Sonnabend, 15. August 1964, 21 Uhr 55, Berlin-West.
Ein Funkstreifenwagen rollt, vom Kurfürstendamm her, langsam die Koenigsallee herauf. Still und warm ist die Nacht. Die beiden Männer im Wagen tragen Polizeiuniformen. Mütze, Lederjacke. Dazu auch noch dünne Lederhandschuhe. Solcherart hinterläßt man keine Fingerabdrücke. Immer wieder blickt einer von ihnen auf die Uhr am Armaturenbrett. Sie scheinen einen ganz bestimmten Zeitpunkt zu erwarten.
Der Lautsprecher ist eingeschaltet. Ein Beamter in der Zentrale ruft ab und zu andere Funkstreifenwagen. Versuchte Zechprellerei. Leichter Verkehrsunfall. Einbruch auf einem Holzlagerplatz. Nicht viel los.
Der Funkstreifenwagen, der die Koenigsallee hinauffährt, wird nie von der Zentrale gerufen. Die Zentrale weiß nämlich, daß es sich bei ihm um einen ›wilden‹, einen perfekt nachgebauten Funkstreifenwagen handelt, um den sie sich nicht kümmern darf. Die Zentrale hat Weisung, dieses geheimnisvolle Gefährt niemals anzurufen. Die gleiche Weisung haben die Besatzungen aller regulären Streifenwagen.
Die beiden Herren, die in dem nachgebauten Polizeiauto sitzen, tragen perfekt nachgemachte Uniformen. Dazu die passenden Pistolen. Geladen.
Ursprünglich, noch im Osten, als Kommissar Bräsig dem Bruno Knolle mitteilte, daß er, ebenso wie seine Freunde, Uniformen der Westberliner Polizei und Pistolen erhalten würde, da war es Brunos fester Vorsatz gewesen, wenigstens die Munition sofort wegzuschmeißen. Inzwischen hat sich die Situation grundlegend geändert. Die Munition kann bleiben, wo sie ist. Sogar besser, sie bleibt dort. Man weiß nie …
»Mensch«, sagt Knarje, am Steuer, zu Bruno, der neben ihm sitzt, »wat ick froh bin, det der Fanzelau hier draußen wohnt und nich unten bei de Jedächtniskirche, wo uns jeda kennt! Stell dir bloß vor, eena sieht uns. In die Kluft! Der muß doch glooben, er hatse nich mehr alle drinne.«
»Ja«, meint Bruno, »da haste recht. Der hätte ’n Ding weg for’t janze Leben. Jenau 22 Uhr. Fahr ran und halte. Aba leise.«
Der Funkstreifenwagen rollt vor Otto Fanzelaus Villa aus.
Knarje und Bruno klettern ins Freie.
Die Herren bewegen sich zuversichtlich, zielstrebig. Sie wissen, daß amerikanische und Westberliner Polizisten und Kriminalbeamte in der ganzen Umgebung postiert sind, ihnen folgen, wohin sie auch fahren, um notfalls sofort helfen zu können.
Eine Menge Autos parken in Seitenstraßen – unter ihnen Spezialfunkwagen der Polizei mit Beamten in Zivil. Die Besatzungen können sich miteinander und mit der Zentrale verständigen. Jedes Wort wird dabei durch eingebaute Zerhacker bis zur Unkenntlichkeit verzerrt und erst durch ebenfalls eingebaute Entzerrer wieder verständlich. Im Gegensatz zum sonst üblichen Polizeifunk kann kein Dritter abhören, was die Besatzungen dieser Spezialwagen zu melden haben oder welche Weisungen sie bekommen. Die Besatzungen wissen genau, was sie zu tun haben, worum es geht. Kriminalrat Prangel hat ihnen alles erklärt.
Die Herren Knolle und Knargenstein wissen auch, was sie zu tun haben. Ihnen hat Ernst Kornmann am frühen Abend alles erklärt …
Den frühen Abend verbrachten die Herren Knolle und Knargenstein nach Besichtigung der Villa Fanzelau im Büro einer Autoreparaturwerkstatt in der Wustermarker Straße, Bezirk Spandau. Das Büro war vollgeräumt mit Reifen, Werkzeug und Ersatzteilen, die Werkstatt geschlossen. In der Halle standen der DELIKATESSEN-WERNER-Laster, der nachgebaute Funkstreifenwagen und ein VW.
Das Unternehmen gehört dem Fahrer des Lasters, mit dem Kornmann den Bruno und den Knarje beim U-Bahnhof Oskar-Helene-Heim abgeholt hat. Fritz Rettich heißt dieser Mann. Seine Werkstatt ist schon seit zwei Wochen geschlossen – Urlaubszeit. In den zwei Wochen hat Herr Rettich, verdienter SED-Genosse und alter SSD-Agent, mit Hilfe von zwei anderen verdienten Genossen, die in Moabit wohnen und Mechaniker sind, den Funkstreifenwagen nachgebaut und den Sender in dem Delikatessen-Laster installiert. Seine Freunde, die in ihren Betrieben ebenso Sommerferien haben wie Rettichs Angestellte, sind vor zwei Tagen nach Italien gefahren, um endlich wirklich Urlaub zu machen. Sie werden nach ihrer Rückkehr in Westberlin bleiben, es ist unmöglich, ihnen eine Zusammenarbeit mit Rettich nachzuweisen, dafür hat dieser nach guten, alten Branchenregeln gesorgt.
