Barbara Mittenzwey nimmt ihr Studium der Medizin an der Freien Universität Berlin wieder auf, ihr Mann das der Jurisprudenz. Aber er kommt nur zu zwei Vorlesungen. Dann hat er etwas Wichtigeres zu tun.
Barbaras Eltern sind noch drüben. Sie lieben ihr Kind. Und Barbara liebt ihre Eltern. Sie kann nicht schlafen vor Angst und Sorge. Und Mittenzwey liebt seine Frau. Gibt es da überhaupt noch die Frage, was er zu tun hat?
Ach, Mittenzwey, ruhiger, skeptischer Mittenzwey, jetzt reißt dich das Leben doch in den unheimlichen, finsteren Strudel aller Gefahren, denen du so lange und so geschickt ausgewichen bist!
Es reißt dich?
Du wirfst dich ja hinein in den Mahlstrom, zu allem entschlossen, bedenkenlos! Du machst es dem Leben leicht, dich zu zerstören. Natürlich zerstört das Leben uns alle, früher, später, ob wir uns nun bewahren wollen oder nicht. Aber du, Mittenzwey, du wolltest es einmal, und nun willst du es nicht mehr. Wir werden sehen, was solchen geschieht wie dir, wir werden es sehen …
Mittenzwey hört herum. Er erfährt, daß es in Westberlin Gruppen gibt, die Tunnel unter der Mauer durchgraben und Menschen her- überholen. Immer mehr Gruppen entstehen. Einer von ihnen schließt Mittenzwey sich an und baut an einem solchen Tunnel mit, im Oktober 1961. Eine schwere und langwierige Arbeit ist das. Mit ihm buddeln Studenten, die selber geflohen sind, Studenten aus Westberlin, junge Arbeiter, ein paar Spezialisten. Es gibt einen Boß, der leitet alles, der schafft das Geld ran, das man braucht.
Woher kommt das Geld?
Mittenzwey interessiert sich nicht dafür. Noch nicht. Er will Barbaras Eltern in den Westen holen, das ist alles, was er zunächst will. Er holt sie. Zweiundfünfzig Flüchtlinge kommen insgesamt durch den Tunnel, bevor er drüben entdeckt wird. Barbaras Eltern werden als politische Flüchtlinge anerkannt wie Mittenzwey und seine Frau, sie bekommen Aufenthaltserlaubnis und Rente. Sie wohnen bei den Kindern in der Bleibtreustraße. Nur vorübergehend, denn die Wohnung ist zu klein für vier Personen. Die Eltern werden bald ein eigenes Heim zugewiesen erhalten. Es dauert alles seine Zeit. Sie sind im Westen – das ist die Hauptsache! Auch in einer zu kleinen Wohnung können vier Menschen leben, wenn sie aufeinander Rücksicht nehmen. Und eigentlich sind es meistens ja überhaupt nur drei Menschen. Denn seltener und seltener ist Kurt Mittenzwey daheim. Seit er bei der Flucht der Zweiundfünfzig half, seit er die Gesichter der Flüchtlinge sah, seit er das alles erlebte, die furchtbare Angst zuerst, das fassungslose Glück dann später, hat ihn eine fixe Idee ergriffen: Mehr Menschen muß man zur Flucht verhelfen! Zweiundfünfzig – das ist lächerlich!
Es hat keinen Sinn, in einer gesetzesfeindlichen, alle Gesetze brechenden und mißachtenden Welt noch Gesetze zu studieren und zu versuchen, mit ihrer Hilfe Recht zu sprechen. Recht sprechen – das ist gar nichts! Recht tun muß man!
Mittenzwey gibt seine Juristerei auf. Er besucht keine Vorlesungen mehr. Bei einer anderen Gruppe baut er einen zweiten Tunnel. Diesmal interessiert er sich schon für die finanziellen Hintergründe. Immerhin, das weiß er nun, kostet der Bau eines Stollens zwischen 30000 und 50000 Mark.
Woher kommt das Geld? fragt Mittenzwey eines Abends den Tunnelboß. Das ist ein geflüchteter Mechaniker, zweiunddreißig Jahre alt, ein knochiger Mann mit eingeschlagener Nase und Totalglatze. Ein paar Zähne fehlen ihm auch. Lamprecht heißt er. Einen Arm haben sie ihm kaputtgeschossen, als er durch die Spree geschwommen ist. Mußte amputiert werden. Mit Mechaniker hat es sich also. Nichts mehr zu machen.
Lamprecht ist ganz offen zu Mittenzwey, er sagt, wie das zugeht, und Mittenzwey kennt sich nun bei Menschen schon genug aus, um zu wissen, der Lamprecht, der lügt nicht.
