17

Ja, darf ich dem Bruno vertrauen? überlegt Nelly Pietsch nun, am Mittag des 15. August 1964. Nachdem sie Bruno im ›Schwarzen Schimmel‹ getroffen hatte, ist sie mit ihm in ihre Wohnung gegangen, und da sitzen nun beide inmitten der Möbel und Teppiche, die der dicke Lorber aus Düsseldorf der Nelly schenkte.

Eine vornehme Wohnung ist das! Richtig verlegen war Bruno zuerst, als er die ganze Herrlichkeit sah. Doch als er dann merkte, wie traurig, wie unendlich traurig seine Nelly geworden war (ach, und wie hatte sie früher immer gelacht!), da wurde er sehr nachdenklich. Aber weil er Nelly liebte, stellte er keine Fragen. Nur eine einzige: »Hast schwere Zeiten hinta dir, Nelliken?«

Darauf hatte seine große Liebe stumm genickt.

Und nun war Bruno sogleich hektisch gesprächig geworden: »Ick ooch, Nelliken, ick doch ooch. Mir mußte nischt azähln. Ick will jarnischt wissen. Männa, wa? Kann ick mir denken. Schufte, die meisten. Aba nich alle! Ick, Nelliken, ick bin keen Schuft! Ick habe dir 1947 jeliebt, und ick liebe dir heute – jenauso!« Daß es drüben im Osten eine Mitzi Szapek gibt, hat der Bruno nun völlig vergessen. Zu seiner Entschuldigung: Er hat diese Mitzi Szapek auch nie geliebt. Nur gesagt hat er es ihr. Weil sie es hören wollte. Was hätte er denn tun sollen? Er brauchte Mitzi doch …

»Ach, Bruno«, seufzt Nelly. »Liebe! Hör auf!«

»Warum?«

»Weil es das überhaupt nicht gibt, Liebe!« ruft Nelly erregt.

»Nich jibt? Na, hör mal …« Bruno bleibt vor Staunen der Mund offenstehen. »Hast du mir denn nich jeliebt damals, 1947?«

»Gern, sehr gern hatte ich dich!«

»Jern? Jeliebt haste mir! Und nich bloß 47! Ville Jahre lang! Ick bin dir nich böse, det du denn wegjemacht bist 59! Hatte dir nischt zu bieten, Jeschäft jing mies – und drüben im Westen rollte die D-Mark! Hand uffs Herz, ick kann dir jut vastehn! Wenn ick du jewesen wäre, ick hätte jenauso jehandelt!«

»Meinst du das wirklich und wahrhaftig, Bruno?« fragt Nelly, die immer unsicherer wird.

»Wahrhaftich und wirklich!« lügt Bruno, und er weiß, daß er lügt, aber er denkt: Warum soll ich nicht lügen? Nelly ist wieder da! Ich kann sie haben! Ich will sie haben! Und ich werde sie haben, wenn sie nur Vertrauen zu mir bekommt. Damit sie Vertrauen zu mir bekommt, muß ich eben lügen.

»Siehste«, fährt Bruno werbend fort, »et is doch wahr, det olle Sprichwort, det französische.«

»Welches?« fragt Nelly, denn sie kennt viele französische Sprichwörter.

»Ick kann et bloß uff deutsch sagen.« Bruno spricht feierlich: »›Man kehrt immer zurück zu seiner ersten Liebe.‹« Und weil ihm so feierlich zumute ist, bleibt er noch eine Weile beim Hochdeutschen. »Ich habe dich wiedergefunden. Das ist ein Wunder, ein wirkliches Wunder für mich! Alle die Jahre habe ich an dich gedacht, nur an dich …«

Kann man ihm trauen? Darf man ihm trauen?

»Gerade jetzt stehe ich vor einem ganz großen Coup!«

»Nicht doch, nicht doch schon wieder …«

»Nein, Nelly, nein. Etwas Legales! Wenn dieses Geschäft gelungen ist, kann ich dir ein schönes Leben bieten.«

»Und wenn das Geschäft nicht gelingt?«

»Das gelingt auf jeden Fall! Und ganz schnell! Du … du weißt doch: Ich habe immer von einer Kneipe geträumt, nicht?«

»Ja. Und?«

»Na, also diese Kneipe, die kann ich mir kaufen.«

»Wann?«

»In drei Tagen, einer Woche, zwei Wochen. Höchstens dauert es noch zwei Wochen, dann habe ich sie.« Bruno blickt Nelly selig an. »Wie du aussiehst! Du wirst nie alt werden, nie!«

»Bruno!«

»Das ist die reine Wahrheit. Ich schwöre es! Die Kneipe soll ich nicht kriegen, wenn ich nicht die Wahrheit sage!«

Hm. Verknallt war er in mich, das stimmt. Und ist es noch immer. Aber muß ich da nicht besonders achtgeben? Wenn er mich haben will, flunkert er mir vielleicht etwas vor, um Eindruck zu schinden? Noch eine Enttäuschung wie die mit dem Kamp in Düsseldorf überlebe ich nicht.

»Glaubst du mir?«

Auf alle Fälle kann man ja sagen.

»Ja, Bruno.«

Sein Gesicht leuchtet auf.

