Der Psychiater Dr. Philipp Landon ist zweiundvierzig Jahre alt, sehr groß, hager, schwarzhaarig, schwarzäugig und unverheiratet. Er lebt mit der Mutter zusammen. Nach Arbeit an verschiedenen Kliniken hat er 1960 eine eigene Praxis am Olivaer Platz eröffnet. So gut war damals bereits sein Ruf, so außerordentlich erfolgreich seine Behandlungsmethode, daß Landon einen Monat nach Eröffnung der Praxis mehr Patienten hatte, als er sich wünschte.
Das soll nicht heißen, daß er sich aus finanziellen Gründen weniger gewünscht hätte – etwa der Steuer wegen. Dr. Landon war kein Arzt dieser Art. Wohl kamen die reichsten Leute Westberlins zu ihm, daneben jedoch auch ärmere und ganz arme.
Von den Reichen nahm Landon Honorare, die ihm hoch und diesen niedrig erschienen und dem Arzt – er war bescheiden und stellte keine großen Ansprüche an das Leben – gestatteten, die Ärmeren und ganz Armen spottbillig oder umsonst zu behandeln. Spottbillig? Im Gegensatz zu den Reichen erschienen den Armen Landons Honorarforderungen unverschämt hoch! Dieses typische Verhalten beider Gruppen war ein Quell ständigen Vergnügens für den Arzt. Von seinem Beruf besessen, hatte Landon ein einziges brennendes Interesse: Die Dynamik des Lebens zu studieren und helfend einzugreifen, wo immer dies nötig wurde.
Sehr früh in seinem Leben, auf dem Gymnasium schon, war Landons Umgebung und ihm selbst aufgefallen, in welch geradezu beängstigend vollkommener Weise er sich in die Personalität anderer Menschen zu versetzen, ihre Eigenheiten, Taten, Schicksale zu begreifen und zu interpretieren vermochte.
Er hatte immer Arzt werden wollen. Indessen war ihm dabei auch immer der Gedanke unangenehm gewesen, daß er sich in diesem Beruf unter den gebieterischen Forderungen der technisierten Wissenschaft von den Menschen eher entfernen als ihnen näher kommen könnte. So entschied er sich zuletzt für das Gebiet der Psychiatrie und Neurologie. Hier war das Sich-einfühlen-Können in den Menschen Voraussetzung. Menschen! Menschen! Menschen! Landon würde mit ihnen zusammentreffen, in einem Beruf, der Medizin, Psychologie und Philosophie vereinte – in dem Beruf für ihn! Denn es gab für ihn nichts Aufregenderes als den Menschen.
Nervenkranke zeigen immer ein Übermaß von Egoismus. Darum erfordert ihre Behandlung vor allem Zeit, Zeit. Nur aus diesem Grunde hätte Landon sich weniger Patienten gewünscht: Um sich noch intensiver, noch länger, noch einfühlender mit jedem einzelnen Fall beschäftigen zu können.
Es war indessen einfach nicht zu vermeiden, daß die Zahl der Patienten immer weiter wuchs. Um sich ihnen allen, soweit das nur möglich war, zu widmen, und weil sie ihn doch alle so sehr interessierten, trieb Landon Raubbau mit seinen Kräften. Nicht selten saßen noch um zwei Uhr morgens Patienten bei ihm. Ein Privatleben hatte der Arzt praktisch überhaupt nicht. Er konnte kaum Verabredungen treffen, die er nicht wieder absagen mußte, er wußte nie, ob und wann er Urlaub machen konnte (seit 1961 arbeitete er ohne auszuspannen), und keine junge Frau hätte ein ständiges Leben an der Seite dieses Mannes ertragen.
Nur eine verwitwete, kluge und gütige Mutter vermochte das …
Am 15. April 1960 betrat der kleine, zierliche Herr Otto Fanzelau zum erstenmal die Praxis Dr. Landons. Einer der ersten Internisten Berlins hatte ihn zu dem Nervenarzt geschickt – nach zwei Wochen langer stationärer Generaluntersuchung.
