12

Wat?« Bruno reißt die kleinen Augen auf.

Knarje läßt sich schwer neben ihn auf das Sofa fallen.

»Sie wissen allet … allet wissense, Stinktiere, vafluchte!«

Den Bruno erfüllt eine wohlige Wärme nach diesem Klageruf Knarjes.

»Hatta dir de Leviten jelesen, der da an’t Telefon?«

»Ja …«

»Wat hatta jesagt?«

»Wat ick jemacht habe. Und wat passiert, wenn ick dir nich helfe.«

»Wat haste denn jemacht, Knarje?« fragt Bruno. Es klingt besorgt. Aber es klingt nur so. In Wahrheit verspürt der Bruno ungeheure Erleichterung. »Nu azähl schon!«

»Schuld an alles is diesa beschissene Soziale Wohnungsbau«, äußert Knarje zähneknirschend. Und dann erzählt er, was er gemacht hat.

Nämlich, das war so:

Knarje und Wanda, die sind doch schon zwei Jahre Bräutigam und Braut. Und eineinhalb Jahre lang hat Knarje versucht, auf anständige und ehrliche Weise zu einer Wohnung zu kommen, und sei sie noch so klein – mit Hilfe des Sozialen Wohnungsbaues.

Man weiß (erzählt Knarje) ja von vornherein, wie das verläuft.

Verläuft überhaupt nicht.

Wenn es nach dem Sozialen Wohnungsbau gegangen wäre (erzählt Knarje), hätten er und Braut Wanda zusammen gut und gern an die zweihundert Jahre alt werden können – ohne eigene Wohnung! Das wollten sie nun aber nicht. Und so beschritt Oskar Knargenstein, nachdem er achtzehn Monate vergebens gewartet hatte, einen anderen Weg. Sechs Monate auf diesem Weg, und er hatte es, das eigene Heim, Glück allein.

Den Pfad, den Knarje ein halbes Jahr lang wandelte, um jenes Ziel zu erreichen (Sagt, war es ein zu hohes Ziel?), wollen wir den ›Maiglöckchen-Ballett-Pfad‹ nennen …

Brunos erlernter Beruf war der eines Kellners.

Knarjes erlernter Beruf war der eines Schwenkers. Ein Schwenker ist der Assistent des Kameramanns beim Film. Als junger Mensch hatte Knarje oft assistiert. Er verstand sich auf Kameras.

Nun, und vor etwa einem Dreivierteljahr traten zwei Herren an ihn heran. Filmproduzenten, wie sie sagten. Sie wollten Knarje als Operateur gewinnen. Die Filme sollten in einer Villa in Zehlendorf gedreht werden. Darsteller wollten die Produzenten heranschaffen. Knarje wurde ein unglaublich hohes Honorar geboten. Es handelte sich nämlich um eine besondere Art von Filmen.

Knarje sagte zu.

Bereits am ersten Aufnahmetag mußte er feststellen, daß seine Produzenten mit minderjährigen Stars arbeiteten, kleinen Mädchen und kleinen Jungen. Ein paar Erwachsene spielten auch mit. Die Jugendlichen zeigten weder Scham noch Scheu.

»Det is ’ne Jenerazjon, kann ick dir flüstan, Bruno«, seufzt Knarje nun. »Die Kleenen müssen direktemang von de Schule zu uns jekomm sein. Meine Ufftragjeba hamse da wohl anjequatscht. Bißken Jeld oda Bonbons oda so – schon jeritzt.«

»Haste dir nich jejraust?«

»Na ja doch, schon. Natürlich. Aba det scheene Jeld, Mensch! Und ick war ja schließlich bloß Kameramann, nich? Und die Kleen’, die ham det ja freiwillich jemacht. Also hab ick de Zähne zusammenjebissen und hab mir jedacht, Mensch, Knarje, hab ick jedacht, denk an die Wohnung. Un denn kamen die Pd.s.«

»Wat denn, wat denn«, sagt Bruno. »Pg.s habt ihr ooch jehabt?«

»Nidi doch Pg.s! Pd.s! Weeßte nich, wat ’n Pd. is?«

»Nee.«

»Na, ’n Päderast, du Dussel!«

»Wat is ’n det, ’n Päderast?«

»Meine Jüte, det weeß der nich mal! ’n Hinterlada, Mensch! Is dir det vielleicht ’n Bejriff?«

»Ach«, sagt Bruno und denkt gramvoll an viereinhalb Jahre Zuchthaus zurück, »ja, det is mir ’n Bejriff.«