»Denk doch: Eine Kneipe! Eine ganz moderne! Mit allen Schikanen! Wenn du willst, kannst du mir helfen im Lokal. Aber du mußt nicht. Du kannst auch zu Hause bleiben.« So lange hat der Bruno in seinem Leben noch nicht ohne Unterbrechung Hochdeutsch gesprochen. »Ich weiß, was ich dir da biete, ist nicht das Leben einer Prinzessin! Bestimmt hast du in Düsseldorf Männer gekannt, die viel reicher waren, als ich je sein werde. Und sie haben dir viel mehr bieten können. Aber wie lange? Und wie hat es geendet?«

Das ist richtig. Er sieht so rührend aus. Mein Gott, der alte Bruno. Was heißt, der alte Bruno? Ich bin nun auch schon die alte Nelly. Wie lange kann ich mich noch über Wasser halten, wenn ich nicht bald einen Hafen finde? Finde ich vielleicht wirklich einen bei Bruno? Wenn ich nur nicht so mißtrauisch wäre, so ängstlich, so enttäuscht …

»Glücklich werden wir sein, Nelly!«

(Daß sich all das genauso abspielen würde, hat Kommissar Bräsig sich ausgerechnet. Und entsprechend vorbereitet: Nelly wird ihren Bruno in den Osten begleiten. Es wird ihr nach all den Vorbereitungen gar nichts anderes mehr übrigbleiben, als Bruno zu begleiten. Auch daß Bruno sich aus der Mitzi nicht das geringste macht, weiß Bräsig. Er wird dafür sorgen, daß Bruno, wenn er mit seiner Nelly kommt, die Mitzi nicht mehr wiedersehen muß und daß er das noch im Westen erfährt. Dann kommen die beiden bestimmt! In diesem einzigen Punkt irrt der Kommissar allerdings. Weil er sich nicht vorzustellen vermag, daß Bruno seinen Auftrag verraten und gegen den Osten arbeiten könnte – um dafür von den Amerikanern eine Kneipe versprochen zu bekommen. Wenn Bräsig das wüßte, würde es eine ungeheure Rolle für ihn spielen. Er weiß es nur nicht.)

»Mein guter Bruno«, sagt Nelly.

»Was heißt, mein guter Bruno? Ich bin kein Baby mehr!«

»Nein, das bist du nicht.« Nelly streicht ihm über die Wange. »Wie dein Gesicht glüht! Die Kneipe, nicht wahr?«

»Die Kneipe und du! Hab doch Vertrauen zu mir! Bitte! Sag ein Wort, und wir heiraten sofort! Und wenn du es dir zutraust – natürlich müssen wir einen Arzt vorher fragen –, dann können wir auch noch ein Kind haben. Und glücklich sein. Also nicht so großkotzig, alles, wie sie immer sagen, ein bißchen kleinbürgerlich, ich weiß, aber …«

Da verändert sich Nellys Gesicht und wird wieder weich und gelöst, und sie antwortet: »Sag bitte nichts gegen ein kleinbürgerliches Glück. Sag überhaupt nichts gegen ein kleines Glück, Bruno. Ich habe viel erlebt. Ich weiß: Wo es viel Glück gibt, gibt es auch viel Leid. Wo es nur ein wenig Glück gibt, kann es auch nur ein wenig Leid geben. Wenn man sehr viel hat, kann man sehr viel verlieren. Wenn man nur wenig hat, kann man nur wenig verlieren. Wenn ich überhaupt manchmal noch an Glück denke, dann denke ich immer nur an ein kleines, nie an ein großes.«

»Das heißt …«

Ich versuche es! denkt Nelly. Wenn Bruno auch schlecht ist, dann gibt es keinen einzigen guten Mann auf der ganzen Welt!

»Ja, das heißt es, Bruno.«

»Du … wir … wir sind wieder zusammen?«

»Ja.«

»Ach, Nelly, Nelliken …« Bruno rinnt der Schweiß in den Hemdkragen, er zerrt an ihm, und dabei wird das kleine Kettchen sichtbar, das die Mitzi Szapek ihm beim Abschied gegeben hat.

»Was ist das für ein Kettchen?« erkundigt sich Nelly. »Ich wollte schon vorhin fragen, im Bett. Woher hast du das?«

Brunos Ohren werden rot.

»Dieses Ding da?« Er zerrt es ganz hervor, auch das Amulett. »Das habe ich im Zuchthaus bekommen, weißt du. Von einem Tschechen. Er … nein«, sagt Bruno. »Nein! Kein Tscheche. Nicht im Zuchthaus. Ein Mädchen hat es mir geschenkt.«

»Danke«, sagt Nelly.

»Wofür?«

»Daß du mich nicht belügst. Es ist so leicht, zu lügen. Und so gemein. Der andere kann sich nicht wehren.«

»Dich werde ich nie belügen. Dich habe ich doch lieb.«

»Und dieses Mädchen hattest du nicht lieb?«

»Nein.«

»Was steht auf dem Amulett?«

»Möge die heilige Beatrix dich beschützen.«

»Wo ist das Mädchen?«

»Drüben im Osten.«

»Machst du dir gar nichts mehr aus ihr?«

»Nelly! Wie könnte ich mir irgendwas aus irgendeinem Mädchen machen, jetzt, wo du wieder da bist?«

»Warum trägst du dann das Amulett noch?«

»Ich … ich weiß nicht. Bloß so. Ich hab ja nicht geahnt, daß ich dich heute treffe.«

»Also du machst dir auch nichts aus dem Kettchen?«

»Überhaupt nichts.«

»Gib es mir.«

»Dir? Wozu?«

»Damit ich sehe, daß du dir wirklich nichts aus dem Mädchen machst.«

»Aber sofort«, sagt Bruno, öffnet den Verschluß und reicht Nelly das Kettchen. »Und was machst du jetzt damit? Wegwerfen?«

»Nein. Aufheben.«

»Wozu?«

»Aus Aberglauben vielleicht. Oder – um es dir eines Tages zeigen zu können.«

»Wann?«

»Nun, wenn du mich über hast, zum Beispiel.«

»Dann werde ich es nie wieder sehen«, sagt Bruno.

Und so landete das alte Geschenk aus dem alten Prag bei Nelly Pietsch in Westberlin.