Viele Stühle stehen auf den Tischen der Kneipe ›Zum Schwarzen Schimmel‹, der Wirt macht noch sauber, als Bruno Knolle hereinkommt. Er hat verschlafen. Das lange Gerede bei den Lutters gestern abend, der viele Whisky, das weiche Bett in ›seinem‹ gemütlichen kleinen Gästezimmer – all das zusammen war schuld an der Pennerei. 9 Uhr 30 zeigt die Uhr der Kneipe.
Es ist noch heißer als gestern an diesem 15. August 1964, einem Sonnabend. Wer nicht muß, ist gar nicht in die City gekommen. Gibt aber welche, die müssen. Zu denen gehört Bruno.
Rundfunksprecher Franz Lutter übrigens auch. Der brachte Bruno mit seinem BMW in die Stadt. Draußen in der Bolivar-Allee hatte er ihn geweckt, wahrhaftig! War schon völlig angezogen gewesen. Renate Lutter übrigens ebenfalls. Beiden sah man nicht im geringsten an, was sie ein paar Stunden vorher an Alkohol konsumiert hatten. Renate zeigte sogar rote Bäckchen und wirkte hübscher als tags zuvor. Ob die schon wieder einen hinter die Binde gegossen hatte? Gleich nach dem Frühstück? Oder sogar nüchtern? Bruno neigte der Ansicht zu.
Im Wagen fiel ihm dann wieder diese unglaubliche Geschichte mit der Verjährungsfrist ein.
Bruno kann sich nicht beruhigen, er will ein neues Gespräch beginnen, aber Lutter nicht. Er antwortet einsilbig. Franz, Franz, was ist dir geschehen in all den Jahren? Nun fährst du in deinen Sender. Und freust dich auf die Dämmerung. Weil du dann wieder ›trinken‹ darfst. Bis dahin nur ab und zu ›ein Schlückchen‹ …
An der Ecke Uhlandstraße – Kurfürstendamm möchte Bruno aussteigen. Erzählt etwas von Stellenangeboten in der Nähe. Lutter ist ganz arglos, schüttelt ihm die Hand.
»Toi, toi, toi! Sehen werden wir uns ja wohl erst morgen früh. Habe Spätdienst heute. Immer die scheußlichsten Tage.«
»O je! Ooch nischt in’t Glas, wenn’t dunkel wird!«
»Genau. Na, ich werde nicht daran sterben! Für dich sorgen Renate und Diana, die sind daheim.«
Das Licht der Ampel, vor der Lutter gebremst hat, wechselt. Er fährt los und winkt noch. Sein Wagen funkelt in der Sonne …
Bruno tippelt den Kurfürstendamm hinunter, Richtung Gedächtniskirche. Der Asphalt ist schon jetzt weich! Ganz mitgenommen sehen alle Leute aus. Diese Hitze währt seit Tagen …
Heute muß ich mächtig ran, denkt Bruno. Sehr mies fühlt er sich. Nicht vom Whisky. Der hat ihm gar nichts getan. Aber weil er jetzt eben ran muß, und zwar schnell! Mit Prangel telefoniert er weiter alle zwei Stunden, nur nachts nicht. Da stehen Kriminalbeamte Wache vor dem Haus in der Bolivar-Allee 170. Bruno weiß es.
Der ›Hauptreferent‹ hat noch immer nichts von sich hören lassen. Dafür drängt – elende Welt! – nun Prangel: »Die Amis warten, Bruno. Mach voran mit deinen Freunden, ja?«
Ja, mach voran.
Himmelarschundzwirn, wenn das nicht die gemeinste, verschissenste Zwickmühle ist, in die ein Mensch geraten konnte! Weil alles bisher so relativ sanft, glimpflich und angenehm verlief, ist es Bruno noch immer nicht klar zu Bewußtsein gekommen, wie es um ihn steht.
Jetzt kommt es ihm zu Bewußtsein!
Bisher hat er sich gedreht und gewunden, Witze gerissen, sich schlau gefühlt, hat Entschuldigungen für seine Peiniger gesucht und gefunden. Bräsig – der hat sicher nicht gern getan, was er getan hat. Der hat Angst. Der muß! Prangel – dasselbe. Muß auch. (Die Amis.) Selbst wenn Bruno einmal an den ›Hauptreferenten‹ dachte, überlegte er: Wer weiß, wie der zum SSD kam? Wer weiß, wie dem jetzt zumute ist?
Schluß!!!
Schluß jetzt mit diesem ›Jeden-Entschuldigen‹!
