Zehn Milliarden in der allernächsten Zeit!
Dann waren es also dreizehneinhalb Milliarden. Und nach Fanzelaus Überzeugung bedeuteten schon sieben Milliarden den Untergang der Menschheit! Er musterte Martini genau. Betrunken war er nicht, Spaß schien er auch nicht gemacht zu haben. Es war die nüchterne Feststellung eines Wissenschaftlers gewesen.
»Ist Ihnen nicht gut?«
»Doch … doch …«
»Sie sehen so blaß aus, Herr Fanzelau. Noch einen Drink?«
»Ja, bitte. Was war das, was Sie da sagten? Zehn Milliarden benötigen Sie in allernächster Zeit?«
»Für die laufenden Projekte«, antwortete der Chemiker und gab einem der Mixer hinter der Theke einen Wink. Der nickte.
»Aber …«, begann Fanzelau.
»Ja?« fragte Martini höflich.
»Aber das ist doch Wahnsinn!«
»Unsere Projekte sind kein Wahnsinn.«
»Ihre Forderung nach zehn Milliarden mehr Menschen ist es!«
»Wieso?«
»Weil unsere Erde schon die lebenden dreieinhalb Milliarden nicht ernähren kann.«
»Mein Gott!« rief Martini lachend, »unsere Erde kann – und wird mit unserer Hilfe! – ein Zehnfaches der heute lebenden Menschen ernähren, dreißig bis fünfunddreißig Milliarden.«
Ein Kellner kam mit den neuen Drinks.
Fanzelau trank hastig. Er hatte Alkohol nötig.
»Ich sehe, Sie sind erschrocken«, meinte Martini. »Man hat mir im Werk erzählt, daß Sie bei Besprechungen mit Herren der Geschäftsleitung häufig voll Schaudern an eine Übervölkerung unserer Erde und die damit verbundenen Folgen gedacht hätten. Du lieber Gott im Himmel! Hier bin nun ich der Fachmann. Fünfunddreißig Milliarden – und in Glück und Frieden!«
Fanzelau trank wieder. Dann fragte er: »Was sind das für Projekte, von denen Sie eben sprachen?«
»Sie werden«, erwiderte der andere, »verstehen, daß ich mich darüber im einzelnen nicht auslassen darf – und Verständnis dafür haben. Es sind weltweite Projekte. Wissenschaftler, Universitäten, Forschungsstätten und Werke in der ganzen Welt arbeiten an ihnen. Und sie gelten alle – das darf ich sagen – der Vorbereitung unserer Welt auf die nächsten fünf- bis zehntausend Jahre.« Martini lächelte. »Ihr Gesicht verrät Unglauben. Sie interessieren sich für derlei Probleme. Wissen Sie was? Ich schicke Ihnen ein paar einschlägige Bücher nach Berlin, ja?«
Die Bücher kamen. Fanzelau las sie – Nächte hindurch. Er konnte nicht aufhören zu lesen, so sehr erregte ihn die Lektüre. Erste Fachleute, Nobelpreisträger, berühmte Forscher, bekannte Publizisten waren die Autoren.
In den ›Grundlagen des 21. Jahrhunderts‹ von Gustav Schenk las Fanzelau: ›Die Zunahme der Weltbevölkerung ist notwendig. Die Menschheit der Gegenwart mit der Bevölkerungszahl von dreieinhalb Milliarden kann nur unter bestimmten Voraussetzungen weiterleben: Sie muß im 21. Jahrhundert zehn bis fünfzehn Milliarden umfassen, und es kann keinen Gegensatz zwischen Groß-Ideologien geben, von welcher Art sie auch denkbar sind. Zehn Milliarden Menschen sind die Voraussetzung dafür, um die neunzig Prozent brachliegende, nicht vom Meere bedeckte Erdoberfläche zu besiedeln, aus sterilen Böden fruchtbares Ackerland zu gewinnen, um ehemaliges Weideland für den Ackerbau zu nutzen, um Stadtlandschaften zu erbauen, den Eiweißmangel zu überwinden, Wüsten, Polargebiete und Schilfmeere zu kultivieren und zu besiedeln …‹
Derselbe Gustav Schenk rechnete ganz fest mit dem raschen Dahinwelken, ja mit dem Verschwinden aller ideellen und wirtschaftlichen Grundlagen der gegenwärtigen Großmächte. Dieser Zustand werde dann sogleich eintreten, wenn ›die neuen Denkmodelle der Wissenschaft zu Denkgewohnheiten selbstverständlicher Art geworden sind. Die Menschenlandschaften des 21. Jahrhunderts werden dann abgesteckt, die Notstandsgebiete Lateinamerikas, Afrikas und Vorderasiens werden mit der Steuerung und Regelung der Welternährung, mit einem Weltplan zur Eiweißproduktion, saniert.‹
Schenk und andere Autoren, deren Bücher Otto Fanzelau nun verschlang, waren der Ansicht, daß es noch in diesem Jahrhundert dem formalistischen Kult aller Ideologien, auch dem experimentellen des dialektischen Materialismus, an den Kragen gehen werde.