Das Geld also kommt von Otto Fanzelau, dem Inhaber der bekannten gleichnamigen Privatbank, Bankhaus Fanzelau. Das ist ein Begriff! Nicht nur in ganz Deutschland, nein, in der ganzen Welt. Otto Fanzelau, glaubt Lamprecht, finanziert überhaupt alle Tunnel. »Ich kriege die Baukosten auf Raten«, erzählt der einarmige Ex-Mechaniker. Er geht mit Mittenzwey auf dem Kurfürstendamm spazieren bei diesem Gespräch, es ist sehr kalt, aber die Luft, die frische Luft an diesem Februartag 1962, tut gut. Der Schnee knirscht unter ihren Schuhen. »Immer, wenn eine Rate alle ist, rufe ich Fanzelau an und sage, wieviel ich weiter brauche. Dann läßt er mich am nächsten Tag kommen und gibt mir das Geld. Hat es daheim. In einem Tresor. Ich muß abrechnen, genau, weißt du, mit allen Belegen, und die Beträge, die ich erhalte, muß ich quittieren.«
»Finanziert der das alles aus eigener Tasche?«
»Möglich. Aber ich habe keine Ahnung. Vielleicht zahlt auch der Senat, und er gibt die Penunse nur weiter. Vielleicht zahlt irgendeine Organisation.«
»Eine Westberliner?«
»Ja. Oder eine westdeutsche. Oder eine ausländische. Können auch politische Parteien dahinterstecken. Ist uns doch egal! Fanzelau sagte mir gleich beim erstenmal, ich darf keine Fragen stellen. Also stelle ich keine. Er gibt die Penunse, wir bauen. Wenn wir bestimmte Leute rüberholen wollen, melde ich es ihm rechtzeitig, und er verständigt sie.«
»Wie macht er das?«
»Weiß ich nicht. Jedenfalls sind die Leute immer da, wenn wir durchbrechen. Gibt doch noch so viele Möglichkeiten! Schau mal: Jeder Ausländer, ja jeder aus Westdeutschland darf bei den Übergangsstellen rüber. Wenn er mal drüben ist, kann er reden, mit wem er will. Auch Briefe kann man schreiben oder schreiben lassen. Sogar telefonieren.«
»Ach, von Westberlin nach Ostberlin?«
»Sei nicht so dämlich, Kurt. Das natürlich nicht! Aber von Westberlin mit der ganzen Bundesrepublik! Und aus der ganzen Bundesrepublik mit Ostberlin und der Zone!«
Stimmt. über den kleinen Umweg von fünfhundert oder achthundert oder tausend Kilometern Telefonkabel kann jeder Mensch aus Westberlin einem Menschen aus Ostberlin in dringenden Fällen und kürzester Zeit eine telefonische Nachricht zukommen lassen. Die beiden Menschen sind vielleicht nur einen Kilometer voneinander entfernt. Triumph der Technik!
»Außer den Leuten, die wir rüber haben wollen, Angehörige von denen, die mit uns buddeln, oder Gefährdete vor der Verhaftung und so«, erzählt Lamprecht, »kommen immer welche, die keiner von uns kennt. Das sind dem Fanzelau seine. Wichtige Leute.«
»Wichtig für wen?«
»Für ihn oder für die, die hinter ihm stehen. Wer immer die sind. Hat keinen Sinn zu fragen. Kriegst doch keine Antwort. Aber Geld kriegst du. Und kannst buddeln. Wenn Fanzelau dich fest anstellt – so wie mich –, hast du ein regelmäßiges Einkommen. Wer verlangt mehr mit einem Arm? Ich habe eben einen neuen Beruf. Reich will ich ja schließlich nicht werden an der Sache!«
Hatte Mittenzweys zweiter Boß gesagt.
Der dritte schien reich werden zu wollen. Der ließ sich den Tunnelbau zweimal finanzieren. Einmal von diesem Privatbankier Fanzelau und dann noch einmal von einer westdeutschen Illustrierten. Der bot er exklusiv das Recht an, das ganze Unternehmen Stufe um Stufe zu fotografieren und die Geschichten abzudrucken, welche die Flüchtlinge erzählen würden.
Als dies herauskam, nämlich durch das Erscheinen von Fotografen und Reportern der Illustrierten, kriegte Mittenzwey Krach mit seinem dritten Boß. »Das ist eine Sauerei«, sagte Mittenzwey. »Du machst aus einer guten Sache ein dreckiges Geschäft.«
Der dritte Boß des ehemaligen Jus-Studenten war ein bleicher, schwindsüchtig wirkender Mann von etwa dreißig Jahren namens Rucker. Woher er kam, das wußte keiner.
