Sie fahren einen weiten Weg. Bundes-Allee. Rechts ab in den endlos langen Hohenzollerndamm. Über die S-Bahn und die Stadt-Autobahn hinweg. Dann durch die Clay-Allee. Rechts die Ami-Häuser, links das Ami-Hauptquartier. (»Hat der Adolf for die jebaut«, grinst Knarje.)
Heiß ist es in der Taxe, erstickend heiß, obwohl alle Fenster offen sind. Die Straßen liegen verlassen. Sonnabend am Spätnachmittag. Eine Menge Autos sind unterwegs. Ausflügler. Und, so will Bruno doch stark hoffen, deutsche und amerikanische Kriminalbeamte. Gleich hinter dem Hauptquartier, auf der anderen Straßenseite, liegt der U-Bahnhof Oskar-Helene-Heim. Die Droschke hält. Bruno zahlt. Das Taxi fährt ab. Bruno und Knarje stehen Ecke Clay-Allee und Argentinische Allee.
An der Clay-Allee parken viele Wagen. Einer von ihnen muß dem ›Hauptreferenten‹ gehören, denkt Bruno. Aber da irrt er sich. Die Argentinische Allee herunter kommt ein großer Laster mit Plane. Auf der Plane steht, links und rechts:
DELIKATESSEN-WERNER
Der Laster hält direkt neben den beiden.
Am Steuer sitzt ein Mann mit Schiebermütze auf dem Quadratschädel. Ein Amitrikot trägt er. Hosen wird er natürlich auch tragen, überlegt Bruno idiotisch, die kann ich bloß nicht sehen. Der Fahrer öffnet die Tür zum Beifahrersitz.
Er sagt kein Wort.
Bruno und Knarje steigen ein.
Sofort fährt der Laster wieder an, biegt in die Clay-Allee ein und rollt gegen Norden. Denselben Weg zurück, den die beiden eben gekommen sind.
Bißchen eng hier für drei Mann, denkt Bruno gerade, da sagt eine Stimme, die er kennt: »Kommen Sie nach hinten!«
Bruno dreht sich um. Die Ladefläche ist von der Fahrerkabine durch eine weitere Plane getrennt. Bruno hebt sie hoch. Er erblickt seinen ›Hauptreferenten‹. Der sitzt neben einer Metallkiste, die aussieht wie ein Sendegerät, auf einer Bank und macht eine Kopfbewegung: Na los schon!
Bruno und Knarje klettern über die Lehnen des Vordersitzes zu ihm.
»Tach«, sagt Bruno.
»Tach«, sagt Knarje.
Ernst Kornmann sagt zunächst gar nichts. Der junge Herr mit den großen grünen Augen, den vollen roten Lippen, dem braunen, gelockten Haar und dem intelligenten Gesicht ist so piekfein gekleidet, wie Bruno ihn bisher immer erlebt hat: Blauer Anzug aus leichtem, luftdurchlässigem Stoff, weißes Hemd, graue Krawatte, schwarze, geflochtene Slipper.
Angenehm kühl ist es auf der Ladefläche. Hier weht der Fahrtwind durch Ritzen und kleine Löcher in den Planen.
Kornmann betrachtet Bruno und Knarje mindestens eine Minute lang schweigend, dann macht er eine weitere Bewegung: Hinsetzen! Sie setzen sich, folgsam wie Schüler, auf eine zweite Bank, Kornmann gegenüber. Zwischen ihnen befindet sich die Metallkiste. Ja, das ist ein Sender, jetzt sieht Bruno es deutlich.
Kornmann, ebenso erregt wie die beiden, spricht betont ruhig: »Wir fahren nun zu der Villa, in der dieser Mann wohnt. Herr Knargenstein, wissen Sie gut Bescheid in Westberlin?«
»Klar.«
»So.« Kornmann hebt die Brauen. »Das wollen wir gleich einmal feststellen. Blicken Sie durch das Loch in der Plane, ja, dieses da, und sagen Sie mir laufend, in welchen Straßen wir sind.«
Knarje linst ins Freie.
Der Laster, das hat er schon gemerkt, fährt seit einiger Zeit nicht mehr ordentlich geradeaus, sondern dauernd um die Ecke. Einen Augenblick braucht Knarje, um sich zu orientieren, dann legt er los: »Also det is noch Dahlem. Kuckucks-Weg. Jetz links Thiel-Allee. Pacelli-Allee. Jetz fahrn wa wieda links rin, in ’n Drosselweg. Und det, det is de Wachtelstraße. Kenn’ ick. Im Dol. Det is ja ulkich, schon wieda um de Ecke. Max-Eyth-Straße. Wat wir jetz kreuzen, det is de Pücklerstraße …« So geht das mindestens fünf Minuten weiter, der Fahrer läßt kaum eine Nebenstraße aus.
Wenn Prangels Leute und die Amis man bloß nachkommen, denkt Bruno nervös.
»… Selchowstraße Berkaer Straße … Rathaus Schmarjendorf … äh …«
»Na?«
»Moment, jleich hab ick et wieda! Davoser Straße! Kissinger Straße … rechts runta … links in de Weinheimer … Forckenbeckstraße … Hohenzollerndamm …«
Schließlich gibt Kornmann sich zufrieden.
»Sie wissen ja wirklich Bescheid. Und fahren können Sie auch. Jeder von Ihnen wird später einen Wagen lenken müssen. Sie werden voranfahren und Herrn Knolle durch die Stadt lotsen, Herr Knargenstein.«
»Is jemacht.«
»Wir kommen gleich an dem Haus vorbei, in dem der Mann wohnt. Sehen Sie sich die Gegend genau an, alle beide! Dann fahren wir woandershin und besprechen die Einzelheiten. Wir können ja erst beginnen, wenn es dunkel geworden ist.«
Schon wieder biegt der Laster um eine Ecke.
»Sehen Sie jetzt bitte beide durch Löcher in der Plane. Wir befinden uns in der …«
»Koenigsallee«, sagt Knarje.
»Sehr richtig. Wir fahren stadteinwärts. Beachten Sie die linke Straßenseite. Noch einen Moment. Jetzt macht die Allee einen Knick nach rechts … Sehen Sie die Villa in dem großen Park?«
Der Laster fährt ganz langsam, fast im Schritt.
»Ja«, sagen Bruno und Knarje gleichzeitig.
Die Villa, die sie sehen, steht weit hinten in dem großen Park. Die Villen rechts und links von ihr sind von Bomben getroffen und nie mehr aufgebaut worden.
Der kleine Herr Otto Fanzelau, der große Privatbankier und Tunnel-Financier, wohnt in idyllischer Einsamkeit.
»Das ist das Haus«, sagt Kornmann. »Da lebt der Mann.«