Fanzelau war tief erregt.
Er lebte im 20., nicht im 21. Jahrhundert, also mitten in der Periode des Umschwungs. Er war ein Pessimist und davon überzeugt, daß dies eine Endzeit sei. Nun kam er dahinter, daß es in der ganzen Welt auch Optimisten und Zukunftsgläubige gab – und zwar keine Schwärmer, Spinner oder Sektierer, sondern Wissenschaftler jeder Art, dazu Philosophen und Theologen.
Er geriet an die Schriften des französischen Jesuitenpaters und Paläontologen Teilhard de Chardin. Dieser hatte auf faszinierende Weise versucht, die noch zögernde Kirche (aber sie zögerte bereits!) in das neue naturwissenschaftliche Weltbild von der Evolution, von der Entwicklung des Kosmos, der Lebewesen, des Menschen gleichsam hineinzulocken und dieses Weltbild, das lange genug vom Materialismus für sich in Anspruch genommen worden war, mit den Lehren der Kirche in Einklang zu bringen.
Der Zoologe Professor Adolf Portmann, kundiger und geistreicher Interpret des Jesuitenpaters, befürchtete allerdings, die nächsten Stationen der Menschheit würden vorerst einmal ›steigende Sozialisierung‹, ›Systeme totalitären Charakters‹ und eine sogenannte ›positive Auslese‹ sein. Drohte nicht gerade von einer evolutionistischen Biologie und ihren Vererbungsexperimenten abermals der nazistische Schrecken einer Menschenzüchtung?
Dagegen hatte sich Pater Teilhard schon früher in einer anderen Schrift verwahrt: ›Dem ist nicht so! In Wahrheit setzen wir ganz einfach auf einer höheren Ebene die ununterbrochene Arbeit der biologischen Evolution fort.‹
Die Evolution entbehrte als naturgesetzlicher (und von Gott in Gang gesetzter und in Gang gehaltener) Vorgang völlig jeglicher Sentimentalität. Seit dem Ursprung des Menschengeschlechts habe sich das Zentralnervensystem immer mehr vergrößert, verfeinert, vervollkommnet. Nunmehr, schrieb Pater Teilhard, sei die Zeit gekommen, in welcher der Mensch seine Erde umorganisieren, seinem Gott entgegenreifen könne.
›Das Phänomen Mensch, wie es sich uns heute darbietet, ist ein Ereignis von sehr begrenzter Dauer. Ein anderes Phänomen wird schnellstens an seine Stelle treten …‹
Und:
›Fast spürbar durch unsere Seelen hindurch‹, hieß es in Teilhard de Chardins Buch ›Die Zukunft des Menschen‹, ›knüpft sich eine höhere Wirklichkeit, die einer mystischen Vereinigung mit Gott entgegenstrebt.‹ Um keine nebulose Mystik handele es sich dabei, meinte der Pater. Den führenden Individuen der Evolution sei diese Mystik so etwas wie Schutz, Schirm und Wegweiser. Sie werde dafür sorgen, daß die Entwicklung schärfer als bisher beobachtet, die Lenkung gründlicher bedacht werde.
Soweit der Theologe.