Er selbst muß – nach einem Jahr Agententätigkeit im Westen – ohnedies in den Osten zurück. Es ist besprochen, daß er mit Kornmann gehen wird. In Ostberlin hat er eine zweite Reparaturwerkstatt. Beide sind vom SSD gekauft worden – die eine direkt, die andere über Westberliner Mittelsmänner. Rettich kann auch in Ostberlin arbeiten. Autoreparaturwerkstätten benötigt jeder Geheimdienst.
Seine nächste Mission wird Rettich wohl nach Österreich führen. Da ist ein ostzonaler Spionagering knapp vor dem Auffliegen. Rettich soll versuchen, die wichtigsten Leute rechtzeitig in Sicherheit zu bringen. Der Fünfzigjährige hat schon an vielen solcher Aktionen maßgeblich mitgewirkt. Er ist ein begeisterter Mechaniker und ein erstklassiger Spezialist auf allen Gebieten der Fernmeldetechnik. In seiner Agentenposition findet er genügend Gelegenheit, beiden Leidenschaften zu frönen. Auch so kann man Agent werden.
An Brunos und Knarjes Belehrung durch Ernst Kornmann nimmt Rettich nicht teil. Er packt inzwischen einen Koffer voll persönlicher Habe, die er in den Osten mitzunehmen gedenkt, und verbrennt Papiere, die vernichtet werden müssen.
Kornmann gibt Bruno und Knarje zunächst ihre Uniformen.
»Mensch, wie det paßt!« staunt Knarje.
»Wir lassen nach Maß arbeiten, Herr Knargenstein.«
»Nach Maß?«
»Genaue Kenntnis Ihrer Figur hat sich einer unserer Schneider an Hand eines Ihrer Anzüge verschafft …«
»Junge, Junge! Und ick sage Wandan seit zwee Wochen, det eena bei uns injebrochen hat. Det warn also Sie?«
»Unsere Leute.« Kornmann nickt flüchtig. »Sie saßen damals im ›Schimmel‹, wie immer, und Ihr Fräulein Braut hat sich in der ›Pension Florida‹ aufgehalten. Die Maße von Herrn Knolle bekamen wir, als er bei uns in der Warschauer Straße war.«
Kornmann befindet sich in einer seltsamen Verfassung: Einerseits ist er erleichtert darüber, wie glatt immer noch alles geht – und darum von einiger Überheblichkeit. Andererseits sagt er sich dauernd, daß die Aktion nicht beendet ist und das Schlimmste noch passieren kann. Dieses unbehagliche Gefühl versucht er gleichfalls durch Überheblichkeit zu überspielen. Es gelingt nicht ganz. Der elegante Kornmann hat schon drei Beruhigungspillen geschluckt. Sie helfen ein wenig … nicht sehr. Mehr als vier darf er nicht nehmen, das weiß er. Sonst wird er schläfrig.
Nach den Uniformen bekommen Bruno und Knolle perfekt gefälschte Ausweise. Das Westberliner Polizeipräsidium identifiziert sie als den Polizeiwachtmeister Albrecht Laake (Knarje) und den Polizeihauptwachtmeister Dieter Hahne (Bruno).
»Brunon hamse drüm fotografiert«, sagt Knarje. »Aber wo is ’n det Bild von mir her?«
»Wir haben viele Bilder von Ihnen, Herr Knargenstein. Denken Sie an das ›Maiglöckchen-Ballett‹!« (Ich möchte gern die vierte Pille schlucken. Nein. Noch halte ich es aus. Warten. Ich werde sie später nötiger brauchen.) »Wo immer möglich, sprechen nur Sie mit Fanzelau, Herr Knolle. Des Akzentes wegen.« Knarje fährt auf. »Das geht nicht gegen Sie. Als Angehöriger der werktätigen Klasse …«
»Schon jut«, sagt Knarje.
»Schließlich soll die Sache ja klappen, nicht wahr?« meint Kornmann.
»Ebent«, sagt Bruno.
»Bitte?«
»Schließlich soll die Sache ja klappen«, wiederholt Bruno und denkt: Daß wir inzwischen für den Westen arbeiten, weißt du nicht, du Rotzneese. Hoffentlich nicht. Jedenfalls wollt ihr diesen Fanzelau haben. Dazu müßt ihr einen idiotensicheren Plan ausgearbeitet haben. Mal sehen …
»Wat passiert aba nu, wenn der Fanzelau uns übahaupt nich in’t Haus läßt – trotz Uniform und so? Sondan wenn er sacht, Moment mal, meine Herrn, und erst bei de Funkstreifenzentrale oder in’t Präsidium oder sonstwo nachfracht, ob die uns wirklich schickn, und warum? Ick meine: Det macht doch jeda, der nich uff’n Kopp jefalln is!«
In Kornmann wachsen gleichermaßen Zuversicht und Unruhe – und damit seine Arroganz: »Natürlich würde jeder so handeln, Herr Knolle. Ich bitte nun um größte Aufmerksamkeit. Es geht bei der Sache um Minuten. Punkt 22 Uhr klingeln Sie am Parktor. Fünf Minuten vorher rufe ich Fanzelau an. Als ranghöchster Diensttuender der Funkstreifenzentrale.«
»Und erzählen ihm, det er entführt wern soll?« erkundigt sich Bruno im Tonfall der sogenannten klassischen Ironie.
»Ja«, antwortet Kornmann darauf hochmütig. »Genau das erzähle ich ihm.«