kopf! Sie können hier bleiben, bis alle Flüchtlinge und Fluchthelfer aus dem Haus sind. Dann dürfen Sie in den Keller und fotografieren, soviel Sie wollen. Und Geschichten erfinden dazu!«

»Wen sollen wir aber dann fotografieren?«

»Mir doch egal. Dauert mindestens noch eine halbe Stunde, bevor ich jemanden runterlasse.«

»Ich werde mich beschweren …«, beginnt Heisterberg wütend, aber Schulz grunzt nur: »Ja doch, beschweren Sie sich. Immer feste. Ich habe meine Weisungen!«

Wenn der seine Weisungen hat …

Die Fotografen Fritz Schiff und Karl Rappert ziehen ihre Kollegen beiseite. Schiff und Rappert sind ein bewährtes altes Team. Sie kennen sich aus in ihrem Metier. Haben 1962 den ersten Preis für das beste deutsche Pressefoto des Jahres bekommen. Es zeigte ein Frauengesicht im Augenblick gräßlichster Verzweiflung. Die Unterschrift lautete: ›Ihr Mann wurde soeben erstochen!‹

In der Nacht, in der den Herren Schiff und Rappert dieses Meisterwerk gelang, soffen sie in der Redaktion herum und ließen den Polizeifunk laufen. So hörten sie, daß auf dem Wedding ein Arbeiter erstochen worden war, Friedrich Keil, wohnhaft Utrechter Straße 14. Sie rasten in ihrem VW hin, gaben dem Hausmeister fünf Mark, und er erklärte ihnen, wo der Keil wohnte. Sie klingelten Sturm an seiner Tür. Eine abgehärmte Frau im Nachthemd öffnete endlich. Sie kam direkt aus dem Bett, das sah man.

Während Schiff schon die Kamera hob, fragte Rappert: »Sind Sie die Frau von Herrn Friedrich Keil?«

»Ja, warum … wat is los?«

»Ihr Mann wurde soeben erstochen!«

Die Frau schrie auf.

Klick!

Aufnahme im Kasten!

Anschließend kümmerten die Herren Schiff und Rappen sich natürlich um Frau Keil, die zusammengebrochen war …

Nun übernehmen die Preisträger in der Hasenauerstraße das Kommando.

»Alle Mann mal herhören! Holt Frauen, Männer, Kinder, Freunde, Verwandte. Am besten Fremde. Bietet jedem hundert Mark. Spesenabrechnung laßt unsere Sorge sein. Ein Dutzend Leute genügt.«

»Aber wenn die Leute nicht wollen …«

»Nicht wollen? Für hundert Mark? Haut schon ab!«

Die Mannschaft schwirrt auseinander.

Während man solcherart Exklusiv-Fotos vorbereitet, treffen die Einsatzwagen ein, die Schulz angefordert hat. Alle Flüchtlinge verlassen das Haus durch den Hinterhof, den auch Bruno Knolle benützt hat. Die Wagen parken in der Mottlstraße.

An Caporal Louis Tilmant vorüber marschiert die ganze Schar zu den Wagen.

Kinder weinen vor Müdigkeit. Männer streiten. Frauen jammern. Ab geht’s nach Marienfelde! Dort werden die Flüchtlinge ihre erste Nacht in der Freiheit verbringen. Am Morgen beginnen die ärztlichen Untersuchungen, die Vernehmungen, die Wanderungen von Amtsstelle zu Amtsstelle, beginnt das ›Notaufnahmeverfahren‹.

Die Fluchthelfer verschwinden ebenfalls. Einzeln oder in kleinen Gruppen.

Der Telefonist Walter Lehner flucht. Einer hat sein Portemonnaie geklaut. Schweinerei! War nicht viel drin – aber da kann man ja den Glauben an die Menschheit verlieren …

Freunde beruhigen ihn.

»Beim nächstenmal läßt du eben nicht alles rumliegen. Strafe für deine Dusseligkeit!«

Kurt Mittenzwey geht allein fort.

Aus einer Telefonzelle ruft er den kleinen Herrn Fanzelau an und meldet, daß alle ›Listen-Leute‹ und eine Menge anderer herübergekommen sind, insgesamt 113. Viel mehr hätten noch kommen können, wären nicht plötzlich Vopos aufgetaucht, weshalb das Unternehmen abgebrochen werden mußte. Ziemlich mysteriös, dieses plötzliche Auftauchen. Mittenzwey wird Herrn Fanzelau mehr berichten, wenn er mehr weiß, er steht mit einem Polizeimeister Schulz in Verbindung, der dieser Sache bereits nachgeht.