Der finnische Biochemiker und Nobelpreisträger Artturi Virtanen beschäftigte sich in seinen wissenschaftlichen Arbeiten nur mit Fakten. Er behauptete, die Erde könne dreißig bis fünfunddreißig Milliarden Menschen ohne weiteres ernähren. Die Forscher hätten der Natur ihre bestgehüteten Geheimnisse abgetrotzt. Was man heute ›künstlich‹ oder ›synthetisch‹ nenne, sei vom Menschenhirn perfekt nachgeahmte Natur. Die ursprüngliche Natur habe es nicht nötig gehabt, eine Erde für fünfunddreißig Milliarden Menschen einzurichten. Das konnte sie getrost den Menschen selbst überlassen. Synthetischer Kautschuk ist besser als Naturgummi! Synthetische Stoffe sind härter als Stahl! Mit einem Schlag hatte die Wissenschaft unsere Welt verändert.
Ein gescheiter Publizist, Eugen Skasa-Weiß, verdolmetschte das, was dem Laien an den naturwissenschaftlichen Veröffentlichungen gar nicht oder kaum verständlich bleiben mußte, mit gescheiten Worten:
›Der Übergang ist hin und wieder ungemütlich – nun, welcher Umzug wäre das nicht? In der neuen Wohnung ist für alle Menschen Platz. Zunächst für zehn Milliarden. Diese zehn Milliarden, sagt … Virtanen, können wir nach dem jetzigen Stand der Technik ernähren, wenn die modernsten Erkenntnisse, Methoden und Geräte angewandt werden. Und zwar überall.
Ein Farbdia aus dem landwirtschaftlichen Utopia, das in allen Weltteilen Wirklichkeit werden wird, zeigt uns blaue, rote und orangefarbene Landschaften zwischen den Netzen der Transportstraßen. Diese ›Kostümlandschaften‹, die den Geschmack der Wachteln und Naturschwärmer beleidigen würden, sind Äcker, mit Plastikteppichen aus Polyäthylen bespannt, quadratmeilenweit. Unter ihnen drängen Freilandkulturen einem Wachstum entgegen, über dessen Üppigkeit die alte Natur den Kopf schüttelt.
Die Pflanzenphysiologen haben wachsturnsteigernde Stoffe entdeckt, deren Umsatz bis 1970 eine Milliarde Dollar erreichen soll. Sie versprechen Kohlpflanzen von fast fünf Meter Höhe, kinderkopfgroße Weintrauben und – bei einer einzigen Prise je Acker – ein galoppierendes Wachsen und Reifen …‹
Otto Fanzelau las all dies und vieles mehr, und er wurde immer hoffnungsvoller dabei. Nun suchte er seinen plötzlich so interessant gewordenen Bekannten Olaf Martini zu treffen, wann immer das möglich war. Sie verabredeten sich bald in dieser, bald in jener Stadt, und Martini erzählte dem kleinen Herrn, wie weit Chemiker und Physiker, Forscher und Techniker bereits heute waren …
»Du lieber Gott! Wir bauen Staudämme, Thermalkraftwerke. Wir planen die Bewässerung von Steppen. Wir stellen Sonnenöfen und Windkraftwerke auf. Wir speichern Sonnenenergie und bestrahlen Saatgut mit Ultraschall …«
Was alles bereits geschah oder in Bälde geschehen sollte, machte Fanzelau, nun, da er es von Martini hörte, schwindlig vor Erregung!
Nur hundert von etwa dreihunderttausend eßbaren Pflanzen kamen, entsprechend zubereitet, in menschliche Mägen. Ein Himalaja unverspeister Blätter voller Eiweiß ging der Menschheit Jahr für Jahr verloren – noch!
Nicht mehr lange.
»Niemals werden wir verhungern!« sagte Martini bei einer seiner Unterhaltungen mit Fanzelau. »In Jahrmillionen hat die Natur Kohle und Erdöl aus den Substanzen hergestellt, die von den Urweltpflanzen im Vorgang der Photosynthese aus Kohlensäure der Luft und Wasser mit Hilfe der Lichtenergie aufgebaut worden sind. Wir kennen heute das Geheimnis der Photosynthese …« (Hatte das nicht auch Dr. Landon gesagt?) »… und brauchen darum keine Jahrmillionen mehr. Über Nacht können wir, weiß Gott, vollwertige Nahrungsmittel in beliebiger Menge produzieren – ebenfalls mit Hilfe des Photosynthese-Tricks …«
Martini sprach stets sachlich und ruhig.