»Die Kleenen mit die Kleenen – jut. Alle durcheinanda – jut. Kesse Väta mit kleene Meechens – imma noch jut! Aber die Pd.s! Nee, also da is mir fast der Kaffee hochjekomm, Mensch! So kleene Jungs – und so olle Böcke! Det hat die Jungs doch weh jetan. Wie die jeweent ham un jejammat! Und det, vastehste, jerade det sollte man sehn uff die Fülme.«

»Die armen Kleenen. Die müssen doch tagelang hintaher noch Schmerzen jehabt ham.«

»Det wäre ja noch det wenigste jewesen. Wat mir so jequält hat, det war det ewije Schuldjefühl! Die Jungs, Mann, die Jungs, die luan doch ’n pischologischn Knacks weg for’t janze Leben!«

»Wat for ’n Knacks?«

»Pisch … Mensch, Bruno, bist du unjebildet! ’n seelischen

»Na, wenn dir det so jequält hat, warum haste denn nich uffjehört?«

»Weil ick doch det Jeld brauchte! Keena weeß bis heute wat von, nich mal Wanda. Du bist der erste, den ick det azähle. Een Fülm nach ’n andan ham wa jedreht. Den Betrieb kannste dir nich vorstelln! Die Jungs ham ’n bißken mehr Jeld jekricht. Und alle hamse die Schnauze jehalten – aus Angst. Ick denke, wir ham so an die fuffzich Dinga runtajekurbelt. ›Maiglöckchen-Ballett‹ hieß die Serje. Nich dot zu kriejen. Aba zuletzt hab ich et nich mehr ausjehalten. Da hat mir der Ekel übamannt, und ick bin abjehaun.«

»Wann war denn det?«

»Nach sechs Monate. Da hatte ick det Jeld for ’ne eijene Wohnung zusammen.«

»Und so lange haste ’n untadrücken können, dein’ Ekel?«

»Nu zieh mir man noch durch de Zähne! Gloobste, det war leicht? Aber wat sollte ick denn machen, bei den vafluchten Sozialen Wohnungsbau? Wanda und ick, wir wollten doch heiraten. Hätten wa uff die Brieda von Sozialen Wohnungsbau jewartet, wärn wa schon dreimal jeschieden jewesen, eh die uns ooch bloß ’n Bescheid jejeben hätten. Is übrijens bis heute keena jekommen.«

Als er das Geld beisammen hatte, der Oskar Knargenstein, da stieg er aus diesem Saftladen aus, kaufte die Wohnung und außerdem eine Schmalfilmkamera, einen Scheinwerfer und anderes technisches Zubehör. Er wollte weiter filmen. Aber nur mit Erwachsenen! Und auf eigene Rechnung.

»So hab ick also die Produkßjon hier uffjezogen. Is jerade anjeloofen. Macht sich prima. Meine Fülme jehn ooch! Und die sind anständig!« Knarje stöhnt. »Und nu soll det allet im Eima sein.«

»Wieso?« fragt Bruno, der schon eine fröhliche Ahnung hat.

»Wir ham imma jedacht, wir fangen det vadammt schlau an bei det Maiglöckchen-Ballett, weeßte. Denkste!« Knarje lacht hohl. »Jetzt, da an’t Telefon, dein Kerl da, der hat mir aklärt, det seine Leute uns die janze Zeit beobachtet ham und heimlich fotojrafiert – besonders mir, wenn ick zufällig mal mit die Kleenen in die Villa rinjing oder rausjekommen bin. Und die Namen von meine Ufftragjeba wissense ooch. Und sojar fümf von unse Fülme hamse drüm in Osten – die schlimmsten

»Woher weeßte denn, det et die schlimmsten sind?«

»Er hat mir die Titel jesacht.« Knarje knirscht wieder mit den Zähnen. »Sojar die Namen von die Kinder hamse. Wenn ick nich mitmache, sagt dein Hauptreferent, denn schicken se an de Sitte hier die Fülme und die Namenlisten und allet. Und zwar jleich. Uff de Stelle.«

»Wie bei mir mit die BVG«, murmelt Bruno. Er ist selig über das Unglück seines Freundes. Denn nun ist Knarje an ihn gekettet.

»Und wenn se det machen«, fährt Knarje fort, »denn jibt det den jrößte Skandal seit ’n Krieg! Da war die Nitribitt nischt dajejen! Ick jeh in ’n Bau – wejen Unzucht mit Minderjährje oder wie det heeßt …«

»Is nich so wichtig, wie det heeßt. Fümf, zehn Jährchen krichste, det alleene is wichtig!« meint Bruno gemütvoll.

