Sonnabend, 15. August 1964, 17 Uhr 55, Berlin-West.
Da stehen sie also nun im ›Schwarzen Schimmel‹ an einem der vielen hohen Tischchen und trinken ihr Bier, die Herren Knolle und Knargenstein.
Sie waren schon um 17 Uhr hier. Pünktlich erschien ein junger Mann, kam direkt auf Knarje zu und drückte ihm ein Kuvert in die Hand. Verschwand sofort wieder.
Knarje ging auf das Klo, riß den Umschlag auf und zählte die Banknoten, die darin lagen. Es waren genau fünftausend Mark. Aufgeregt kehrte Knarje zu Bruno zurück.
»Mensch, der Prangel, der hat doch tatsächlich die Penunse jeschickt!«
Seitdem er seine Nelly wiedergefunden hat, befindet Bruno sich in einem Zustand milder Euphorie. Kann ja überhaupt nichts mehr schiefgehen, denkt er, die Sache ist schon geritzt, die Kneipe mein, die Zukunft unser.
»Haste vielleicht jedacht, der Prangel will uns ufft Kreuz schmeißen – ausjerechnet jetzt?«
»Bruno, du bist ’n jroßa Mann!«
»Weeß ick.«
»Fümfdausend Emm! Und hintaher nochmal soville! Ach, du lieba Meinjott!« Knarje verdreht die Augen.
»Hau bloß nich so uff de Pauke, Mensch. Wat machste denn übahaupt mit det Jeld? Bei mir tragen würde ick et ja nu jrade nich. Und unse Meechens sind nich da.«
Die Mädchen Wanda und Nelly sind nicht da, weil die Herren Knargenstein und Knolle sie ersucht haben, erst nach 18 Uhr in den ›Schwarzen Schimmel‹ zu kommen. Die Damen fügten sich. Es ginge, erklärte Bruno der Nelly, um das große Geschäft – eben jenes –, und da war es besser, nicht zu viert gesehen zu werden.
Andere Huren sind nun, knapp vor sechs, natürlich schon im Lokal, auch Luden und Pupen. Knarje kennt alle. Aber so rechtes Vertrauen hat er zu keinem.
»Ick deponiere die Penunse bein Wirt. Nee! Bei seine Olle. Die is treu wie Jold. Und die hängt an mir. Ick habse nämlich mal …«
Knarje sagt, was er die Olle einmal hat.
Bruno nickt ernst: »Ja, denn kannste ihr det Jeld anvatraun. Laß dir aba ’n neuen Umschlach jeben und kleb jut zu. Braucht ja keena wissen, wat drin is. Een Blick uff die Marie – und schon is der Vadacht da.«
Knarje bittet also um ein dickes Kuvert, steckt die fünftausend Mark hinein, verklebt gut und deponiert den Umschlag bei der rundlichen Wirtin, die ihm schelmisch-verliebt versichert, sie werde das Anvertraute hüten wie ihr teuerstes Gut. Er möchte es sich doch morgen vormittag, so gegen zehn, abholen. Da sei ihr Mann nämlich in der Kirche.
»Mußte also noch mal rübasteijen«, meint Bruno, nachdem Knarje, aus der Küche zurückgekehrt, ihm von dieser Aufforderung Mitteilung gemacht hat.
»Wat tut der Mensch nich allet for zehndausend Piepen«, sagt Knarje achselzuckend. »Außerdem – die Olle kommt zum Jlück imma jleich wie de Feuawehr.« Danach seufzt er.
»Wat nu?«
»Ach, ick mußte bloß an Wanda denken! ’n Prachtmeechen! So wat finde ick nie wieda! Und ick liebe ihr wirklich, kannste mir glooben.«
»Gloobe ick dir ja, Knarje.«
»Bloß, weeßte, jetzt mit det Jeld, det wird so ’n Ei.«
»Warum?«
»Am besten sage ick ihr jarnischt davon. Oda ick azähle, die Fülmerei bringt so ville. Aba anvertraun kann ick ihr die Piepen ooch denn noch nich! Allet Finanzjelle muß ick rejeln.«
»Wieso denn det?«
»Wanda is ’n juta Kerl. Is der beste Kamerad von de Welt. Bloß – se hat ’ne kleene Meise in Kopp.« Bruno erschrickt. »Nee, nee, nischt Schlimmet. Is man bloß Kleptomanie.«
»Ach herrje!« sagt Bruno mitfühlend. (Im Zuchthaus Brandenburg gab es auch ein Lexikon. A–Z. Verlag Enzyklopädie Leipzig. Die Insassen des Zuchthauses sollten es ›zur Hebung ihres sozialistischen Bewußtseins‹ studieren. Bruno informierte sich an Hand dieses Lexikons über alle Fremdwörter, die mit seiner Branche in Zusammenhang standen.)
