Die Spaltung eines Landes, wenn man sich das überlegt, hat manchmal schon ganz hübsch lange gedauert. Nehmen Sie Polen. Das wurde 1772, 1793 und 1795 zuerst dreimal nacheinander geteilt, bis die Russen, Preußen und Österreicher jeder mit ihren Happen zufrieden waren – und erst 1918 wurde das Land wiedervereinigt und selbständig. Dauerte nicht lange, die Herrlichkeit. Hitler kam, Stalin kam, und so weiter, wer es wissen will, weiß das, wer es nicht wissen will, will es auch von uns nicht wissen.
Gespalten von 1772 bis 1918!
Einhundertsechsundvierzig Jahre.
Die Leute, die das Lager Marienfelde im Südwesten Berlins planten, bauten und einrichteten, müssen sich entweder in polnischer Geschichte ausgekannt haben oder ein Kollektiv von realistischen Pessimisten gewesen sein. Oder beides. Denn sie haben ihr Werk auf die Bedürfnisse und Folgen einer Teilung ihres deutschen Vaterlands für mindestens einhundertsechsundvierzig Jahre angelegt.
Da steht vielleicht etwas in der Marienfelder Allee! In die Tiefe gestaffelt. Block an Block. Baracke neben Baracke. Alles da. Ja, alles. Schlafsäle. Speisesäle. Amtsräume. Zimmer für Familien. Arztstationen. Polizeirevier. Feuerwehr. Großküchenbetrieb. Eigener Fuhrpark. Spielplätze für die Kinder. Zentralheizung, Bäder, Grünanlagen. Ein Riesenlager, durch das jeder muß, der über Berlin aus dem Osten in den Westen flüchtet.
Trotz seiner Größe war das Lager oft und oft zu klein. Bis zum Bau der Mauer kamen immerhin fast vier Millionen Bürger der Deutschen Demokratischen Republik in den Westen, meistens via Berlin. Die vielen Beamten des Lagers wußten manchmal nicht mehr, wo ihnen der Kopf stand. übereinander mußte man die Betten in den großen Schlafsälen stellen, auf die Gänge hinaus. Mehr und mehr Autobusse mußte man anfordern. Sie brachten Flüchtlinge, die ›cleared‹ waren, vom Lager zum Flughafen Tempelhof. Da wurden sie dann in die Bundesrepublik (wo sie zunächst wieder in ein Lager kamen) ›ausgeflogen‹. Jeden Tag warteten Trupps in den Höfen, abrufbereit. Es ging zu wie in einem ungeheueren menschlichen Ameisenhaufen.
Wenn man draußen auf der Allee stand, sah man die Flüchtlinge vom nahen S-Bahnhof her kommen, ununterbrochen, bei Tag und bei Nacht, Männer, Frauen, Kinder. Ganz alte Leute. Babys. Die Menschen kamen mit Kinderwagen. Koffern. Kartons. Ohne alles. Sommer und Winter, bei Hitze und bei Schnee – jahraus, jahrein.
Die Besitzer der Bretterbuden-Stampen gegenüber dem Lagereingang, der ›Klosterklause‹ und der ›Mutti-Schenke‹, verdienten sich damals dumm und dämlich. Denn nach der Aufnahme bekam jeder Flüchtling etwas Westgeld und Fahrkarten, mit denen durfte er unentgeltlich die öffentlichen Verkehrsmittel benützen. Waren sehr viele Behörden aufzusuchen, die weit entfernt lagen.
Mit den Freibilletts konnte man nichts anfangen, mit dem Westgeld schon. Die Männer lieferten es in den erwähnten Stampen ab, für Bier und Korn, an Glücksautomaten. Die jungen Mädchen rannten immer sofort los und kauften Nylonstrümpfe und Lippenstift. Dann hatten sie alle keinen Pfennig mehr und mußten um neues Geld betteln. Ja, so war das, bis die Mauer stand.