Die mikroskopisch kleine Süßwasseralge Chorella, erzählte er, vermehrt sich bis zu achtmal täglich. Das, was sie an Eiweiß, Fetten, Kohlehydraten produziert, schmeckt nicht besser als unseren Vorfahren wohl die ersten Kartoffeln. Wie schmecken Kartoffeln uns heute?
In Japan pumpt man Algen aus dem Meer. Die Kombu-Gelatine, ein Produkt aus gepreßten Großalgen, bildete schon 1960 ein Grundnahrungsmittel Japans.
Aus Brot wiederum konnte man Kohle produzieren! (Nichts sonderlich Neues: Man denke an die im Toaster verkohlte Weißbrotschnitte.) Aus Futtermitteln Dieselöl – und, umgekehrt, aus Erdöl Speck! Bei derartigen Begegnungen war Fanzelau stets der schweigende Zuhörer. Martini erzählte, gleichmütig, seiner Sache sicher.
Das Wetter, sagte er, lasse sich nach Maß machen. Man beschieße Wolken, die man vorher mit Radar ermittelt hat, genau über dem Gebiet, das gerade Wasser braucht, von Flugzeugen aus mit Trockeneis, und es beginne zu regnen.
Durch Behandlung mit Hormonen würden Kühe zu Dauer-Milchlieferanten. Man könne sie also vom Zwang des Kalbens befreien. Sie ernährten sich willig mit Briketts aus Zellulose und Harnstoff. Die alten Wiesen kannten sie gar nicht mehr richtig …
»Die Chemurgie der Agronomen«, berichtete Martini ein andermal, »um Eugen Skasa-Weiß zu zitieren, stampft einen neuen Garten Eden aus der Erde, aus dem wir nicht hinausgeschmissen werden können. Wir beseitigen Seuchen und Krankheiten und schaffen Gesundheitsgürtel durch Aufforstung. Lesen Sie das getrost noch einmal bei Skasa-Weiß nach: Das ›gläserne Zeitalter‹, der Siegeszug des Schaum-Aluminiums, das flüssige Helium, das manche Naturgesetze einfach aufhebt, steht weit eher vor der Tür als die gefürchtete Übervölkerung. Es wird niemand mehr frieren. Von zwanzig Milliarden Tonnen Faserstoffen, die wir bis heute im Jahr benötigen, werden schon jetzt zwei Milliarden Tonnen künstlich erzeugt. Die Düngemittelproduktion wird verdreifacht, die Transportwege werden ausgebaut, die Transportmittel unaufhaltsam verbessert.«
Atemlos sagte Fanzelau bei diesem Gespräch: »Und was Skasa-Weiß noch schreibt: Der Mond wird ein gigantisches Kraftwerk für die ganze Erde werden, mit einer Leistungsfähigkeit von vielen Trillionen Kilowatt. Eine ideale Entwicklungsstation für thermonukleare und atomare Projekte …«
»So ist es«, antwortete Martini frohgemut. »Wir haben die Elektronik, die Atomenergie, den Überschall, die Biophysik. Sie alle werden Reichtümer zutage fördern, von denen noch niemand etwas ahnt. Aber, natürlich, sie werden dabei die Welt verändern. Kehren wir noch einmal zu dem bisher völlig vernachlässigten Meer zurück. Wenn etwas unerschöpflich ist, dann sind es die Ozeane. Wir legen Nylonnetze aus, wir lassen motorisierte Kutter fahren, Kühltransportschiffe, Fischfabrikschiffe. Wenn wir wollten, könnten wir heute schon die ganze Welt mit Fischen überschütten … nein, nein, Herr Fanzelau, wir stehen nicht am Ende, sondern am Anfang, ganz am Anfang.«
Wieder einmal allein, las der Bankier ein Buch des Bevölkerungsmathematikers Wilhelm Fucks. Nach dessen Berechnungen war das Anwachsen der Weltbevölkerung bis zum Jahre 2100 abgeschlossen. Denn, so meinte Fucks, eine übersteigerte Bevölkerungsvermehrung konnte stets nur dann stattfinden, wenn die Menschen in eine neue Phase technisch-ökonomischer Entwicklung hinüberwechselten. (Immerhin hatten von Anbeginn an bis jetzt rund sechzig Milliarden auf diesem Planeten gelebt.) War die neue Entwicklung beendet – und das mußte nach Fucks’ Meinung spätestens im Jahre 2100 der Fall sein –, dann würden sich Geburten- und Todesfälle wieder für sehr lange Zeit die Waage halten. Etwa in einer Höhe von acht Milliarden.