»Besondere Abart davon.«
»Besondere Abart?«
»Nie im Leben würde sie ’n Freia beklaun!«
»Aba?«
»Aba so, vastehste.«
»Wat so?« Bruno blinzelt irritiert. »Beklaut se etwa dir?«
»Se klaut, wenn se ’n Rappel kricht. Bei de Arbeit nie. Aba in de Freizeit. Hat sojar schon mal vor Jericht jestanden! Zum Jlück is ihr nischt passiert. Zweehundertfuffzig Eia, zahlbar in Raten, Bewährungsfrist. Jeschnappt is se worden, wie se vor Weihnachtn in so ’n jroßet Warenhaus Puppen jeklaut hat und kleene Autos und andan Mist. Ick sage dir, det is ’ne besondre Art von Krankheit. Et war ooch ’n medizinischa Sachverständija bei de Vahandlung da. Hat ihr mächtich jeholfen übrijens, der Dokter aus de Klapsmühle, weeßt schon, da in Wittenau. Der hat jesacht, Kleptomanie isset eijentlich übahaupt nich, sondan eha ’n abnorma Bescherungstrieb.«
Der Bruno muß einen großen Schluck trinken. »Mhm, mhm«, macht er danach. Und sagt: »Bescherungstrieb is jut!«
»Se winscht sich doch so sehr Kinda. Aber sie kann keene kriejen, Jottseidank. Stell dir vor, se könnte. Aba Wanda sieht ihr Jlück nich ein, oft weent se drüba. Denn hatse mal jelesen, ville Frauen in Hiroschima, weeßt schon, da in Japan, könn keene Kinda mehr kriejen, seit die Amis die Bombe jeschmissen ham. Und die Frauen, weeßte, die sammeln Puppen. Det is so in Hiroschima. Wenn du mal bei uns ze Hause kommst, denn mach dir man uff wat jefaßt, Junge! Achtunvürzich Puppen hat se. Bis jetz.«
»Muß janz scheen aussehn«, sagt Bruno, um Nonchalance bemüht. »Du jewöhnst dir dran. Aba nu paß uff, wie verdreht se is, meine Jute: Die eijenen Puppen, die hat se alle ordentlich jekooft, von ihr vadientet Jeld. Se liefert mir natürlich allet ab …«
»Natürlich.«
»… aba for Puppen jebe ick ihr imma ’n bißken wat. Ick hoffe imma, damit wird die Kleptomanie bessa. Wird se aba nich. Se will ja nich Puppen, weil se Puppen will, sondern weil se keene Kinda kriejen kann.«
»Det hab ick kapiert. Aba wat is nu mit den Bescherungstrieb?«
»Na ja, Mensch, arme Kinda ham oft keene Puppen, oda se ham zu wenig Spielzeuch, nich? Und deshalb will Wanda se beschern. Da kommt det Wort her, vastehste? Puppen for kleene Meechens … janz fremde, wat ihr so uff de Straße bejejnet … Autos und Indianahosen und Spritzpistolen for fremde Jungs. Und die Sachen klaut se. Oda Jeld for son Dreck. Vor Weihnachtn und Ostan isset janz schlimm. Da zittre ick schon imma, denn da wird der Trieb übamächtich in ihr – hat der Dokter jesacht.«
»Scheiße«, meint Bruno schlicht. »Ick meine: Nett von de Wanda. Aber det kann een schon irritiern. Sei man bloß vorsichtig mit die zehndausend Piepen. Sonst klaut se deine Wanda dir noch und kooft det janze Spielzeuch von ’t Kadewe uff.«
»Ebent«, sagt Knarje und seufzt wieder. »Se is einfach zu jut for diese Welt, meine Sieße. Ick trage det Jeld Montach jleich uff de Bank.«
Da schlägt die Uhr an der Kneipenwand sechs Uhr. Gleichzeitig kommt ein Betrunkener herein, torkelt, singt, macht Krach.
»Mensch, is der blau – und so früh schon!« sagt Knarje erstaunt. Er hat noch nicht begriffen.
Bruno hat begriffen.
»Überhaupt nich blau is der! Spielt bloß den Besoffnen. Bißken zu doll, finde ick.«
»Wat denn? Du meinst …«, fährt Knarje auf.
»Bleib janz ruhig stehn und kiek nich hin.«
Der Randalierende schwankt durch das Lokal zur Theke. Dabei kommt er an dem Tisch vorbei, an dem Knarje und Bruno ihr Bier trinken. Er stößt mit Bruno zusammen.
»Hoppla!«
Bruno fühlt, wie etwas in seine Jackentasche gleitet.
»Schon jut, Vataken«, sagt er und schiebt den Kerl, der den Betrunkenen mimt, sanft von sich fort. Der Kerl erreicht die Theke und fordert einen dreistöckigen Kognak. Der Wirt verweigert den Ausschank im Hinblick auf den Zustand des Gastes. Der Gast wird laut. Der Wirt wird laut. Andere Gäste mischen sich ein. An der Theke entsteht gewaltiges Durcheinander.
Bruno winkt einen Kellner herbei. Schnell bezahlt er die Zeche und geht mit Knarje aus dem Lokal. Drei Häuser weiter treten beide in einen Flur. Bruno holt den Zettel aus der Tasche, den der Mann ihm zugesteckt hat, als er mit ihm zusammenstieß. Auf dem Zettel steht in gekrakelten Großbuchstaben:
TAXI ZUM U-BAHNHOF OSKAR-HELENE-HEIM
»Sone Chuzpe!« sagt Bruno, während er ein Streichholz anreißt und den Zettel verbrennt. »Oskar-Helene-Heim! Direkt an de Clay-Allee. Jenau bei ’t amerikanische Hauptquartier …«