Seitdem wurde es natürlich ruhiger im Lager, viel ruhiger. Immer noch ist es ordentlich belegt, immer noch arbeiten hier Organisationen aller Art. Immer noch besteht das komplizierte Meldestellen-Labyrinth, durch das jeder hindurch muß. Arzt. Polizei. Pfarrer, solche und solche. Jugendamt. Wohlfahrtsamt Wohnungsamtsaußenstelle. Registratur. Paßstelle. Ausweisstelle. Befragungszimmer der Alliierten …
Immer wieder wird das Lager gereinigt, geputzt, verschönt, umgebaut. Es ist ganz sauber – aber es stinkt. Es stinkt nicht mehr so, wie es zum Beispiel 1958 stank, als man noch leicht ohnmächtig werden konnte, wenn man in die Vorhalle trat und nicht vorsichtshalber ein Taschentuch an die Nase gehalten hatte. Nein, so stinkt es nicht mehr. Aber doch noch. Die vielen Menschen, die hier durchgingen, haben ihre Gerüche zurückgelassen, und diese haben sich in den Mauern des Lagers festgesetzt. Das tun Gerüche in jedem Lager. Jedes Lager auf der ganzen Welt, das einmal stinkt, stinkt immer. Wenn man will, daß der Gestank aufhört, muß man das Lager vernichten und ein neues bauen.
Im Sommer stinkt Marienfelde natürlich weniger als im Winter. Im Sommer kann man alle Türen und Fenster aufmachen.
Dabei ist es ein ›luxuriöses‹ Lager. Mit jedem Komfort. Mit vielen Blumen, Werken bekannter Bildhauer in den Gärten, mit modernsten Einrichtungen. Aber eben ein Lager. Die Trostlosigkeit haben die Menschen gebracht. Sie ist zurückgeblieben wie der Geruch. Auch die Trostlosigkeit kann niemand vertreiben.
Überall gibt es Tafeln.
Fotografieren strengstens verboten! – Reden sie mit niemandem, den sie nicht ganz genau und persönlich kennen – sie können jederzeit an einen Spitzel geraten! sprechen sie nicht ein Wort über sich selbst – zu niemandem, nur zu Behördenvertretern!
Mit selbigen spricht Bruno Knolle nach einer Nacht, die er in einem Einzelzimmer verbracht hat. Man isolierte ihn von den Hundertzwölf, die mit ihm durch den Tunnel gekommen waren. Am Morgen sieht er sie, als ein Beamter ihn durch die Höfe führt. Sie stehen in Gruppen und debattieren, wie das Hunderttausende vor ihnen getan haben in diesen Höfen. Als sie Bruno erblicken, verstummen sie. Er grüßt. Keiner grüßt ihn. Das ist doch der, der ausgerissen ist! Jetzt geht er mit einem Beamten hier durch. Achtung! Reden Sie mit niemandem, den Sie nicht ganz genau kennen – Sie können jederzeit an einen Spitzel geraten!
Wer ist dieser Mensch?
Keiner der Flüchtlinge weiß das.
Der Beamte führt Bruno von Amtszimmer zu Amtszimmer. Überall wird er außer der Reihe vorgelassen. Die anderen können stundenlang warten, Bruno kommt immer gleich dran. Komisch. Sehr komisch! Muß was Hochpolitisches sein – so oder so. Wegsehen. Keine Notiz nehmen.
Niemand nimmt also Notiz von Bruno. Nur die dicke Dame, die im Einsteigloch des Tunnels steckengeblieben ist und der er mit einem Kinnhaken doch noch die Flucht ermöglicht hat, eilt ihm auf dem Gang vor den Zimmern der alliierten Vernehmer entgegen.
»Lieber Herr, da sind Sie ja! Endlich kann ich Ihnen die Hand schütteln! Mein Leben verdanke ich …«
Der Beamte, der Bruno begleitet, schiebt die Dicke beiseite.
»Nicht«, sagt er.
Und schon verschwindet Bruno im Zimmer des amerikanischen Vernehmers.
»Was soll denn das?« fragt die Dicke und sieht die anderen, die mit ihr warten, verständnislos an. Und die anderen wenden sich auch von der Dicken ab, genau wie von Bruno.
Reden sie mit niemandem, den sie nicht ganz genau kennen – sie können jederzeit an einen Spitzel geraten!