Acht Milliarden!
Und fünfunddreißig Milliarden hatten also Platz!
Otto Fanzelau befand sich in der zweiten Hälfte des Jahres 1961 in einem Zustand allergrößter Bewegtheit – glücklicher Bewegtheit. Auch er war, auf seinem Gebiet, selbst so etwas wie ein Wissenschaftler. Denn er glaubte nur an Zahlen und Tatsachen.
Im Oktober 1961 traf er mit Martini in dessen Haus bei Frankfurt zusammen. Der Chemiker hatte um den Besuch gebeten.
»Sie haben nun einen Überblick gewonnen, Fanzelau«, sagte er, dabei sein gepflegtes Haar streichend – eine Lieblingsbeschäftigung von ihm. »Sie wissen, was morgen, übermorgen schon Wirklichkeit sein wird.«
Fanzelau nickte.
»Unter einer Voraussetzung«, fuhr Martini fort.
»Welcher?«
»Ich sagte Ihnen, in allen Ländern der Erde arbeiten Wissenschaftler am größten Projekt der Welt: Der Erhaltung der Welt. Wir führen hier, Herr Fanzelau, ein vertrauliches Gespräch. Bitte, geben Sie mir Ihr Ehrenwort, daß Sie keinem Dritten davon erzählen.«
»Ehrenwort«, rief der kleine Bankier atemlos.
»Gut«, sagte Martini. »Ich danke Ihnen. Sehen Sie: Meine Kollegen und ich, wir sind im letzten Drittel unserer Arbeit. Nichts darf uns jetzt mehr stören.«
»Wer sollte Sie stören?«
»Du lieber Gott! Ein sinnlos vom Zaun gebrochener Atomkrieg zum Beispiel! Wir Wissenschaftler haben die Bombe konstruiert. Die Politiker haben sie uns weggenommen und könnten unsagbares Unheil damit anrichten. Das darf nicht geschehen!« Martinis helle, idealistisch strahlende Augen blitzten, er sprach zum erstenmal voll Leidenschaft. »Wir haben genug! Wir mißtrauen den Politikern, wir verachten – nein, wir hassen sie! Sie dürfen uns nicht mehr in die Quere kommen. Wir benötigen noch zwanzig, dreißig Jahre ungestörter internationaler Zusammenarbeit – dann wird man all diese Popanze mit all ihren Ideologien zum Teufel jagen. Bis dahin jedoch sind sie gefährlich. Die politische Situation … ich brauche nicht weiterzusprechen.«
»Nein.«
»Die Herren haben sich durch ihre Borniertheit, ihren Größenwahn, ihre Eitelkeit, ihren Fanatismus in schlimme Lagen begeben – überall auf der Welt. Wir, die Wissenschaftler auf der ganzen Welt, müssen dafür sorgen, daß keiner dieser Burschen die Lunte zum Pulverfaß eines atomaren Krieges zündet. Der Mond wird übrigens später der ideale Mülleimer für alle Atombomben werden. Aber er ist es noch nicht. Die Bomben sind noch auf der Erde – überall, und sie dürfen nicht explodieren, hören Sie?«
Fanzelau nickte.