Wie Landon beim ersten Zusammentreffen von Fanzelau erfuhr, war dieser 1897 in Berlin als Sohn des wohlbekannten Privatbankiers Fritz Fanzelau geboren. Das Bankhaus Fanzelau gehörte zu den ehrwürdigsten des wilhelminischen Deutschland. Die Zentrale lag in Berlin, Zweigstellen gab es in Hamburg, Bremen, Frankfurt, Düsseldorf und München.
Das Unternehmen wuchs und wuchs mit den Jahrzehnten, über den ersten Weltkrieg, die Inflation, die Periode der Weimarer Republik hinweg immer weiter. Otto Fanzelau erlernte das Bankfach von der Pike auf und übernahm des Vaters Werk nach dessen Tod im Jahre 1930. Er heiratete zweimal. Beide Ehen verliefen unglücklich und wurden geschieden. Kinder gab es keine.
Geschäftspartner in aller Welt halfen Fanzelau nach dem Ende des zweiten Weltkriegs in selbstlosester Weise – so wie er vielen von ihnen zwischen 1933 und 1939 geholfen hatte, durch Vermögenstransfer in die Schweiz, durch Schein-Übernahme fremden Eigentums, dadurch, daß er die Emigration ermöglichte und ähnliches.
Nach 1948 erlebte das Bankhaus Fanzelau eine zweite Blütezeit. Berlin war zerstört. Um die Stadt aufzubauen, brauchte man Milliarden. Der Senat mußte sich an Banken wenden, an Banken in Berlin, in Westdeutschland, im Ausland. All dies tat er mit Hilfe und unter der Regie Otto Fanzelaus, der selbst viele Millionen in riesige Bauprojekte steckte. Es entstanden neue Straßen, neue Stadtviertel, Hotels, Kaufhäuser, Siedlungen.
Beinahe immer war Fanzelau an diesen Mammutvorhaben beteiligt – maßgebend beteiligt. So kam es, daß er die komfortable kleine Villa in der Koenigsallee im Grunewald, die er nach dem Krieg erworben hatte, nur selten bewohnen konnte. Fast das ganze Jahr befand er sich auf Reisen – in Nordamerika, Südamerika, Frankreich, England, Italien, der Schweiz und anderen europäischen Ländern. Außerdem Westdeutschland, woselbst er viele Städte sozusagen ununterbrochen besuchte – manchmal, indem er morgens von Berlin abflog, abends zurückkehrte, um am folgenden Morgen wieder abzufliegen. Besessen von seinem Beruf war der zierliche, kleine Herr Fanzelau – wie der große, hagere Dr. Landon von dem seinen. Beide jagten nicht dem Geld nach: Der Arzt, weil er Wissenschaftler war, der Bankier, weil Geld doch nur sein Handwerkszeug bildete.
Während Landon derart keineswegs Reichtümer anhäufte, ergab sich das bei Fanzelau sozusagen von selbst. Die Geschäfte, die er tätigte, warfen Riesengewinne ab. Er kaufte Antiquitäten, Bilder, Skulpturen, er unterstützte junge Künstler. Ein englischer Diener sorgte für Ordnung in seinem Haus. Fanzelau hatte ihn nicht aus Snobismus einem deutschen vorgezogen, sondern weil John, der Butler, hervorragend kochte – auf französische Art. Dann gab es noch eine Aufwartefrau, die jedoch nicht in der Villa wohnte. Der Kunstschätze wegen wurde das Haus von einem riesigen Wolfshund bewacht, den ein Architekt dem Bankier zum Geschenk machte, nachdem es sich herumgesprochen hatte, daß Fanzelau sich standhaft weigerte, Geld für Schutz durch die Wach- und Schließgesellschaft ›aus dem Fenster zu werfen‹.
Die Arbeitskraft und Energie dieses Mannes, der nicht eben mehr ein Jüngling war, verblüffte alle. Über einen eifrig kultivierten Aberglauben – Fanzelau sammelte sogenannte ›Glückselefanten‹ in jeder Größe und aus jedem Material – lächelten seine Geschäftspartner und vergrößerten die Sammlung, wo und wann sie nur konnten.
Fanzelaus geradezu pathologische Korrektheit bewunderte man. Dieser Mensch lebte nach einem auf die Minute eingeteilten Tagesablauf. Er war extrem pedantisch. Der Verlust einer halben Million ließ ihn mit keiner Wimper zucken – der Umstand, daß seine Füllfedern, Bleistifte, Notizblocks und Akten ein einziges Mal nicht in seit Jahrzehnten gleichbleibender Anordnung auf dem Schreibtisch lagen, vermochte bei dem als sanftmütig bekannten kleinen Mann wüste Wutanfälle hervorzurufen.
