Folgt ein Bericht über das Leben der Nelly Pietsch.
Sie stammt aus einer wohlhabenden, bürgerlichen Familie. Der Vater besaß eine gutgehende Praxis als Dentist. Sie ging so lange gut, bis die Russen 1945 Berlin erreichten und der Kampf um die Reichshauptstadt begann. Da fiel eine Bombe auf das Haus, in dein sich sowohl die Praxis wie die Wohnung von Nellys Eltern befanden.
Die Bombe zerstörte das Haus und drückte auch den Keller ein, in den sich die Bewohner geflüchtet hatten. Es gab vier überlebende. Unter ihnen war Nelly. Ihre Eltern waren nicht darunter.
Die Rote Armee eroberte und besetzte ganz Berlin. Sehr viele Frauen machten damals böse Erfahrungen, sehr viel weniger Frauen machten gute. Zu diesen gehörte Nelly. Ein sowjetischer Offizier verliebte sich in sie. Er verschaffte ihr eine Wohnung, Essen, Heizmaterial, Kleider. Er sorgte dafür, daß sie von Soldaten beschützt wurde – vor anderen Soldaten. Denn er war sehr verliebt und eifersüchtig.
Nelly wußte nicht, ob sie ihn auch liebte. Mit achtzehn Jahren weiß man das nie, wenn man Verstand besitzt und nachdenklich ist. Aber Nelly hatte den sowjetischen Offizier sehr gern, denn er war sehr gut zu ihr, und sie weinte sehr, als er 1946 nach Moskau zurückgerufen wurde.
Sein Freund kümmerte sich anschließend um Nelly. Der war genauso nett. Vielleicht noch netter. Und wurde gleichfalls nach Moskau zurückgerufen, nach einem Weilchen.
Dem zweiten sowjetischen Offizier folgte ein amerikanischer Offizier, diesem ein englischer, diesem ein französischer, ein zweiter französischer, wieder ein amerikanischer. Zuletzt hatte Nelly mehrere alliierte Herren gleichzeitig an der Hand. Es war eine Sache der Gewöhnung und vor allem der genauen Zeiteinteilung. Man mußte darauf achten, daß die Herren pünktlich kamen. Und gingen! Nelly achtete darauf. Sie lebte glänzend in dieser Zeit. Sie hatte zu essen, zu trinken, zu rauchen – all das und anderes, was viele Berlinerinnen in jener Zeit nicht oder nicht mehr hatten.
Dann aber geriet – durch Nellys Schuld – der Zeitplan, den sie angelegt hatte, durcheinander. Ein französischer Oberleutnant überraschte Nelly und einen britischen Oberleutnant dort, wo er sich selbst am liebsten aufzuhalten pflegte – in ihrem Bett.
Nun war es mit dem System ›Mehrere gleichzeitig‹ vorbei, denn die Herren Offiziere zogen sich allesamt beleidigt zurück.
Waren indessen lauter Gentlemen, die Herren Offiziere, und deshalb ließen sie Nelly, was sie ihr geschenkt hatten. Mit dem feinen Daheimsitzen und Auf-die-Besucher-Warten war es nun allerdings Essig.
Nelly mußte auf die Straße, um sich neue Kunden zu holen. Die konnte sie dann in jene Wohnung bringen, die ihr der erste sowjetische Offizier verschafft hatte. Eine Wohnung in Berlin war 1947 eine große Sache! Und Nelly war von atemberaubender Schönheit und, wie Bruno es dem Kommissar Bräsig geschildert hatte: »Die tollste Biene uff den neuen Strich! Die konnte valangen, wat se wollte! Wie wahnsinnig warn die Kerle nach die! R-Mark-Zeit! Jeld hat Nelly natürlich nie jenomm! Bloß Fressen, Zigaretten, Schnaps! Jelebt ham wa wie Jott in Frankreich …«
Wir haben anläßlich der Schilderung dieses Gespräches, das Bruno Knolle mit dem Kommissar Bräsig führte, berichtet, daß Bruno ›seine‹ Nelly nach Rückkehr aus sowjetischer Gefangenschaft kennenlernte und sich Hals über Kopf in sie verliebte. Nelly liebte Bruno auch, das glaubte sie nun schon mit einiger Sicherheit sagen zu können. (Sie war inzwischen zwanzig Jahre alt geworden, und da glaubt man immer, so etwas schon mit einiger Sicherheit sagen zu können.) Die beiden schmissen sich zusammen, er wurde ihr Beschützer. Groß war das Glück, lange währte das Glück. Lange über die Währungsreform hinaus. Nicht ewig. Denn es drangen allzu phantastische Meldungen über das Wirtschaftswunder in Westdeutschland an Nellys hübsches Ohr. 1959 verließ sie ihr immer noch recht tristes Berlin und ging nach Düsseldorf.
Bruno litt damals sehr unter ihrem plötzlichen Verschwinden. So sehr, daß er bald danach, nervös, fahrig und unglücklich, den Einbruch in die Filiale der Berliner Volksbank in Ostberlin recht ungeschickt beging, gefaßt und zu fünf Jahren Zuchthaus verdonnert wurde.
Nelly litt auch – unter ihrem Betragen. Wenn sie daran dachte. Sie dachte darum möglichst selten daran. Es gibt, man weiß es, hier eben die verschiedensten menschlichen Beziehungen. Wir nennen sie, Gott sei es geklagt, leichtfertig allesamt Liebe. Vielleicht fehlt das Stichwort ›Liebe‹ darum ganz zu Recht in ›Meyers Neuem Lexikon‹, dem ersten großen Nachschlagewerk der Deutschen Demokratischen Republik.
