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Sonnabend, 15. August 1964, 14 Uhr 50, Berlin-West.

Von Nelly Pietschs Wohnung aus ruft Bruno Knolle den Kriminalrat Prangel an. Nelly mußte unbedingt zum Friseur. Sagte sie. Bruno nahm die Erklärung als Zeichen seines Triumphes. Denn Nellys Haar war ganz in Ordnung. Wenn sie behauptete, es liege grauenvoll und sie könne so nicht weiter herumlaufen, dann beweist das: Sie will noch schöner sein für ihn!

Jeder Mensch hat ein Recht darauf, einmal im Leben richtig glücklich zu sein. Jetzt sind Bruno und Nelly an der Reihe. Auf keinen nimmt Bruno nun noch Rücksicht. Nur an Nelly und sich denkt er. Frech und gerissen muß er fortan sein – dann schafft er es!

Das sind seine Gedankengänge, während er Prangels Nummer wählt. Und dies ist dann das Gespräch:

»Also, mit den Knarje bin ick klar, Herr Kriminalrat. Der macht mit.«

»Und Pokay?«

»Brauchen wa nich.«

»Wieso auf einmal nicht?«

»Der Hauptreferent hat jesacht, Pokay is bloß ’n Ersatzmann für Knarje jewesen, wenn der nich hätte können oda wolln. Ick soll mir überhaupt nicht kümman um den.«

»Wo bist du?«

»Bei meine Nelly. Die hab ick zufällich wiederjefunden! In de Meinekestraße hatse ’ne Wohnung. Jetzt isse bein Frisör.« Fernmeldetechniker suchen seit Gesprächsbeginn in fieberhafter Eile festzustellen, von wo aus Bruno wirklich spricht. Prangel ist vorsichtig. Von Bruno läßt er sich nicht übers Ohr hauen! Daß Knarje nun so bereitwillig mitspielt; daß der ›Hauptreferent‹ angeblich Auftrag gegeben hat, den Pokay überhaupt nicht mehr zu suchen; daß Bruno ›zufällige‹ seine Nelly getroffen hat – das alles ist verdächtig.

Prangel hat Bruno gern. Aber er darf sich keine Schlappe leisten in diesem Fall. Mr. Snowden könnte sonst noch glauben, er hätte die Aktion behindert, absichtlich gestört. Mr. Snowden sitzt übrigens bei diesem Gespräch neben Prangel in dessen Büro im Präsidium und hört mit. Beide haben Jacken und Krawatten abgelegt. Beide schwitzen, obwohl die Sonnenblenden an den Fenstern herabgelassen sind und ein Ventilator surrt. Der Ventilator steht auf dem Schreibtisch, über einem großen Stadtplan von Berlin. Neben ihm steht eine Schachtel, darin liegen Stecknadeln mit Köpfen in verschiedenen Farben.

»Hör mal, Bruno, ich finde das etwas eigenartig, daß dein Freund Knarje so ohne weiteres mitmacht.« Snowden nickt zu diesen Worten Prangels. »Du hast ja Butter auf dem Kopf wegen der BVG. Aber was hat Knarje ausgefressen?«

Drei Minuten. Prangel läßt sich Zeit. Die Techniker müssen herausfinden, von welchem Anschluß Bruno spricht.

»Ausjefressen? Der Knarje?« Brunos Stimme wird jetzt aggressiv. Er weiß aus alter Ganoven-Erfahrung, daß er zur Offensive übergehen muß. »Der macht det aus Solidarität.«

»Solidarität – ha!«

»Na wat denn? Wenn der wat ausjefressen hätte hier in Westen, denn müßten Sie et doch eijentlich am besten wissen.« Ein Schuß ins Blaue: »Sie oder der Ami, der bei Ihn’ sitzt.«

Mr. Snowden lächelt amüsiert.

»Bei mir sitzt kein Ami. Werde gefälligst nicht frech, Bruno, ja?«

Also sitzt natürlich ein Ami bei ihm, denkt Bruno. Klar. Prangel redet ja auch anders als sonst. So forsch.