Passanten bleiben stehen und sehen Bruno erstaunt oder erschrocken nach, denn der flucht im Gehen plötzlich halblaut vor sich hin und schlägt mit den Fäusten in die Luft.
Hunde sind das, Bluthunde, alle, alle, alle!
Keiner ist besser als der andere! Jeder denkt nur an sich! Ich muß jetzt an mich denken! Wenn ich das nicht tue, augenblicklich tue, ist mir nicht zu helfen.
Wie behandelt man tollgewordene Bluthunde, wenn man nicht will, daß sie einen totbeißen? Voll Güte? Voll Verständnis für ihr Verhalten? Indem man darüber nachsinnt, was sie wohl toll gemacht hat?
Wenn man das tut, kann man sich auch gleich in den Dreck schmeißen, damit sie es leichter mit dem Totbeißen haben, die Hunde!
Nein, Sieger in einem solchen Kampf bleibt man nur, indem man genauso brutal ist wie sie, genauso hinterhältig, listig und verschlagen – genauso hündisch. Noch hündischer!
Jawohl!
In dieser bösen Stimmung nun betritt Bruno Knolle den ›Schwarzen Schimmel‹ und schnauzt: »Een Bier!«
Der Wirt, fett und rotgesichtig, mustert den frühen Gast übellaunig und schlurft dann zur Theke.
Während der ein Glas vollaufen läßt, sieht Bruno, kochend vor Wut, sich in der Stampe um. Immerhin: Dieses Etablissement frequentiert er seit – na, also seit dreißig Jahren bestimmt. Mit Unterbrechungen. Als da sind: U-Haft, Gefängnis, Strafkompanie, Gefangenschaft, wieder U-Haft, Zuchthaus.
Eine große Kneipe ist der ›Schwarze Schimmel‹, viel größer als die, von der Bruno träumt. Es gibt zwar Tische und Stühle, aber hauptsächlich trinkt man hier im Stehen, an hohen, runden Tischen. Nein, so eine Kneipe möchte der Bruno nicht haben, nicht geschenkt.
Das Publikum allein. Mein lieber Mann …!
Direkt vor dem Lokal in der Chimanistraße verläuft ein Strich. Alte Huren, junge Huren, Stiefelweiber. Lesbierinnen, was das Herz begehrt. (Um 9 Uhr 30 früh natürlich noch nicht.) Dazu die Luden. Die zocken hier nächtelang, während ihre Bienen traben. Ein Haufen Pupen, obwohl das kein ausgesprochener Aufreißplatz für Pupen ist. Sie werden von den Huren geduldet, ebenso wie die Damenimitatoren. Die gehören ja auch eigentlich nicht hierher. Dann Taxichauffeure. Ist ein großer Stand um die Ecke. Und dann jahrein, jahraus Neugierige, aus der ganzen Welt. Die feinsten Leute! Ja, die kommen auch her, denn der ›Schwarze Schimmel‹ genießt Berühmtheit.
Aber eine solche Berühmtheit möchte Bruno nie haben mit seiner Kneipe, wenn er je eine haben sollte. Ein Bums ist das da ja, ein ganz billiger Saftladen. Goldgrube natürlich. Haben sich schon Dutzende von Pächtern gesundgestoßen. Wem das Lokal eigentlich gehört, weiß Bruno nicht. Den Wirt da hat er noch in Erinnerung. Der war schon Pächter vor fünf Jahren.
»Ihr Bier!« Das Glas wird hart vor Bruno hingesetzt.
Der Wirt ist sauer. Bruno aber auch! Der sagt nicht einmal danke. Scheußlich, diese Kneipe! Da hängen noch die blöden, alten Fotos von irgendwelchen Stammtischrunden an den Wänden, und diese Gedichte und Inschriften, die Bruno nie leiden konnte.
Zum Beispiel:
Guter Mond, wenn ich dich seh,
Machst du mir große Plage.
Du bist im Jahre zwölfmal voll,
Und ich bin’s alle Tage!
Oder:
Noch ’ne kühle Blonde und dann nach Hause,
sonst schimpft Mutti!
Oder:
Erschossen wurde hier ein lieber Freund
und Stammgast,
Weil er keine Revanche geben wollte.
Das soll Humor sein. Das da auch:
Sauf, daß dir die Nase glüht
Hell wie ein Karfunkel,
Daß du eine Leuchte bist
In des Daseins Dunkel!
Als er dieses Poem gelesen hat, schwindet Brunos Zorn. Denn unter dem Gedicht saß er oft, oft mit seiner Nelly, als die noch hier werkte. Mit Nelliken, seiner großen Liebe. Damals war es ihm gleich, wie der ›Schimmel‹ aussah.