Im bundesrepublikanischen ›Neuen Brockhaus‹ von 1959 finden wir in Band III auf Seite 339 (zweite Spalte, unten) diese Definition: »Liebe (german. Stw.), die, –, I) opferbereite Gefühlsbindung, Zuneigung im engeren Sinne; geschlechtsgebundene Gefühlsbeziehung; die L. des Vaters: die der Vater zum Kinde hat; die L. zum Vater, für den Vater: die L. des Kindes. 2) Erbarmen, Mildtätigkeit: Werke der Liebe; etwas mit dem Mantel der L. zudecken: etwas Schimpfliches vergessen sein lassen. 3) platonische L. (nach Platos ›Gastmahl‹; seelisch-geistige Zuneigung, nicht vom Geschlechtstrieb beherrschte L. 4) U Freundlichkeit: Tun Sie mir die L. (aber: es mir zuliebe) und kommen Sie mit mir. 5) U geliebter Mensch: meine erste L.; eine alte L. von mir …«
Und so weiter und so weiter. Das mit diesen U’s geht noch fast über die halbe dritte Spalte.
Wenn man sich hier durchgearbeitet hat, dann weiß man etwa so genau, was Liebe ist, wie vor der Lektüre. ›Liebe‹ scheint etwas zu sein wie das englische Wort ›get‹. Man kann dieses Wort in fast allen Zusammenhängen anwenden. Nutzbringend. Vereinfachend. Vielfachen Ereignissen und Zuständen Ausdruck verleihend.
Wer den ›Brockhaus‹ gelesen hat, muß den Eindruck gewinnen, daß ›Liebe‹, was immer sie ist, keinesfalls etwas Eindeutiges, Klares sein kann.
Nelly Pietsch hatte den Brockhaus gelesen. Nelly gewann jenen Eindruck. Man konnte mit dem Wort ›Liebe‹ wirklich so viel anfangen wie mit dem Wort ›get‹. Nelly fing eine Menge damit an!
Nur zwei Monate trabte sie in Düsseldorf auf dem Strich und suchte sich ihre Freier. Dann hatte sie schon einen festen Herrn. Der war Konservenfabrikant, verheiratet, Vater von vier Kindern, fett, millionenschwer und konnte sich nicht scheiden lassen, obwohl er das gern getan hätte. Aber wenn er es tat, mußte er die Hälfte seines Reichtums seiner Frau geben. Und das wollte er natürlich nicht. Da kam es ihn viel billiger, Nelly ein piekfeines Appartement zu kaufen und mit kostbaren Teppichen und kostbaren Möbeln einzurichten.
Der Dicke (Heinz Lorber hieß er) war auch ganz verrückt nach Nelly – wie die Kerle in Berlin. Er hatte nur viel mehr Geld als jene, und die R-Mark-Zeit war längst vorbei. Gute D-Mark konnte Nelly nehmen. Sie nahm. Er gab reichlich. Nelly eröffnete ein Bankkonto. Nelly bekam Schmuck. Nelly bekam – 1960, am 23. Dezember (am 24. mußte Herr Lorber natürlich im Kreise der Familie sein) – einen Nerzmantel. Tiefdunkelbraun! Das Feinste vom Feinen!
Man kann sagen: Sie war gesettled.
Heinz Lorber hatte wenig Zeit. Er kam nur zweimal in der Woche – für höchstens zwei Stunden. Zu viel zu tun …
Da lief Nelly ein Hagerer über den Weg. Der war auch millionenschwer (Stahlindustrie), gleichfalls verheiratet, gleichfalls Vater, gleichfalls großzügig, René Öxle hieß er. Und wohnte in Duisburg. Kam immer nur geschäftlich nach Düsseldorf. Na, wenn sich das nicht einrichten ließ!
In Erinnerung an den alten Nachkriegs-Fahrplan stellte Nelly einen neuen auf. Mit größerer Vorsicht. Mit allen nur denkbaren Sicherungen. Lorber und Öxle begegneten einander nie, ahnten nichts voneinander. Nelly wurde immer feiner! Immer wohlhabender! Herr Öxle war noch großzügiger als Lorber, er machte noch mehr Geschenke. (Kam ein zweiter Nerzmantel, eine Nerzjacke, eine Nerzstola.) Herr Öxle hatte ein paar kleine Wünsche, wenn er mit einer Frau zusammen war. Bisher hatte sich noch keine Frau bereit gezeigt, diese kleinen Wünsche zu erfüllen – seine Angetraute schon gar nicht.
Nelly zeigte sich bereit. Das war eben auch Liebe. Mußte Liebe sein! Sonst hätte der magere Öxle doch nicht, wenn sie jene Wünsche erfüllte, stets selig gestöhnt: »Ich liebe dich … ich liebe dich unendlich … oh, wie ich dich liebe …«
To get …
Pelze. Schmuck. Kleider. Geld. Für ein bißchen Mühe und für so viele freie Zeit!
Nelly konnte zufrieden sein.
Natürlich war sie es nicht. Natürlich wollte sie nun einen Mann haben, bei dem sie selig stöhnen konnte: »Ich liebe dich … ich liebe dich unendlich … oh, wie ich dich liebe …«
Natürlich fand sich dieser Mann.
Dieser Mann findet sich in solchen Geschichten immer.
In Nellys Geschichte fand er sich an der Theke einer Bar, die sie (allein) besuchte. Er sah aus wie ein griechischer Gott. Er war vielleicht drei Jahre älter als Nelly. Er starrte sie an gleich einer Himmelserscheinung. Ihr wurde kalt und heiß. Sie starrte zurück. Und hatte das Gefühl, sie läge schon mit diesem Mann im Bett.
Zwei Stunden später lag sie mit ihm daselbst.
Und stöhnte, was zu stöhnen sie sich gewünscht hatte.
Harald Kamp hieß der Herr.