Dieselbe manische Pedanterie bewies er in seiner Kleidung, seinem Geschäftsgebaren, seinem Umgang mit Menschen.
1957 war der Unermüdliche sechzig Jahre alt geworden, besaß ein Privatvermögen von vielen Millionen Mark, das Bundesverdienstkreuz Erster Klasse, zahlreiche ausländische Orden und Titel und stellte so etwas wie das Gütezeichen ›Made in Germany‹ dar – in der alten, propren Bedeutung.
1959 begann Otto Fanzelau, sich krank zu fühlen. Es fing mit Schlaflosigkeit, rapider Gewichtsabnahme und ständiger Unrast an. Es folgten Herzbeschwerden, lähmende Müdigkeit, jähe Schwindelgefühle, rasende Kopfschmerzen, die ebenso plötzlich auftraten, wie sie verschwanden, sowie ein rapider Abfall der Arbeitskraft.
Otto Fanzelau ignorierte alle diese Symptome, solange es ging. Als es nicht mehr ging, suchte er den erwähnten Internisten auf. Er war davon überzeugt, Angina pectoris zu haben.
Der Internist erklärte ihm, daß dies nicht zutraf, ja, daß Fanzelau nach eingehendster Untersuchung keinerlei körperliche Schädigungen aufzuweisen hatte – selbst die normalen Abnützungserscheinungen seiner Altersstufe hielten sich weit unter dem Üblichen.
Der Internist empfahl Fanzelau, den Nervenarzt Dr. Philipp Landon am Olivaer Platz aufzusuchen.
Wie es sich traf, waren die beiden einander auf den ersten Blick sympathisch, was Landon die Behandlung wesentlich erleichterte. Die Intelligenz seines Patienten in Rechnung stellend, entschloß sich der Psychiater, mit Fanzelau fast (aber natürlich nur fast) wie mit einem Kollegen zu sprechen.
»Ich will«, sagte er, »versuchen, Ihnen Ihren Zustand möglichst einfach zu erklären. Ich kenne Ihren Internisten. Wir besitzen keinen besseren in Berlin. Er hat Sie mit äußerster Gewissenhaftigkeit untersucht und keinen einzigen körperlichen Schaden festgestellt. Das heißt, und das müssen Sie mir und ihm glauben, Sie haben keinen solchen Schaden.«
»Aber diese schreckliche Angst … das Herzflattern … ich kann nicht mehr arbeiten!«
»Ich sprach von körperlichen Schädigungen, Herr Fanzelau, nicht von seelischen. Und ich muß Ihnen wohl nicht sagen, daß seelische Schädigungen sehr wohl die Erscheinungen körperlicher Schädigungen … ja, zuletzt solche Schädigungen selbst … herbeiführen können.« Landon blätterte in dem Bericht des Internisten. »Wie der Kollege schreibt, haben Sie ihm gegenüber immer wieder Zweifel am Sinn Ihres Tuns geäußert, am Sinn Ihres Daseins, am Sinn des Lebens überhaupt. Wann begannen diese Zweifel? Sie hatten sie doch nicht immer …«
»Nein, natürlich nicht. Vor drei, vier Jahren etwa ging das los. Ich hatte geschuftet und geschuftet, mein Leben lang. Wofür? Für wen? Meine Ehen waren Katastrophen. Kontakt zu anderen Menschen, ich meine echten, menschlichen Kontakt, finde ich nicht mehr. Was bleibt mir also nach sechzig Jahren auf dieser Erde? Einsamkeit.«
Landon ließ Fanzelau reden, nickte zustimmend, es schien, als gebe er dem kleinen Mann stets recht. Stellte dieser im Verlauf der vielen Unterhaltungen, die folgten, einmal selbst Fragen, dann beantwortete sie Landon, in geschickten Abwandlungen natürlich, mit der Gegenfrage: »Was meinen Sie?«
Fanzelau bemerkte den Trick bald, sprach aber nie darüber, denn es war ihm klar, welchen Sinn diese Methode hatte: Landon mußte möglichst umfassend über alle Ansichten, Urteile, Emotionen, Ängste und Sorgen seines Patienten Kenntnis gewinnen.