»Ick fasse also zusamm …«

»Bruno! Ich bitte mir einen anderen Ton aus, ja?«

»Ick meine et doch nich böse, Herr Kriminalrat.« Aasgeier. Hyänen. Alle miteinander. Hier! Drüben! Aber jetzt habe ich meine Nelly wieder! Jetzt könnt ihr mich alle! »Et muß bloß Ordnung herrschen zwischen uns, nich? Sie werden ja nu allet tun, damit wa die Brieda fassn. Aba die Hauptlast dabei liecht uff Knarje und mir. Wir riskieren det meiste. Darum fasse ick zusamm. Damit et keene Mißverständnisse jibt – nachher. Natürlich sitzt keen Ami bei Ihn’ und hört mit – also rufense die Herrn bitte jleich nachher an und erinnernse noch mal.«

»Woran?«

»Sie erinnern die Herrn dran, wat ausjemacht is. Wat vasprochen is. Von die! Und von Ihn! Ick krieje meine Kneipe.«

»Das habe ich dir doch schon ixmal gesagt.«

»Denn sagen Sie ’t jetzt noch mal.«

»Du bekommst deine Kneipe.«

»Die BVG-Sache wird niederjeschlagen.«

»Die BVG-Sache wird niedergeschlagen«, wiederholt Prangel hilflos. Er sieht, daß Snowden immer noch lächelt, und das macht ihn wütend. Der hat leicht lächeln, der! Wer legt sich schon mit so einem an bei uns? Aber mit mir?

»Und sollte der Knarje doch wat ausjefressen ham, watse nich wissen, und det Materjal kommt rüba aus’n Osten, denn wird ooch Knarje nich ausjeliefert oder anjeklagt. Hamse mir vasprochen!«

Prangel holt Luft.

»Na, wat is? Hamset vielleicht nich vasprochen?«

»Doch.«

»Dann noch mal, bitte.«

»Du, Bruno, man kann es auch zu weit treiben, weißt du …«, beginnt Prangel, da schiebt ihm Snowden einen Zettel hin, auf den er eilig etwas gekritzelt hat.

Der Kriminalrat liest:

»Völlig normale Reaktion. Traf seine Nelly. Glaubt, er hat nun uns in der Hand. Hat er ja auch – in gewissem Sinn. Also regen Sie sich nicht auf. Bleiben Sie freundlich.«

Prangel sagt mühsam ins Telefon: »Auch Knarje wird weder ausgeliefert noch angeklagt, falls aus dem Osten Material gegen ihn kommen sollte.«

»Jut. Nu noch wat …«

»Noch was?«

»Sehnse, Herr Kriminalrat, zuerst wollte Knarje natürlich nich. Ooch noch nich, als ick ihm auseinandaklamüsert hatte, det er for’n Westen arbeet und det keene Entführung is und so! Ooch mit Ehrjefühl und Kampf für’t Abendland und jejen den Kommunismus bin ick uff ihn einjedrungen. Allet umsonst! Er hat Angst, welche von drüm lejen ihn um, wenn rauskommt, det er mir jeholfen hat. Und darum, soll ick Ihnen bestelln, valangt a ’ne Jefahrenzulage. Zehn Mille. Sonst springt er trotz alle Solidarität noch ab. Hatta jesacht.«

»Gefahrenzulage? Ist der verrückt geworden? Will der mich erpressen?«

»Er Sie? Wer hat denn mit det Erpressen anjefangen? Wer hat denn jedroht, det er mir den Osten übajibt, wenn ick mir nich umdrehn lasse? Sie doch!«

»Ich nicht! Das waren …«

»Ihre Ai-Freunde, ja ja, ja! Aber Sie machen doch allet, wat die sagen.«

Mr. Snowden lächelt immer breiter.

Prangel wird immer wütender.

»Ich habe jetzt genug von deinen Unverschämtheiten …«

»Tck, tck, tck«, macht Snowden leise und schüttelt mißbilligend den Kopf.

»Na denn hängense doch uff, wennse jenug ham!«

Snowden nickt, als wollte er sagen: Bitte, da haben Sie es.