»Wo die Politiker nur können, schaffen sie Krisenherde. Weil sie nicht weiterwissen, weil sie glauben, daß nur ein neuer Krieg sie noch retten kann. Der Ferne Osten ist so ein Krisenherd, Afrika ist es, Indien ist es, Vietnam ist es, und so weiter und so weiter – und, natürlich, Berlin! Besonders nun, nach der Mauer. Für diese Herren, die nicht bis drei zählen können, ist Ihre Stadt ein Faustpfand im Kalten Krieg. Unter allen Umständen müssen wir erreichen, daß dieser Krieg nicht heiß wird, bevor unsere Arbeit beendet ist. Denn bis dahin ….« Martini senkte den Kopf, schwieg kurz, sah Fanzelau wieder an: »Bis dahin darf nichts geschehen.«
»Ich verstehe.«
»An allen Krisenherden dieser Welt haben wir …«
»Wer ist wir?«
»Die Elite der Wissenschaftler auf der ganzen Welt. An allen diesen Krisenherden haben wir das Menschenmögliche getan, um die Politiker am Losschlagen zu hindern. Jeder Tag des Friedens ist ein gewonnener Tag für uns. Und damit komme ich zur Sache. Die Mauer in Berlin hat die Gefahr natürlich größer werden lassen. Wichtig ist: Das sogenannte ›Gleichgewicht des Schreckens‹ – eine Formulierung jener feinen Herren – bleibt noch eine Weile gewahrt. Um das zu erreichen, muß man dem Osten zu verstehen geben, daß er im Falle eines Angriffs auf Berlin mit Krieg zu rechnen hat.«
»Sie sagten doch eben …«
»Zu verstehen geben, sagte ich. Zum Glück sind die politischen Machthaber nicht nur brutal und skrupellos, sondern auch feige. Wenn man ihnen nun in Berlin – diesem deutschen Krisenherd – zeigt, daß die Mauer zwar steht, aber nicht ganz ihren Sinn erfüllt, dann macht man sie unsicher. Die Sowjets werden keinen Krieg beginnen, sie haben es noch nie getan. Die DDR darf nur tun, was Moskau gestattet. Anderswo ist das ähnlich. Wir wenden stets die gleiche Methode an. Von den Riesensummen für unsere Forschungen zweigen wir – Wissenschaftler der ganzen Welt – seit Jahren bestimmte Beträge ab, um diese universelle Angst der Politiker voreinander weiter zu schüren. Auf den Fall Berlin bezogen: Wenn hier, trotz Mauer, Menschen in den Westen kämen, würde sich das im Osten herumsprechen. Unruhe und neue Hoffnung müßte entstehen. Das würde schon genügen. So könnten wir wieder Zeit gewinnen. Und gleichzeitig Menschen retten, die drüben sonst verloren sind. Kurz: Was wir suchen, ist ein Mann, der den Krisenherd Berlin unter Kontrolle hält …«
Fanzelaus Herz begann unruhiger zu pochen.
»… ein Mann, der den Osten so unsicher macht, wie das viele andere von uns ausgesuchte Männer an anderen Stellen der Erde tun. Ein Mann, zum Beispiel, der es fertigbringt, gefährdete Menschen aus der DDR herüberzuholen – trotz der Mauer! Die psychologische Wirkung wäre groß genug, die Aggressionslust der Zonenmachthaber zu dämpfen.«
»Wie aber«, fragte Fanzelau, »sollen diese Menschen nun noch in den Westen kommen?«
Martini begann von Tunnelbauten unter der Mauer zu sprechen.
»Geld steht zur Verfügung. Wir haben genug für derlei Zwecke, das sagte ich schon. Auch junge Leute, die bereit wären, alle Arbeiten auszuführen, gibt es in Hülle und Fülle. Was wir in Berlin benötigen, ist ein unpolitischer Mann, Herr Fanzelau, einer, der von Berufs wegen mit Geld zu tun hat, so daß seine Banktransaktionen niemandem auffallen. Einen Mann mit untadeligem Ruf suchen wir. Einen, der in keiner Partei ist. Einen Mann wie …«
»Wie mich«, sagte Fanzelau erstickt.
Der andere nickte.
Gleich darauf verspürte der kleine Herr ein unendlich erlösendes Gefühl. Er kam sich plötzlich vor wie neugeboren. Wie ein anderer Mensch. Ein gesunder Mensch!