»Ich danke Ihnen sehr«, hört Mittenzwey den feinen, kleinen Herrn sagen. »Gute Nacht. Schlafen Sie sich aus, mein Lieber.«

Er hat Mittenzweys Namen nicht genannt. Niemand hat Mittenzweys Namen genannt – auch in der Hasenauerstraße nicht. Alle anderen Fluchthelfer sind ebenso anonym geblieben. Man lebt schließlich nur einmal.

Nach allen Himmelsrichtungen zerstreuen sich die Männer, die den Tunnel gebaut haben – und wieder zusammenarbeiten werden, beim nächsten.

Mittenzwey nimmt ein Taxi und fährt in die Bleibtreustraße. Seine Frau erwartet ihn. Sie küßt ihn sehr zärtlich, als er die kleine Wohnung betritt und sagt: »Hundertdreizehn. Alles okay.«

Ach, wenn er wüßte, wie wenig alles okay ist …

Er setzt sich auf den Rand des Bettes, seine Füße schmerzen, er will die Schuhe ausziehen. Barbara läuft in die Küche. Dort steht eine Flasche Remy Martin – zur Feier des Tages hat Barbara sie gekauft. Als sie mit Kognak und Gläsern ins Schlafzimmer kommt, schläft Mittenzwey, tief atmend, die Schuhe noch an den Füßen.

Sie füllt ein Glas und nippt von Zeit zu Zeit, während sie neben dem Schlafenden sitzt, als bewache sie ihn vor allem Bösen, während sie so dasitzt, schön, stolz auf ihren Mann, glücklich …

Zu dieser Zeit hat Polizeimeister Schulz die Reporter und Fotografen der ›Weltpresse‹ und das Rudel der zusammengetrommelten Komparsen schon in den Keller gelassen. Da dürfen sie sich nun austoben. Männer, Frauen und Kinder werden mit der Winde zur Schachtsohle hinabgelassen und wieder heraufgezogen, Menschen, die mit der Flucht überhaupt nichts zu tun hatten, nicht das allergeringste – ebensowenig wie jene, die nun die Fluchthelfer mimen.

Na, was denn?

Menschen sind Menschen!

Auch die Komparsen werden auf den Fotografien dicke schwarze Balken über den Gesichtern tragen. Und sich schämen, herumzuerzählen, daß sie sich für so etwas hergegeben haben. Und wenn sie sich nicht schämen? Ihre Sache. Wer wird ihnen glauben? Sollte es Ärger geben (gab es noch nie), dann sagt man empört: Natürlich waren das Komparsen! Denken Sie, wir betreiben ein Geschäft, bei dem Menschenleben gefährdet werden?

Hauptsache ist der Tunnel! Und der ist echt! Den gibt es wirklich! Den kann jedermann besichtigen!

Und so wird er fotografiert, von oben nach unten, sein Inneres, die Einschußlöcher der Kugeln aus den Vopo-Maschinenpistolen, die Winde, der Exhaustor – alles. Man muß einfach glauben, die Reporter seien schon dagewesen, als die Flüchtlinge kamen.

Film um Film verbrauchen Rappert und Schiff.

Lieber noch einmal. Und noch einmal!

Man braucht gute Aufnahmen.

Sollen ja weiterverkauft werden, nicht wahr?

Also, liebe Dame, wenn Sie bitte noch mal runter in den Schacht wollten – die Aufnahme ist verwackelt.

Die liebe Dame (hundert Mark sind hundert Mark) kehrt in den Schacht zurück, wird hochgehievt, wieder fotografiert.

Ein lieber Herr wird sechsmal fotografiert, wie er durch den Tunnel gerannt kommt. Er muß immer dasselbe Stück rennen. Dann sind Rappert und Schiff endlich zufrieden.

Blitzlicht! Blitzlicht! Blitzlicht!

Noch mal! Völlig natürlich, bitte!

Diese völlige Natürlichkeit ist es, die bei solchen Dokumentarfotos am meisten erschüttert. Weil solche Fotos eben nicht gestellt sind, sondern echt, echt wie das Leben.