Prangel preßt hervor: »Du weißt genau, was ich alles für dich riskiere, Bruno. Ist das nun der Dank, daß du frech wirst?«

Sofort gibt Bruno sich sanfter: »Nich doch, Herr Kriminalrat! Ick will ja nich frech werden. Aber sehense mal: Der Knarje, der darf doch nich’n Futz aus die Wohnung von den Kerl klaun, wenn er für Sie arbeet, nich? Wenn der nu nich mal die zehn Mille kricht, denn is det ’n einzijet valorenet Wochenende for ihn. Also: Fümfdausend soll wer von Ihre Leute ihm um fümfe in den ›Schwarzen Schimmel‹ bringen, fümfdausend will er jleich hintaher. Aber Knarje wartet bloß bis halb sechse uff die erste Rate. Wennse denn noch nich da is, macht er nich mit.«

Ihr Schakale, jetzt nehme ich euch mal hoch – auch für Knarje! Ich soll die Kneipe kriegen – und der Knarje nichts? Von dem ›Maiglöckchen-Ballett‹ wißt ihr nichts. Sonst hättet ihr ihn doch längst eingelocht. Oder würdet ihn jetzt damit erpressen, fein, wie ihr seid. Nein, nein, Knarje muß auch seinen Rebbach machen! »Wennse die Verantwortung nich tragen könn for sone Summe, denn fragense die Amis. Ick rufe in zehn Minuten noch mal an. Det Jeld muß her, sonst is nischt.«

A. C. Snowden nickt.

Prangel sagt erstickt: »Ich kann die Verantwortung übernehmen. Also gut. Die Hälfte bekommt Knarje um fünf Uhr im ›Schimmel‹, die andere gleich nachher. Reichlich üppig gibt er sich, dein Freund.«

»’n arma Mann will ooch mal ’n Schluck aus de Pulle ham, Herr Kriminalrat.«

Ein Beamter kommt ins Büro und legt einen Zettel auf den Schreibtisch:

 

Sie sprechen mit dem Anschluß Pietsch, Nelly, Meinekestraße 238.

 

Prangel nickt. Der Beamte verschwindet.

Also geschwindelt hat er nicht, der Bruno. Wenigstens in diesem Punkt nicht.

»Ich rufe Sie noch mal an, wenn Knarje die fümf Mille hat. Denn is wohl Funkstille. Vamutlich nehmen uns die Kerls von den Hauptreferenten jleich mit. Det Ihre Leute und die Amis bloß uff Draht sind!«

»Das werden wir sein, Bruno, keine Bange.«

»Aber nich so wie in die Nacht, als ich rüber jekomm bin!«

»Du weißt doch, worum es geht. Sei ganz ruhig und beruhige auch Knarje. Auf euch wird achtgegeben wie auf die britischen Kronjuwelen. Was immer passiert – keine Angst. Wir sind stets in der Nähe.«

»Na scheen, also denn bis nach fümfe, Herr Kriminalrat.«

»Was machst du denn bis fünf?«

»Ick will mit Nellyn noch ’n bißken Wiedersehn feian und … det is doch wohl meine Sache, nich?«

»Natürlich. Viel Spaß!«

»Herzlichen Dank, Herr Kriminalrat«, sagt Bruno und hängt ein.

Ach, fühlt er sich prächtig in diesem Moment!

Im gleichen Moment sagt Prangel wütend zu dem vergnügt lächelnden Snowden: »Das muß man sich bieten lassen!«

»Muß man, ja«, sagt Snowden.

Der Kriminalrat meditiert: »Bei Bruno ginge es ja noch.« (Deine Erlösung, Prangel, deine Erlösung!) »Die Kneipe haben wir ihm wirklich versprochen. Aber jetzt auch noch Zehntausend für Knargenstein!«

»Müssen wir auch noch ausspucken«, sagt Snowden und zieht die Schachtel mit den bunten Stecknadeln heran. »Nun wollen wir uns aber an die Arbeit machen, Mr. Prangel. Ich habe schon alles vorbereitet.«

»Ich auch.« Er konzentriert sich. »Das ist eine Liste der Funkstreifenwagen, die wie normale Autos aussehen. Dazu Beamte in Zivil. Das ist eine Liste von Einheiten des Überfallkommandos. Das ist eine Liste ausgesuchter Kriminalbeamter.«

»Nehmen wir also für die Funkstreifen Nadeln mit roten Köpfen, für die Überfallkommandos schwarze Köpfe, für die Kriminalbeamten gelbe. Hier sind meine Listen. Special-Agents in Funkwagen. Grüne Köpfe, ja? Und Special-Units der Army. Weiße Köpfe. Nun wollen wir einmal sehen …«

Die beiden Herren neigen sich über die große Karte von Berlin.