Über die Frage nach dem Sinn von Fanzelaus Leben sprachen die beiden Männer monatelang.
»Im Privaten«, sagte Fanzelau, »muß ich mich also als Versager buchen. Dienste für die Allgemeinheit? Das ist noch ärger. Davon wollen wir lieber gar nicht reden.«
»O doch … Gerade davon!«
»Nun gut. Ich habe ein Bankhaus zum Weltunternehmen gemacht. Ich habe mitgeholfen, eine Weltstadt wiederaufzubauen. Für wen? Sie kennen ja den Witz: Was ist der Unterschied zwischen einem Optimisten und einem Pessimisten? Der Optimist lernt Russisch, der Pessimist Chinesisch. Ich kann nur hoffen, daß die Chinesen mit den Bauten des Hansaviertels einverstanden sein und sich in ihnen wohl fühlen werden.«
Sofort – wie immer – ging Landon auf Fanzelau ein. Er widersprach nie. Es sah immer so aus, als sei er genau der Ansicht seines Patienten. Scheinbar zufällig kam das Gespräch in weiteren Sitzungen auf Themen, die – davon war Landon überzeugt, und Fanzelaus Reaktionen bewiesen es ihm – gleichfalls zum Alptraum-Repertoire seines Patienten gehörten.
Fanzelau sprach von den Schrecken eines Atomkriegs, von der Irrsinns-Politik der ›Overkill-Kapazität‹, will heißen, jener atomaren Überlegenheit, die es ermöglichen soll, jeden Gegner nicht nur einmal sondern sechsmal nacheinander vernichten zu können. Er sprach von dem Grauen eines atomaren Krieges und von jenem anderen Grauen, das unabwendbar schien, wenn es nicht zu einer atomaren Auseinandersetzung kommen sollte.
Der Bankier überschüttete Landon mit Fakten, Zahlen und Statistiken, die dem Arzt zeigten, daß der kleine Herr sich wahrhaftig gründlich informiert hatte in seiner unbewußten Lust am Untergang.
Trotz aller Bemühungen, erzählte Fanzelau, war es im zweiten Weltkrieg nicht möglich gewesen, mehr als sechzig Millionen Menschen zu töten. Das schien einfach lächerlich, wenn man bedachte, daß gegenwärtig dreieinhalb Milliarden diesen Planeten bevölkerten, zu welchem Wachstum achthunderttausend Jahre nötig gewesen waren.
Nur vierzig Jahre hingegen waren noch vonnöten, damit weitere dreieinhalb Milliarden hinzukamen! Im Jahre 2000 würde es 7 Milliarden Menschen geben. Und das eben gab es nicht. Die Menschheit auf diesem Planeten hatte höchstens noch vierzig Jahre zu leben – mit oder ohne Atomkrieg.
»Wir ersticken an uns selbst!« rief der kleine Herr Fanzelau bei einem dieser Gespräche – und augenblicklich gab Landon ihm recht, was augenblicklich den erwünschten Effekt hatte: Fanzelau sprach weiter und weiter.
»Im Jahr 2750 – das ist alles statistisch nachweisbar, lieber Doktor! – würden zehn Menschen auf einem Quadratmeter Erde hausen müssen, was natürlich unmöglich ist. Und im Jahre 3750 würde die Menschheit sechs Quadrillionen Kilogramm wiegen – soviel wie die Erde selbst! Sie wäre dann von einer Menschenschicht überzogen wie von Schimmel. Gibt es einen Ausweg, Doktor?«
»Was meinen Sie?« fragte Dr. Landon prompt.
Und erreichte so, daß Fanzelau sagte, was er meinte, und daß damit neue Schreckvorstellungen, Panikstimmungen und immer deutlicher die arge Verstrickung des Geistes sichtbar wurden, in denen sich Fanzelau befand.