»Sie erhalten das Geld«, sagte Martini. »Und dazu Listen von Menschen, die in den Westen gebracht werden müssen. Selbstverständlich darf all das, was ich Ihnen erzählte und was wir planen, niemals und unter keinen Umständen publik werden. Deshalb mußten Sie mir Ihr Ehrenwort geben, zu schweigen.«
»Ich werde es halten …«
»Schweigen zu jedermann, zu Ihrem besten Freund …«
»Ich habe keine Freunde.«
Martini hob die Brauen.
»Oder ja, doch … doch, Sie habe ich jetzt!« rief Fanzelau.
Der Chemiker lächelte.
»Richtig. Deshalb wollen wir ruhig auch alle Welt wissen lassen, daß wir Freunde sind. So kann niemand Argwohn schöpfen, wenn man uns häufig zusammen sieht. Alte Freunde, würde ich vorschlagen. Ganz alte, gute Freunde, die einander seit einer Ewigkeit kennen.«
»Wunderbar …«
»Am besten, wir sagen du und Otto und Olaf zueinander.« Wieder einmal strich Herr Martini durch sein prächtiges Haar. Wieder einmal sagte er: ›Mein Gott‹: »Mein Gott, wir begehen damit ja kein Verbrechen, nicht wahr? Im Gegenteil: Wir versuchen, ein Verbrechen zu verhindern. Das größte: Den Mordanschlag irrsinniger Militärs oder wahnwitziger Politiker auf die gesamte Menschheit.«
»So ist es, so ist es!« Fanzelau rang nach Atem, er war ungeheuer erregt. »Sie … ich meine: Du kannst dich auf mich verlassen, Olaf!«
»Das muß ich unbedingt, Otto. Zu keinem Menschen ein Wort – ich kann das nicht oft genug sagen. Zu keinem! Auch nicht zu diesem Arzt, bei dem du einmal in Behandlung warst!«
»Doktor Landon …« Fanzelau biß sich auf die Lippe.
»Nein, auch zu dem nicht! Darauf muß ich bestehen! Sonst …«
»Auch zu ihm kein Wort!« rief Fanzelau schnell, dabei die gefalteten Hände hebend. »Auch zu ihm kein Wort! Du weißt ja nicht, was diese Aufgabe für mich bedeutet, Olaf, du weißt ja nicht, wie glücklich ich bin!« Und er schüttelte Olaf Martini ergriffen die Hand.
Das also ist der Sinn seines Erdendaseins! Dr. Landon hat ihm gesagt, es werde lange dauern, bis er dahinterkäme. Nun ist er dahintergekommen! Ein seliger, befreiter Otto Fanzelau kehrt nach Berlin zurück. Ein befreiter, seliger Otto Fanzelau sucht Philipp Landon auf.
»Ich glaube, ich habe ihn gefunden, den Sinn meines Lebens«, sagt er. Allein, er gibt keine weiteren Auskünfte, sosehr der Arzt auch auf ihn eindringt.
»Es tut mir unendlich leid, lieber, lieber Doktor, aber ich kann Ihnen einfach nichts sagen!«
Und dabei bleibt es …
Natürlich ist Landon viel zu klug, sich seine Verblüffung, seine Enttäuschung, seine Verärgerung, ja, auch seine Verärgerung anmerken zu lassen.
Allein: So beschwingt Fanzelau den Psychiater verläßt, so beklommen bleibt dieser zurück.
Er hat seinen Patienten schätzen gelernt, er hat ihn gern. Er ist Arzt, er hat einen Eid geleistet, den Hippokratischen Eid: Menschen zu helfen. Ganz offensichtlich hat er Fanzelau geholfen, obwohl dieser von sich aus den Wunsch äußerte, Landon regelmäßig weiter zu besuchen.
Und trotzdem. Und trotzdem …
Beim Frühstück am nächsten Tag sieht Philipp Landons Mutter den Sohn beunruhigt an. Sie stellt kaum jemals Fragen. Heute fragt sie: »Was hast du, mein Junge?«
»Ach, nichts«, antwortet der Arzt. »Mir ist nur etwas Eigentümliches passiert. Etwas sehr Eigentümliches. Etwas, das selten, ganz selten vorkommt …«