»Ja«, sagt Knarje tragisch, »det alleene is wichtich. Se ham mir also jenauso in de Zange, die Hunde.«

»Jenauso.«

»Und ick muß mitmachen.«

»Und du mußt mitmachen«, sagt Bruno. »Und warum? Weil det deine einzije Schangse is, det nischt passiert, wenn die Fülme rübakomm. Weil, wenn du mir hilfst, keene Anklage erhoben wird. Det hatta mir in die Hand vasprochen, der Prangel! Keene Auslieferung for mir, und keene Maßnahme jejen dir oder jejen Pokay – wenn ihr nich jerade een abjemurkst habt. Schlaua Hund, der Prangel! Hat sich natürlich jleich jesacht, det ihr ooch wat ausjefressen ham müßt. Sonst wär der Bräsig doch nich so sicha jewesen.«

»Die ham eben den bessern Apparat drüm«, sagt Knarje. In diesem Punkt stimmt er völlig mit Mr. A. C. Snowden überein. »Apropo Pokay.«

»Wat heeßt apropo?«

»Weeßte nich mal, wat apropo heeßt?«

»Idiot! Klar weeß ick. Pokay meine ick!«

»Reje dir nich uff, Mensch. Wejen den Pokay, da hatta mir noch wat jesagt, dein Hauptreferent. Nämlich, det der bloß so wat wie’n Ersatzmann jewesen wäre. Wenn ick nämlich jetzt nich vasprochen hätte, mitzumachen …«

»Du hast et also vasprochen?«

»Klar! Aber wenn ick et nich vasprochen hätte, denn hätte der mir jleich hochjehn lassen, dein feina Herr Hauptreferent, und hätte dir zu’n Pokay jeschickt.«

»Wat wissense denn von den

»Det hatta mir nich verraten. Aber et muß wat janz Dollet sein! Pokay, hat der Hauptreferent jesacht, der hätt mitmachen müssen

»Wat kann Pokay bloß …«, beginnt Bruno zu grübeln, wieder einmal aus dem Gleis gebracht.

»Det is doch jetzt scheißejal! Ick will et jar nich wissen. Und du sollst Pokayn in Frieden lassen, läßt der Hauptreferent dir sagen, sollst ’n überhaupt nich suchen. Wir zwee beede jenüjen for ’n Transport.« Knarje steht abrupt auf.

»Wat haste denn?«

»Mir is schlecht. Ick muß wat trinken, sonst kotz ick noch! Sone vadammte Schweinerei!«

Tja, daß Kommissar Wilhelm Bräsig die Aktion schlecht vorbereitet hat, kann nun wirklich kein Mensch behaupten. Daß er sie geradezu genial vorbereitet hat, erweist sich, als die beiden Freunde den ›Schwarzen Schimmel‹ betreten.

Da sieht Bruno in dem beinahe leeren Lokal, unter dem Gedicht von der Nase, die glüht wie ein Karfunkel, unter diesem Gedicht, dort, wo er so oft mit Nelly, seiner großen Liebe, gesessen hat, seine große Liebe, die Nelly, sitzen.

Er stolpert.

»Du … du …«, stammelt er.

Im ersten Moment dachte er, verrückt geworden zu sein, vor Hitze und Aufregung. Dann dachte er, die Mitzi Szapek säße da. Aber nun sieht er: Das ist nicht die Mitzi. Das ist die Nelly!

Die Nelly! Die Nelly!

1947, als Bruno sie kennenlernte, da war Nelly Pietsch zwanzig Jahre alt – so alt wie Mitzi nun. Deshalb war Bruno ja auch bei jener ersten Begegnung in der Gotlindestraße so verwirrt. 1964 ist seine Nelly siebenunddreißig Jahre alt. Aussehen tut sie wie dreißig! Dem Bruno werden die Knie weich.

Da sitzt seine Liebe: Schwarzes Haar, blaue Augen, immer noch die Ia-Klassefraufigur. Einen schwarzen Pullover aus Seide trägt sie, ganz enge, schwarze Hosen, goldene, durchbrochene Stöckelschuhe an den bloßen Füßen, deren Nägel golden bemalt sind. Eine feine, weiße Jacke aus irgendeinem Stoff, der wirkt wie Seidenpapier, hat sie über die Schultern geworfen. Und sie lächelt breit mit ihrem großen Mund und zeigt ihre wunderschönen weißen Zähne und streckt die Arme aus und sagt: »Hallo!«

Da schlägt Bruno fast wirklich hin.