»Es ist grauenhaft«, rief Fanzelau, »diese Worte auszusprechen! Aber mit ein paar Fünfzig-Megatonnen-Bomben wäre das Elend wenigstens abzukürzen, käme das Ende früher. Im Interesse der leidenden Menschheit muß man für ihren Abwurf plädieren. Das ist nicht Blasphemie, Doktor! Das ist meine ehrliche Überzeugung – wenn ich natürlich auch mit ihr alleinstehe.«
»Ah«, sagte Landon darauf, »Sie meinen, Sie stünden allein mit dieser Ansicht? Haben Sie eine Ahnung!«
»Wieso … soll das heißen …?«
»Was glauben Sie, wie oft ich solche und ähnliche Worte höre, Herr Fanzelau? Am häufigsten und ernsthaftesten natürlich von differenzierten Menschen, zu denen Sie selbstverständlich gehören.« Er war wirklich ein großartiger Psychiater, der Dr. Landon. »Der differenzierte Mensch von heute – nicht der stumpfe, träge – lebt sich so leicht in ein ständiges Hinschielen auf die Endkatastrophe hinein. In eine richtige Untergangs-Euphorie! Das geht an mit dem abgedroschenen Satz ›Solange die Bombe droht, ist es unverantwortlich, Kinder in die Welt zu setzen!‹ und endet bei dem – verzeihen Sie – ebenso abgedroschenen ›Was hat das denn alles überhaupt für einen Sinn, was ich getan habe und tue oder tun will, wenn es Leben auf diesem Planeten in vierzig Jahren nicht mehr geben wird – mit oder ohne Bombe?‹.«
»Gut, Doktor. Und was hat es also für einen Sinn?«
»Das will ich Ihnen sagen. Ihr und mein Beruf sind völlig verschieden. Eines benötigen wir beide, um erfolgreich arbeiten zu können, nämlich Logik. Habe ich recht?«
»Ja.«
»Nun, dann antworten Sie mir: War es unlogisch, daß die Bombe – ich wähle die Bombe nur als einen der abertausend angeblichen Gründe der Sinnlosigkeit unseres Seins –, war es unlogisch, daß die Bombe gebaut wurde?«
»Es war ein Verbrechen!«
»Das steht auf einem anderen Blatt. Danach habe ich nicht gefragt. Ich habe gefragt: War es unlogisch? War der Bau nicht eine völlig logische Folge verschiedenster Entwicklungen?«
Fanzelau schwieg.
»Antworten Sie mir!«
»Nein«, murmelte Fanzelau.
»Bitte? Sprechen Sie lauter!«
»Nein!« schrie der kleine Herr (und Landon registrierte mit größter Genugtuung, daß er schrie), »nein, es war nicht unlogisch!«
»Es war nicht unlogisch. Es war logisch. Ein Verbrechen war es auch, natürlich. Grauenhaft ist es, selbstverständlich. Das interessiert uns im Moment nicht. Uns interessiert, daß die Bombe logischerweise entstehen mußte – auf Grund von wissenschaftlichen Entdeckungen, von politischen und militärischen Notwendigkeiten und so weiter und so weiter und so weiter. Unlogisch wäre es, wenn sie nicht gebaut worden wäre!« In dieser Phase der Therapie begann Landon selbst zu sprechen. Jede seiner Behauptungen kehrte – wie die Fangfrage »Was meinen Sie?« – in immer neuen Variationen wieder, bis sich eine ganz bestimmte Grundessenz im Gehirn des Patienten gleichsam eingegraben hatte.
Der Arzt zündete eine neue Zigarette an. Er rauchte viel. Viel zu viel. Er wußte es.
»Weiter. Ist irgend etwas daran unlogisch, daß sich die Menschheit in vierzig Jahren verdoppelt haben wird? Wußte das nicht jeder, der sich dafür interessierte, bereits vor sechzig Jahren? Schrien damals nicht schon die Neo-Malthusianer Zeter und Mordio?«
»Ja, das stimmt …«
»Nun also!«
Zu Landons Freude wurde Fanzelau aggressiv: »Nun also! Wunderbar! Wir leben somit in einer völlig logischen, prächtigen Welt! Der besten aller Welten!«
»Das habe ich nie behauptet. Bringen wir nichts durcheinander, Herr Fanzelau. Ich rede nur von Logik. Ich will Ihnen zunächst bloß beweisen, daß alles, alles, was geschieht, logisch ist in dieser Welt. Es gibt keine andere Welt für uns. Ausgenommen die Welt nebenan, jene, in die sich Menschen flüchten, die Logik nicht akzeptieren können. Sie wissen, welche Welt ich meine.«
»Die Welt des Wahns.«
»Ja. Die ist – in sich – übrigens auch logisch. Aber es ist nicht die Welt, in der Sie leben wollen. Oder?«
Fanzelau sah Landon stumm an.
