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Knapp nach 12 Uhr mittags sitzt Mr. A. C. Snowden im Büro des Kriminalrats Prangel im Westberliner Polizeipräsidium. Sie haben über den weiteren Verlauf ihrer Operation gesprochen.

Selbstverständlich hat Snowden sich mit den Befehlshabern der Schutzmächte des französischen und britischen Sektors in Verbindung setzen müssen. Kein Mensch weiß, wohin die Jagd führen wird, und jede Schutzmacht bewahrt ihren Sektor wie ein eifersüchtiger Liebhaber die Angebetete. Außerordentlich viele sogenannte Amtswege war Snowden zu gehen gezwungen gewesen, bevor er endlich die Bewilligung erhielt, seine Leute in ganz Westberlin operieren zu lassen, wie, wann und wo es nötig sein würde. Franzosen und Engländer mußten ständig auf dem laufenden gehalten werden, damit sie notfalls helfend eingreifen konnten.

Die westlichen Garnisonen in der geteilten Stadt sind lächerlich klein. Sie gaben Nikita Chruschtschow am 26. März 1960, als er eine Gipfelkonferenz in Paris auffliegen ließ, Anlaß zu diesem Bonmot: »Zwanzigtausend alliierte Soldaten in Berlin bedeuten keine Gefahr für die Sowjetunion. Eine Viertelmillion wäre uns lieber. Wir könnten sie leichter vernichten.«

So klein die Garnisonen der Verbündeten auch sind – unter keinen Umständen hätte Snowden sie übergehen dürfen. Welcher Affront wäre das gewesen! Nun, inzwischen ist alles geregelt.

»Eines verstehe ich nicht. Wie war es möglich …«, sagt Snowden gerade.

»Das frage ich mich auch«, unterbricht Prangel.

Die beiden Männer arbeiten so lange zusammen, daß sie bereits in den gleichen Bahnen denken, die gleichen Reaktionen haben und sehr häufig nur einen halben Satz sprechen müssen, um zu erreichen, daß der andere ihn versteht. Ein ideales Team.

Snowden grübelt: »Alles kann man von den Brüdern drüben sagen. Idioten sind sie nicht.«

»Wahrhaftig nicht!«

»Die Sache mit Knolle hat dieser Bräsig prima eingefädelt. Den hält er mit der BVG-Drohung wirklich unter Druck. Knolle muß tun, was Bräsig befiehlt. Aber warum muß Knargenstein es tun? Warum Pokay? Wie kann Bräsig so sicher sein, daß sie sich nicht weigern? Welchen Druck mag er auf die beiden ausüben?«

»Knolle hat mir erzählt, Bräsig habe gesagt, daß Pokay und Knargenstein mitmachen würden, weil sie pleite sind und in der Wohnung dieses Unbekannten, der da entführt werden soll, ein Vermögen klauen können.«

»Nonsense.«

»Natürlich ist das Nonsense. So mies kann es keinem Menschen gehen, daß er riskiert, wegen Menschenraub ins Zuchthaus zu marschieren!«

»Precisely.«

»Dazu kommt: Wenn Knolle den beiden die Geschichte erzählt und sie zwingen will, ihm zu helfen, muß er doch befürchten, daß sie zu uns rennen und ihn verraten!«

»Precisely«, sagt A. C. Snowden zum zweitenmal.

»Daß der Bruno – ich meine, der Knolle – zu mir gekommen ist und alles verraten hat, das durfte Bräsig angesichts der BVG-Geschichte für ausgeschlossen halten.«

»Precisely«, sagt A. C. Snowden zum drittenmal.

Prangel seufzt schwer: »Schwierigkeiten genug wird das geben!«

»Was?«

»Alles Belastungsmaterial gegen Knolle zu negieren und den Mann nicht auszuliefern. Ich habe es ihm versprochen, weil Sie mir das aufgetragen haben, Mr. Snowden …«

»Was wird nun eintreffen? Ost-Material! Übersandt, nachdem Knolle dem Osten einen bösen Streich gespielt hat. Kann gefälscht sein. Unter solchen Umständen wird nicht ausgeliefert.«

»Hoffentlich stehen unsere Behörden auf demselben Standpunkt.«

»Das lassen Sie meine Sorge sein«, antwortet der Amerikaner kurz. »Die sind mächtig stur, Mr. Snowden.«

»Ich bin sturer.«

Prangel seufzt wieder. »Na schön. Knolle hat mir ja geglaubt. Jetzt erzählt er Knargenstein und Pokay davon und sagt ihnen, daß auch Belastungsmaterial gegen sie, das uns geschickt wird, unbeachtet bleibt, wenn sie nur mitmachen. Denn das habe ich ihm ebenfalls mitgeteilt, wie Sie verlangt haben.«

»Und das war auch richtig! Da muß ich mich gleichfalls einschalten. Deshalb werden Knolles Freunde wohl kooperieren, nehme ich an. Was ich nicht verstehe: Wie ist es möglich, daß …«

»… die beiden Straftaten begangen haben und wir nichts davon wissen, ja, genau das frage ich mich! Genauer: Wie ist es möglich, daß wir nichts davon wissen – und Bräsig schon?«

Seltsam verbissen erwidert der Amerikaner: »Weil die drüben eben den besseren Dienst haben. Noch immer. Ganz verrückt kann einen das machen. Dazu noch dieser Franz Lutter. Wie sie den ins Spiel gebracht haben. Genial, einfach genial war das!«

»Lutter?« Prangel sieht Snowden gespannt an. »Haben Sie da etwas in Erfahrung gebracht?«

»Im Document Center, ja.«

»Was?«

Mr. A. C. Snowden sagt dem Kriminalrat Prangel, was er im ›Document Center‹ über Franz Lutter in Erfahrung gebracht hat.