»Nun laß es dir nicht gleich in die Hosen gehen«, sagte Rucker. »Was heißt dreckiges Geschäft? Okay, ich nehme Geld von der Illustrierten. Die hat Millionen, Mensch! Was sind da Fünfzigtausend? Für die Reklame? Können sie dann doch schreiben: Soundso viele Menschen verdanken unserer Illustrierten die Freiheit!«
»Ja, und wenn das ordentlich knallig serviert wird, dann steigt die Auflage, und mit der Auflage steigen die Inseratenpreise, und die Illustrierte verdient an ihrem Edelmut, und du verdienst an deinem Edelmut, und alles ist in Butter!«
Den Streit haben die beiden im September 1962, an einem milden, windstillen Tag. Sie sitzen neben der Avus und sehen amerikanischen Soldaten zu, die in den Wäldern Manöver abhalten. Hinter ihnen jagen Wagen über die Autobahn. Pneus singen. Vier bis sechs Monate dauert ein Stollenbau. Bis August war Mittenzwey noch bei Lamprecht beschäftigt gewesen. Da hatten sie den Tunnel fertig gebaut. Aber durch den kam kein Flüchtling rüber …
Als sie drüben durchstießen, kletterte Lamprecht zuerst aus dem Loch. Ein ungeschriebenes Gebot: Als erster geht immer der Boß. Dies war nämlich der gefährlichste Moment. Mittenzwey und drei andere Kameraden kauerten im Tunnel. Sie warteten und wagten nicht, sich zu rühren, bevor sie Lamprechts Stimme hörten. Sie mußten lange warten, mindestens fünf Minuten. Dann erklangen Schritte. Und dann hörten sie Lamprecht schreien: »Ich soll rufen: Kommt alle raus, da liegt ein Angeschossener! Aber da liegt gar keiner! Die Vopos haben mich erwischt, sie warteten schon! Haut ab! Haut …« Das zweite ›ab‹ konnte Lamprecht nicht mehr brüllen. Zwei Schüsse knallten, trocken, kurz.
Röcheln. Stöhnen. Stille.
Sie waren zurückgestürzt durch den Stollen, Mittenzwey und die drei anderen. Sechs Monate Arbeit umsonst. Lamprecht zweifellos tot. Aber jeder der Gruppe suchte sich sofort Arbeit unter einem anderen Tunnelboß. Damals gab es schon zwei Dutzend in Westberlin. Mittenzwey landete bei dem bleichen, ewig hustenden, ewig rauchenden Rucker. Und mit dem hat er jetzt Streit …
»Junge, Junge«, sagt Rucker und spuckt ins Gras und zündet eine Zigarette am Stummel einer anderen an, »nun mach aber ’n Punkt. Na schön, ich verdiene! Ich muß verdienen! Wenn ich nämlich nicht spätestens in einem halben Jahr in der Schweiz bin, in irgendeinem Sanatorium hoch oben, dann ist Feierabend bei mir. Sagt der Doktor. Und das, weißt du, möchte ich nun gerade nicht. Pointe: Lungensanatorium in Davos bezahlt die Wohle nicht.«
»Wenn ich so krank wäre, würde ich weniger rauchen«, erklärt Mittenzwey nachdrücklich.