»Daß wir geboren wurden, ist eine logische Folge des Verhaltens unserer Eltern. Ja oder nein?«
»Ja.« Fanzelau wischte sich den Schweiß von der Stirn.
»Das ist alles recht anstrengend, ich weiß. Für mich auch, Herr Fanzelau, für mich auch. Daß unsere Geburt so logisch ist wie alles andere, wollen mehr und mehr Menschen nicht wahrhaben – angesichts der rapiden Entwicklung zum Chaos hin. Was allein aber kann das Chaos, kann all die Schrecknisse, von denen wir sprachen, bannen?«
»Nichts! Nichts! Nichts!«
»Doch«, sagte Landon. »Eine einzige Sache. Klares Denken. Logisches Denken. Dann können wir dafür sorgen, daß die Menschheit nicht ihre letzten vierzig Jahre erlebt – nur dann!«
»Auch dann nicht!«
»Es gibt die Möglichkeit der weltweiten Geburtenkontrolle. Es gibt die Möglichkeit der Ausnutzung von Sonnenenergie. Niemand wird hungern. Die Forscher sind der Photosynthese, dem grünen Geheimnis der Pflanzen, auf der Spur. Es wird niemand frieren. Es wird …«
»Alles Utopien!«
»Stimmt vollkommen – wenn keiner sich für diese Projekte einsetzt. Wenn keiner sie durchsetzt. Wenn mehr und mehr Menschen – differenzierte, geistig hochstehende Menschen wie Sie, Herr Fanzelau – die Flinte ins Korn werfen, sich eine Angina pectoris wünschen und, wenn sie die nicht bekommen können, bei mir landen. Dann haben Sie recht. Aber nur dann! Ich bin«, sagte Dr. Landon, »alles andere als ein Nietzsche-Verehrer. Doch einen Satz von ihm akzeptiere ich in meinem Beruf.«
»Und wie heißt dieser Satz?«
»›Nur wer ein Warum zu erleben hat, erträgt fast jedes Wie‹.«
Fanzelau sah den Arzt gebannt an.
»Ein Warum«, sagte der. »Für welches ›Warum‹ lebe ich? Das fragen Sie sich. Und finden keine Antwort darauf. Und deshalb sind Sie krank, Herr Fanzelau. Weil Sie die Frage nicht beantworten können, was das Warum ist, für das Sie zu leben, das Sie zu erleben haben.«
»Es gibt keine Antwort auf diese Frage!«
»Natürlich gibt es eine! Das logische Denken gebietet es. Wir haben uns doch darauf geeinigt, Herr Fanzelau, daß nichts, nichts existiert, was in unserer Welt unlogisch wäre. Und was wäre unlogischer als ein sinnloses Leben? Unterbrechen Sie mich nicht! Jedes Leben hat seinen Sinn, jedes! Hier müssen wir zu arbeiten beginnen – damit, daß ich Sie davon überzeuge, daß die Logik auch nur ein einziges sinnloses Leben auf dieser Welt verbietet.«
»Und wenn Sie mich davon überzeugt haben? Dann weiß ich immer noch nicht, was der Sinn meines Lebens ist!«
»Das ist dann der zweite Schritt. Den müssen Sie allein gehen. Sie müssen ihn suchen, diesen Sinn. Allein. Sie müssen ihn finden, diesen Sinn. Allein.«
Fanzelau starrt den Arzt schweigend an.