Er sah nur Nelly!
Nelly … Nee, nich dran denken!
Bruno wischt sich Schaum vom Munde und spricht nun vernünftigerweise sehr freundlich: »Sagense mal, vakehrt hier’n jewissa Oskar Knargenstein? Knarje genannt?«
Der Wirt mustert ihn mißtrauisch und immer noch verletzt.
»Mix nich bekannt.«
»Oder ’n jewissa Arthur Pokay?«
»Sind Sie von de Polizei?«
Der Bruno knurrt: »Seh ick so aus?«
»Nee. Aba Se komm mir so bekannt vor …«
»Ick bin doch der Bruno Knolle!«
»Der Bruno!« Jetzt wird auch der Wirt freundlicher. »Sie warn aba ’ne Ewigkeit nich da. Is wat …« Er unterbricht taktvoll und sucht in seinem Gedächtnis: »Sagense, warense damals nich befreundet mit den … Herrgott, ick un Namen! … mit den Knargenstein?«
Mensch, du hast dein Gehirn aber auch schon weich gesoffen, denkt Bruno und antwortet: »Deswejen frage ick ja nach ihm!«
Der Wirt wiegt den Kopf. »Ja, Knarje … der vakehrt hier. Fast täglich.«
»Wissense zufällich, wo er wohnt?« (Mit diesem Pächter wird’s bald alle sein.)
»Liegt mir uff de Zunge. Wo war det man bloß? Moment. Ick frag mal meine Olle. Die hat ’n besseret Jedächtnis als ick …«
Nun, und so bekommt Bruno dann eine Adresse, aber als er Knarje dort sucht, teilt ein Strichmädchen, das nebenan wohnt, ihm mit, daß Herr Knargenstein vor Nachmittag kaum heimkommen würde. »Wo issa denn?«
»Fragen Sie doch mal in der ›Pension Florida‹«, sagt das Mädchen. »Wissen Sie, wo die liegt?«
Ja, das weiß Bruno. Ganz in der Nähe von der Chimanistraße liegt die Berühmte Absteige. Bruno geht hin. Er war noch nie da, und so lernt er nun erst die Besitzerin der Pension kennen, die klaftige, grimmige Frau Ilse Stanior. Anschließend stört er seinen Freund Knarje bei den Dreharbeiten zu einem pornographischen Film und wird der blonden Wanda und diesem verkrachten Medizinstudenten, dem ›Leichen-Hans‹, vorgestellt.
Ja, und dann wird er am Telefon verlangt und muß sich setzen, als er die Stimme des ›Hauptreferenten‹ vernimmt, der ihn zusammenstaucht wegen Bummelei, der ihm befiehlt, nun schnellstens mit Knarje zu sprechen.
»… einer von meinen Leuten wird Ihnen eine Nachricht bringen. In den ›Schwarzen Schimmel‹ Um achtzehn Uhr. Bis dahin müssen Sie auch Ihre Freunde überzeugt haben.«
»Ick …«
»Unterbrechen Sie mich nicht. Ich weiß, es ist ein bißchen anstrengend. Dafür sind wir bald wieder drüben. Geht doch alles wie geschmiert! Sie haben sich ja prima gehalten in dem ersten Trubel nach dem Rüberkommen. So, Schluß jetzt. Ende!«
Aufgehängt.
Fluchend erhebt sich Bruno.
Er sieht, daß Knarje in der offenen Tür seines ›Ateliers‹ steht, hinter ihm Wanda und der ›Leichen-Hans‹. Sie alle betrachten ihn besorgt.
Nimm dich zusammen, Bruno!
Hart sein, keß, die Schnauze auf, jetzt! Denk an dich! Es geht um dich! Das hast du dir doch auf dem Ku-Damm vorgebetet!
»Seht ihr ’n Jespenst?« Bruno grinst verzerrt.
Die drei schweigen.
»War bloß ’n wichtija Anruf. Hing mit meine Sache zusamm …« Er sieht Knarje an.
Der versteht sofort.
»Schluß für heute, Kinda. Dringende Besprechung.«
»Ich verschwinde schon«, sagt Hans Radke.
»Ick ooch«, sagt Wanda. »Müde jenug bin ick. Hau mir ’n Weilchen ufft Ohr.«
Bruno schüttelt beiden markig die Hand. Den starken Mann spielt er jetzt, einen richtigen Superman. Er wird sich nicht unterkriegen lassen von diesem Pack, das ihn jagt!
»So«, sagt Knarje, als er mit dem Freund allein ist. »Nu azähle.«
Und Bruno erzählt …