»Das laß man meine Sorge sein, ja?« sagt Rucker. Und böse spuckt er wieder ins Gras. »Immer noch besser, ich verschaffe mir mit der Illustrierten mein Geld, als es so zu machen wie die Brüder, die sich von Fanzelau bezahlen lassen und dann noch in Westberlin rumlaufen oder in die Bundesrepublik fliegen und sich pro Flüchtlingskopf und -nase von Angehörigen sechs- bis achttausend Piepen geben lassen! Wenn da keiner für den, der flüchten will, zahlt, dann kann der verschimmeln drüben! Mensch, im Juni sind doch zwei Flüchtlinge von solchen Fluchthelfern sogar umgenietet worden, weil sie ohne Bezahlung rüber wollten!«
Umnieten, das heißt erschießen, Mittenzwey weiß es. Es gibt viele Fachausdrücke in diesem Gewerbe. Und er hat auch die Geschichte von den beiden Flüchtlingen gehört, denen sich in einem Tunnel Westberliner in den Weg stellten und sie zurückjagen wollten. Nach einer kurzen Prügelei waren die zwei Flüchtlinge zwei Leichen gewesen. Namen der Mörder? Nie bekannt geworden. Intern weiß man natürlich Bescheid …
Treuherzig sagte also Tbc-Boß Rucker: »Wenn du was gegen solche Dreckschweine hast – bitte sehr! Die verdienen sich wirklich dumm und dämlich! Die rechnen mit Hunderttausenden Reingewinn. Devise: Wer zahlt, darf fliehen, wer nicht zahlt, der nicht. Das nenne ich auch eine Sauerei. Aber meine Illustrierte …«
»Mensch, kapierst du denn nicht, daß deine Illustrierte ihr Geschäft mit der Lebensgefahr von denen drüben und deinen Kumpels und dir macht?«
»Klar kapiere ich das. Soll sie doch. Meine Lunge …«
»Deine Kumpels haben auch Lungen!«
»Aber gesunde.«
»Ja, noch. Mein letzter Boß ist hopsgegangen im August.«
»Künstlerpech. Jedenfalls nieten wir keinen um!«
»Bist mächtig stolz darauf, was? Vielleicht kommt’s noch. Ich will dir mal was sagen: Ich war gestern im Martin-Luther-Krankenhaus.«
Rucker wird plötzlich knallrot und schreit: »Was hast du mir nachzuspionieren?«
Ungerührt antwortet Mittenzwey: »Mit deinem Arzt habe ich gesprochen.«
»Woher weißt du …«
»Einer von den Reportern hat es mir erzählt. Die sind auf Draht! Haben sich erkundigt über dich, bevor sie einstiegen, deine Illustriertenfreunde. Ihnen genügt, daß sie das Krankenhaus kennen, in dem du gelegen hast. Mir hat das nicht genügt. Ich bin hingegangen und habe mit deinem Arzt geredet. Also, einen Monat warst du dort, dann hat der Doktor durchgesetzt, daß du in den Schwarzwald geschickt wirst. Prima Heilstätte. Kostenlose Behandlung. Auch Geld hast du gekriegt.«
»Der Doktor hatte überhaupt nicht das Recht, dir irgendwelche Auskünfte zu erteilen! Du bist kein Angehöriger von mir!«
»Ich habe ihm gesagt, meinem Bruder ginge es ausgezeichnet, er ließe sich herzlich bedanken und schön grüßen. Hast also das Geld genommen und bist dageblieben. Unbedingt Davos, was? Schwarzwald ist dir nicht fein genug. Bist ja auch ein ganz schwerer Fall, glatter Todeskandidat! Er hätte dich natürlich auch in Berlin hingekriegt, sagte der Doktor. Vernarbte Tb. Lunge an den Narbenstellen geschrumpft. Als du zu ihm kamst, hattest du einen Sekundär-Katarrh in dem geschrumpften Gewebe. Auswurf niemals positiv. Mit Neoteben wäre es weggegangen wie nichts. Er wollte dir bloß was Gutes tun, du solltest dich mal ausruhen und anfressen, sagte der Doktor. Würde sich freuen, wenn er wüßte, daß du hier die Gegend vollschleimst.«
»Aber das ist doch bloß Mache!« schreit Rucker, plötzlich zusammenbrechend.
»Was ist Mache?«
»Ich habe immer weiter Neoteben geschluckt! Der Katarrh hat ganz aufgehört. Ich bin gesund!«
»Deshalb mußt du ja schnellstens nach Davos.«
»Davos! Schulden habe ich, Mensch, grausige Schulden.«
Mittenzwey steht auf. In seinem Rücken hört er die Autos sausen, die Pneus singen. Er schaut Rucker kurz an, dann geht er los, zurück zur Stadt, auf den Funkturm zu.
Rucker rennt ihm nach.
»Du! Ich gebe dir Fünftausend, wenn du die Schnauze hältst!«
»Die gib diesem Reporter. Trell heißt er. Ich halte schon meine Schnauze. Aber ich habe sie auch voll. Ich buddle nicht weiter.«
Rucker wird weinerlich: »Kannst du das nicht verstehen? Hast du noch nie Schulden gehabt? Die Husterei mache ich doch nur, damit die anderen mir die Illustrierte verzeihen! Deshalb rauche ich so viel … Sobald ich rauche, muß ich husten …«
»Na, dann rauch man schön weiter«, sagt Mittenzwey. »Und nimm die Hand von meiner Schulter, bitte. Geh zu Trell. Gib ihm Fünftausend und erzähle ihm was Hübsches. Wird sich richtig erschütternd lesen: Schwer Lungenkranker als Fluchthelfer. Das letzte Wort, das er herauskotzte, war Freiheit!«