»Es kann lange dauern, bis Sie Ihren Sinn gefunden haben. Wir werden Zeit benötigen. Sie vor allem werden Zeit benötigen.«
»Zeit! Ich bin über Sechzig!«
»Ja, und? Dann hören Sie eben endlich auf, wie ein Besessener – wofür denn eigentlich, Herr Fanzelau, wofür, he? – zu arbeiten! Dann werden Sie Zeit haben, über den Sinn Ihres Lebens nachzudenken. Lassen Sie die Geschäfte! Die laufen bei Ihnen doch ganz von selbst. Ihre Bank blüht. Fangen Sie vielleicht da an, nachzudenken.«
»Wo?«
»Bei der Tatsache, daß Sie stets mit Geld zu tun hatten, daß man Ihnen Vertrauen entgegenbringt, daß Sie überall Freunde …«
Aufschreiend unterbrach ihn Fanzelau: »Freunde? Freunde? Die wollen doch alle nur etwas von mir! Ich sage Ihnen, Doktor, ich habe keinen einzigen echten Freund, keinen einzigen!«
»Ach so, natürlich. Verzeihen Sie den lapsus linguae. Geschäftsbeziehungen – sagt Ihnen das Wort zu?«
Fanzelau starrte vor sich hin und nickte.
»Gut. Denken wir an die. Denken wir an Ihre Karriere. Die war auch logisch. Auch sie hat ihren Sinn. Sie kennen ihn noch nicht. Aber das heißt doch nicht, daß es ihn nicht gibt. Das heißt doch nur, das Sie ihn suchen müssen. Der Sinn hat gar nichts dagegen, gefunden zu werden. Nur so, Herr Fanzelau, nur so, werden Sie auch Frieden finden – und Genesung. Ihre beiden Ehen sind schiefgegangen. Sie wagen nicht, die Beziehung zu einer anderen, neuen Frau aufzunehmen.«
»Nein …«
»Das wäre auch keine Lösung.«
»Da! Sie sagen es selber! Ich bin gefühlsarm, wenn nicht gefühllos! Jawohl, das bin ich! Und wenn ich mir hundertmal nachweise, wieviel Gutes ich anderen getan habe. Das tat ich doch nur, weil ich keinen echten Kontakt hatte! Man versucht, sich selbst zu beweisen, daß man Gefühle hat. Man schenkt. Man spendet. Ich möchte wetten, meine beiden Frauen haben niemals einen Wunsch ausgesprochen, den ich nicht sofort erfüllte.«
»Sehen Sie. Und gerade deshalb sind Ihre Ehen in die Brüche gegangen. Weil Sie weder für die eine noch für die andere Frau ein echtes, menschlich bindendes Gefühl aufzubringen vermochten.«
»Und ist das nicht trostlos?«
»Wieso trostlos? Wären Sie mit einem Herzen aus Butter zu Ihren Millionen gekommen?«
»Sie haben heute Ihren spaßigen Abend, Doktor.«
»Ich habe heute meinen Zitatenabend. Jetzt zitiere ich Hölderlin: ›Nur der hohe Adel der Menschheit kommt in die Hölle. Die anderen stehen davor und wärmen sich bloß‹.«
»Schmeichler! Hoher Adel. Auf einmal also. Mal so, mal so.«
»Natürlich mal so, mal so! Wie, glauben Sie, behandelt man Menschen wie Sie? Es gibt ein Ziel, das steht fest. Aber der Weg dorthin ist keine gerade Linie. Man muß mal so, mal so gehen. So ehrlich ich bisher zu Ihnen war, so ehrlich werde ich weiter bleiben, das verspreche ich Ihnen. Und es ist ehrlich, wenn ich sage: Das Leben ist vielschichtig. Der Außerordentliche braucht alle Kräfte, um das Außerordentliche zu vollbringen, um sein ›Warum‹ zu erleben. Da bleibt nichts übrig für private Beziehungen, für menschliche Kontakte – und wenn er in Wahrheit tausendmal für die Menschheit lebt!« Eine neue Zigarette zündete Dr. Landon an, dann schloß er: »So, und wenn das nun nicht logisch war, dann können Sie mir eine herunterhauen.«
Leise antwortete Fanzelau: »Es war logisch, Doktor.«
Zweimal wöchentlich besuchte Otto Fanzelau Dr. Landon. Nicht mehr zu zählen waren zuletzt die Stunden ihrer Gespräche. Fanzelau machte Fortschritte. Er hatte Rückschläge. Mehr und mehr bewunderte er seinen Arzt.
Dieses Gefühl mußte Landon bremsen, lenken, in Maßen halten.