Er taumelt an den Tisch, läßt sich neben seine Nelly, seine Nelly, seine Nelly fallen und lacht und schluckt und stammelt: »Du … du … det du wieda da bist … Wie kommt denn det, wieso biste denn da?«

»Wanda hat mich angerufen und gesagt, du bist in Westberlin. Da habe ich mich sofort angezogen und bin hierhergekommen. Ich habe gehofft, du würdest auch bald kommen.« Nelly Pietsch spricht reines Deutsch. Hat sie immer gesprochen. Ach, dieses Lächeln! Ach, dieser Blick!

Bruno küßt ungeschickt ihre Hände.

»Nelly … meine Nelly …«

Vergessen wieder einmal sein ganzes Unglück, die ganze Gefahr, völlig vergessen die kleine Mitzi Szapek drüben im Osten.

»Nelly! Meechen! Ick meine: Wieso biste in Berlin? Du warst doch in Düsseldorf …«

»Ich habe es nicht mehr ausgehalten. Ich hatte Heimweh, Bruno. Heimweh nach Berlin. Und deshalb bin ich zurückgekommen.«

»Wann denn?«

»Vor zwei Jahren.«

»Da saß ick …«

»Ja, leider. Ich war sehr unglücklich, als ich es erfuhr.«

Der Bruno fühlt, wie seine Augen naß werden. Er packt Nelly und küßt sie wild, preßt sie an sich, der Kuß nimmt kein Ende.

Knarje, der zu dem Wirt an die Theke getreten ist, läßt ein lautes »Aaaahhhh!« vernehmen, kippt ein Glas danach und ruft: »Valier deine Zunge nich, Bruno!«

Bruno löst sich von Nelly. Er ist auf einmal schüchtern wie ein Schuljunge. Unsicher fragt er: »Willste mir vielleicht wieda ham?«

»Warum nicht?« fragt Nelly, seltsam unruhig.

»Ick … ick dachte man bloß … nach die janze Zeit … da mußte doch ’n andan jefunden ham, hier in Berlin – ’n Beschütza …«

Gleich darauf fährt er zusammen, denn ihr Gesicht verzerrt sich zu einer Fratze des Hasses, während sie zischt: »Beschützer? Ich habe keinen Beschützer! Da kannst du Gift darauf nehmen!«

»Nelly!«

Es ist, als kehrte sie aus einer anderen Welt zurück. Ihr Gesicht entspannt sich, sie lächelt, fast entschuldigend. »Armer Bruno, habe ich dich sehr erschreckt? Verzeih. Ich … ich kann nur dieses Wort nicht hören, weißt du.«

Da küßt Bruno sie noch einmal. Und das ist, was er denkt: So soll es also sein. Wir haben uns wiedergefunden. Jetzt dürfen wir uns nie mehr verlieren! Jetzt mache ich alles, was Prangel will. Knarje auch. Wir schaffen es. Jetzt muß ich meine Kneipe haben! Für Nelly und mich. Jetzt wird mein Traum doch noch Wirklichkeit. Bräsig und der ›Hauptreferent‹ sollen hochgehen! Alles werde ich tun, damit sie hochgehen! Damit ich endlich in Frieden leben kann – mit meiner großen, einzigen Liebe!

Na ja …

Man kann sich natürlich auf den Standpunkt stellen, daß in dieser Geschichte sehr viele Menschen mit dem Begriff ›Liebe‹ Schindluder treiben und ihn nur als Alibi benützen. Der Kriminalrat Prangel zum Beispiel. Der Kommissar Bräsig zum Beispiel. Mit ihren Lieben entschuldigen diese Männer alles, was sie Unmenschliches tun. Darf man Unmenschliches tun, wenn man liebt? Entschuldigt die Liebe alles? Jeden Verrat? Jede Gemeinheit?

Liebe ist das Schönste und Edelste auf der Welt. Und das Größte. Steht in der Bibel.

Aber die ist schon so alt.

Bruno Knolle hat jetzt ein Ziel, ein leuchtendes, wunderbares Ziel. Auf einmal kommt er sich nicht mehr getreten und geschunden vor. Auf einmal ist er ein König! Ein glücklicher König!

Und wer hat das getan, daß er sich so vorkommt?

Das hat mit seinem Wissen der Kommissar Bräsig getan.

O schönes Leben, o schöne Welt!