»Verlassen Sie sich nie völlig auf mich. Ich kann auch irren. Ich bin nicht unfehlbar. Ich kann sterben. Ich darf nicht ewig Ihr Arzt bleiben. Sie müssen es selber werden. Sie glauben, schon richtige Freundschaft für mich zu empfinden, nicht wahr?«
»Ja, Doktor …«
»So, wie Sie glaubten, Ihre Frauen zu lieben.«
»Nein. Nicht so. Anders.«
»Gar nicht anders. Genauso.« Landon sprach eindringlich. »Sie haben Ihre beiden Frauen geheiratet, um sich Ihre Kontaktfähigkeit zu beweisen. Dafür haben Sie teuer bezahlt. Mich können Sie im Grunde überhaupt nicht bezahlen …«
»Das weiß ich …«
»… und weil Sie das wissen, glauben Sie, für mich Freundschaft zu empfinden, nein – Sie empfinden sie! Wieder der Versuch, sich Kontaktfähigkeit zu beweisen. Merken Sie? Hören Sie auf damit. Wenn Sie gesund sind, werden Sie mich vergessen, werden Sie nicht mehr zu mir kommen, werden Sie sich wundern, jemals geglaubt zu haben, daß Sie so etwas wie Freundschaft für mich empfunden hätten.«
»Nie! Nie wird es soweit kommen!«
»Soweit muß es kommen! Denn nur dann sind Sie gesund. Sie wollen doch nicht ewig krank bleiben, Herr Fanzelau … Na, sehen Sie!«
Das war im Frühling 1961.
Im November 1961 befand sich Fanzelau dann offenbar wirklich auf dem Weg der Genesung. Ein Psychiater hat viele Methoden, festzustellen, wie es um seinen Patienten steht. Landon stellte fest: Es stand gut um Fanzelau.
Er schlief wieder, die Herzbeschwerden waren ebenso verschwunden wie die Angstgefühle und das Kopfweh, er lachte herzlich, wenn Landon, um ihn zu testen, etwas Komisches erzählte – er nahm sogar wieder zu, seine Aktivität stieg rapide an.
»Ich glaube, ich habe ihn gefunden, den Sinn meines Lebens«, sagte Fanzelau glücklich.
Landon nickte aufmunternd, einen ausführlichen Bericht erwartend. Er erhielt keinen. Er erlebte die größte Überraschung seines an Überraschungen nicht eben armen Daseins.
»Aber, so leid es mir tut – es tut mir wirklich leid, Doktor! –, ich kann über die Angelegenheit nicht sprechen«, erklärte Fanzelau.
»Sie können mir nichts erzählen?«
»Nein!« Das klang nun schon schärfer. Fanzelau schüttelte heftig den Kopf, halb im Trotz, halb in großer Verlegenheit. »Nein, das kann ich nicht!«
»Hm«, machte Landon. Auch ein sehr kluger Arzt hat Momente der absoluten Verblüffung. Alles hätte der Psychiater von dem kleinen Herrn erwartet – diese Reaktion nicht!
Diese Reaktion ließ Landon keine Ruhe. Er versuchte auf raffinierteste Weise, Fanzelau doch zum Sprechen zu bringen, denn eine solche Entwicklung war selbst für ihn, der so vieles erlebt hatte, neu. Dr. Philipp Landon sprach auf Fanzelau ein wie auf ein krankes Pferd. Er redete von den Grundregeln der Psychotherapie, der Notwendigkeit einer Information durch Fanzelau (»Das gehört unbedingt mit zur Behandlung!«), er verwies auf das Arztgeheimnis.
Umsonst.
Alles umsonst.
Kein Wort der Erklärung kam über die Lippen des kleinen Bankiers. Dr. Philipp Landon wurde unsicher. Er verhedderte sich, seine Argumente wurden schwächer und immer weniger überzeugend – und Otto Fanzelau schwieg, schwieg, schwieg.
»Es tut mir unendlich leid, lieber, lieber Doktor, aber ich kann Ihnen einfach nichts sagen!«
Wie kam es zu dieser Aggression? grübelte Landon. Hatte Fanzelau einen anderen Arzt konsultiert? War er Landon ›entglitten‹?
Ach, nichts Derartiges! Es war Otto Fanzelau aus einem für ihn zwingenden Grund unmöglich, zu sprechen …